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Vor zwei Wochen habe ich noch geglaubt, wir hätten ein ziemlich großes Plastikproblem. Ich hatte keine Ahnung.

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#60 #UN-Plastikabkommen #fossileIndustrie #Reportage

Der Anfang vom Ende der Plastikkrise

In Kenia verhandeln die UN-Staaten gerade ein globales Plastikabkommen. Das Potenzial für Umwelt und Gesundheit ist riesig. Ein persönlicher Bericht aus Nairobi. Lesezeit: 10 Minuten

Ich habe bisher immer versucht, meinen kleinen Teil zur Lösung des Plastikproblems beizutragen. Die Standards eben: Müll trennen, Jutebeutel zum Einkaufen mitnehmen, eigenes Besteck auf Reisen, sowas. Aber ich muss zugeben, ich habe Plastik in meinem Kopf eher als optionale Krise behandelt. So, wie viele Medien es beim Klima machen – die siebte Krise von sieben eben.

Natürlich hatte auch ich Bilder im Kopf von Müllteppichen in den Ozeanen, von an Cola-Deckeln verendeten Seevögeln und von Menschen, deren täglich Brot darin besteht, Plastikberge zu durchwühlen, auf der Suche nach einem letzten Fünkchen Restwert im Müll anderer Leute. Aber ich wusste nicht, wie eng Kunststoffe und das Klima miteinander verzahnt sind und wie verheerend die Plastikkrise wirklich ist.

Vor zwei Wochen hat sich all das schlagartig geändert, als taz-Chefredakteurin Barbara Junge mich anrief: 

„Möchtest du zum UN-Plastikgipfel nach Nairobi reisen?“ 

Alles, was danach passierte, war so etwas wie mein Plastikerwachen. Den Text, den du gerade liest, schreibe ich aus dem Hauptsitz des UNEP, dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen in Nairobi – während um mich herum die Weltgemeinschaft das erste globale Abkommen verhandelt. Um die Plastikkrise ein für allemal zu beenden. 

Hoffentlich.

Zwei LKW-Ladungen Plastikmüll pro Minute

Einer der ersten, den ich auf der Konferenz treffe, ist Richard Thompson. Er ist so etwas wie der „Godfather of Mikroplastik-Forschung“. Wir füllen unsere mitgebrachten Flaschen am Wasserkanister auf und setzen uns auf eine Couch in der Nähe der Cafeteria. 

Meeresbiologe Richard Thompson schrieb das erste Paper überhaupt zu Mikroplastik.

„Jedes Jahr werden rund 400 Millionen Tonnen Plastik produziert. Davon 40 Prozent zur einmaligen Verwendung,“ sagt der Meeresbiologe. Um uns herum klimpert Besteck auf Tellern, die Delegierten haben Mittagspause.

Richard Thompson und sein Team haben das weltweit erste Paper über Mikroplastik veröffentlicht und damit den Begriff überhaupt erst etabliert. Das war vor zwanzig Jahren. „Wir behandeln Plastik, als könnten wir es einfach wegwerfen, nur weil es so unglaublich günstig ist. Und schaffen dabei extrem hartnäckigen, langlebigen Müll“, sagt Thompson und spricht mit einer Intensität, als würde er diese Worte das erste Mal sagen.

Es wird insgesamt viel mehr Plastik produziert, verbraucht und weggeschmissen, als Kapazitäten zur Entsorgung und Recycling vorhanden sind. Sarah Perreard, Co-Leiterin der NGO Earth Action aus der Schweiz, erzählt mir von ihrem Konzept des Plastic Overshoot Day (Öffnet in neuem Fenster). Das ist der Tag, ab dem weltweit mehr Plastik produziert wird, als entsorgt werden kann. 2023 war es der 23. Juli. Alles Plastik, was in den fünf Monaten danach produziert wird, landet aktuell in der Natur oder auf Mülldeponien. 

Besonders katastrophal wirkt sich der Plastikmüll auf Meere und Flüsse aus. Laut einer Studie des WWF landen jedes Jahr allein 20 Millionen Tonnen Plastikmüll in Gewässern. Plastik ist leicht, das Volumen ist also gigantisch. Es entspricht zwei LKW-Ladungen pro Minute, rechnet der WWF vor. Seitdem du diese Mail geöffnet hast, sind also rund sechs LKW Ladungen Plastikmüll in Gewässern gelandet – stell dir nur mal kurz vor, wie das im Bodensee, dem Rhein oder vor Usedom aussähe. 

Eine Gefahr unterm Radar

In Plastik stecken rund 13.000 Chemikalien (Öffnet in neuem Fenster). Ein Viertel davon sind bedenklich bis gefährlich. Endokrine Disruptoren ist das Stichwort, das ich hier gefühlt in jedem zweiten Gespräch höre. Das sind Stoffe, die unsere Hormone durcheinander bringen und schon in kleinen Mengen extremen Schaden an unserer Gesundheit anrichten können.

Nicht alle endokrinen Disruptoren haben ihren Ursprung in Plastik, aber viele – vielleicht hast du schonmal von Weichmachern gehört, sogenannten Phthalaten (klingt schon ungesund). Oder von Bisphenol A, das als Zusatzstoff für Plastikflaschen, Konservendosen oder Kinderspielzeug genutzt wird. 

Maimouna Diene, vom senegalesischen Pesticide Action Network: „Ich bin hier, um gegen die Plastikkrise zu kämpfen. Nicht nur für die Umwelt, sondern auch für unsere Gesundheit.“

Ein Gesundheitsrisiko solcher endokrinen Disruptoren: Krebs. Ein anderes – was bisher noch völlig unter dem Radar läuft – Unfruchtbarkeit. Die Anzahl der Spermien bei männlichen Personen im Globalen Norden ist in den letzten 50 Jahren mindestens um 60 Prozent zurückgegangen (Öffnet in neuem Fenster) (hier noch ein aktueller CNN-Artikel (Öffnet in neuem Fenster) dazu, hier eine Studie (Öffnet in neuem Fenster)).

Die Prognose von Umweltmedizinerin Shanna Swan (Öffnet in neuem Fenster), wenn es so weiter geht: 2045 werden die meisten Männer in Industrieländern wohl keine Spermien mehr haben.

Viele Zeugungsorte werden dann wohl romantische Namen tragen wie „Behandlungsraum C-274“. Das liegt nicht zu 100 Prozent an Plastik-Zusätzen, aber zu einem großen Teil. Weitere Nebenwirkungen von endokrinen Disruptoren (vor allem für weibliche Personen): Fehlgeburten, zu früher Eintritt in die Pubertät, reduzierte Libido. 

Ein Abkommen für die Geschichte

Höchste Zeit also für ein globales Plastikabkommen. Wenn es dazu kommt, wäre das eine ziemliche Sensation. Im besten Fall (nach dem es momentan nicht aussieht) wäre das Ergebnis so etwas wie das Montreal-Protokoll von 1987, mit der es der Weltgemeinschaft gelang, die Ozonschicht zu retten. 

Viele NGO-Vertreter*innen hier sind begeistert vom Potenzial, das dieses Plastikabkommen hat. „Gut, dass Du hier bist. Das Ding wird richtig groß“, sagt mir ein Beobachter vom WWF nach einem Hintergrundgespräch im Sonnenschein vor der Cafeteria. „Es könnte der größte Durchbruch seit dem Pariser Klimaabkommen werden“, sagt eine andere. 

1 Raum – 193 Nationen (ungefähr): Das Plenum am Donnerstag.

Als ich mich das erste Mal für das Plenum (eine zusammenfassende Sitzung mit allen Mitgliedsstaaten) in den gefüllten UN-Konferenzsaal setze, überkommt mich dann auch ein kurzes Gefühl von Ehrfurcht. In diesem Raum sitzen Vertreter*innen aus so gut wie allen Ländern dieser Welt – um miteinander zu reden. Was für eine Errungenschaft nach Kolonialismus und zwei Weltkriegen.

Ich bin gerade auf der dritten von fünf Konferenzen (INC-3 genannt), auf denen das Plastikabkommen verhandelt wird. Und es ist die erste, bei der es wirklich inhaltlich wird. Aber worüber verhandeln die Delegierten überhaupt in Nairobi?

Was Russland, China und die USA zusammenschweißt

Es gibt mehrere Knackpunkte, über die heiß diskutiert wird. Allem voran: die Dimension des Abkommens (dem „Scope“). Soll der Fokus nur auf Plastikmüll im Meer liegen (dafür setzte sich Japan im Vorlauf der Konferenz ein) oder auch auf Land und in der Luft (Peru und Ruanda steuerten den Gegenvorschlag bei, der sich durchgesetzt hat). Und, soll es nur um Plastikmüll gehen, oder um den gesamten Lebenszyklus? 

Besonders der letzte Punkt lässt die Gemüter vieler plastikproduzierender Staaten hochkochen. Und auch bei fast jedem Gespräch, das ich führe, läuft es immer wieder auf einen Punkt hinaus: weniger Plastik produzieren. Das Problem an der Wurzel packen. Das klingt erstmal total logisch: Plastik, das nie hergestellt wurde, kann nicht in Meeren, Vögeln oder Säuglingen landen. 

Es überrascht allerdings auch nicht, welche Staaten dagegen Sturm laufen. Dreimal darfst du raten: Saudi-Arabien ist ganz vorne mit dabei, der Iran, Russland, China, aber durchaus auch die USA. Wenn Plastik eins kann, dann scheinbar Brücken über die tiefsten politischen Gräben hinweg bauen. Du bist bestimmt schon darauf gekommen, was diese sympathische Staaten-Allianz vereint. 

Öl.

Die USA sind der größte Erdöl-Produzent der Welt, gefolgt von Saudi-Arabien. Die anderen genannten sind alle in den Top 10. Und spätestens an dieser Stelle wird es spannend fürs Klima. Denn neues Plastik wird zu 99 Prozent aus Erdöl hergestellt. Wäre Plastik ein Land, wäre es weltweit auf Platz fünf, was den CO₂-Ausstoß angeht – den Vergleich höre ich hier häufig.

Der größte Produzent von Einwegplastik ist ExxonMobil. Richtig, das ist der Konzern, der seit den 1970er Jahren (Öffnet in neuem Fenster) von der Erderhitzung weiß und seitdem umfangreiche Desinformationskampagnen (Öffnet in neuem Fenster) gestartet hat, um Klimawissenschaften zu verunglimpfen.

Für die fossile Industrie ist Plastik ein klassischer Ausweichmarkt. Macht Sinn – wenn langsam aber sicher keine Energie mehr aus Erdöl gewonnen werden darf, suchen sich die Förderländer und -Konzerne alternative Geschäftsmodelle. Plastik steht so hoch im Kurs, dass die Internationale Energie Agentur (Öffnet in neuem Fenster) bis 2050 mindestens eine Verdoppelung des Marktes prognostiziert.

Kein Wunder also, dass die fossile Lobby auch hier in Nairobi Sturm läuft.

Wachstums-Prognose für verschiedene Petrochemikalien, die für die Plastik-Produktion verwendet werden (in Millionen Tonnen). 📊: IEA (Öffnet in neuem Fenster)

Lobby in der Lobby

Als ich mich mit Sarah Perreard von der Schweizer NGO und ihrem Team in ihrer Hotellobby unterhalte, kommen wir auch auf die Präsenz von Öl-Lobbyisten zu sprechen. Mitten im Satz senkt sie auf einmal ihre Stimme. „So viel dazu, ein paar von ihnen sitzen uns gegenüber, da drüben auf der Couch“. Es sei wohl viel einfacher für Lobbyisten auf der Konferenz akkreditiert zu werden, als für Wissenschaftler*innen, sagt sie mir.

CIEL, eine große Umweltorganisation, veröffentlicht zur Halbzeit der Konferenz eine Pressemitteilung (Öffnet in neuem Fenster): 143 Lobbyisten (hier gendere ich bewusst mal nicht) aus der Erdöl- und der Chemieindustrie seien für die Konferenz registriert. Das sind rund ein Drittel mehr als bei der vorangegangenen Konferenz in Paris, der INC-2. 

Und die Zahl beinhaltet nicht einmal die Lobbyisten von Konsumgüter-Konzernen (Nestlé und Co.) und solche, die undercover unterwegs sind. Ein Beobachter erzählt mir, dass der CEO eines großen italienischen Chemie-Konzerns persönlich angereist sei. Und einige der Lobbyisten gehörten sogar zu den offiziellen Delegationen (wie es auch bei den Weltklimakonferenzen schon der Fall war). Es hätte bei den ersten beiden Konferenzen teilweise absurde Szenen gegeben, bei denen Öl-Lobbyist*innen den Verhandelnden mehr oder weniger zugeflüstert haben, was sie in der Debatte sagen sollen. 

Ich wünsche mir später auf der Terasse des UN-Compounds, während mein Blick von Teilnehmerin zu Teilnehmer wandert, alle Lobbyist*innen hätten einen kleinen schwarzen Öltropfen aus Plastik auf ihre Sakkos gepinnt. So wie andere das mit SDG-Buttons machen (Pride-Flaggen habe ich hier bisher übrigens keine einzige gesehen). Ich frage mich, was in diesen Menschen vorgeht. Ist ihre Seele wirklich so schwarz, wie das Erdöl, für das sie sie verkaufen?

Beim „Schweizer Empfang“ verrät mir ein Beobachter aus den USA dann, während wir kenianisches Bier trinken, den Trick, wie ich Lobbyisten zuverlässig erkennen könne: „Achte auf die Lackschuhe. Lobbyisten tragen keine Sneaker“. Anne Aittomaki, eine dänische NGO-Vertreterin fügt hinzu: „Halt einfach Ausschau nach mittelalten, weißen Männern im Anzug. Deine Trefferquote wird hoch sein.“ 

Warum überrascht mich das nicht?

Der Weg zu den Verhandlungen auf dem UN-Gelände in Nairobi.

Ein Vertrag, sie zu binden

Diese Konferenz ist so voller Widersprüche. Auf der einen Seite engagierte, teils namhafte Wissenschaftler*innen, die sich von morgens bis abends abmühen, um bei den Delegierten die Fakten auf den Tisch zu legen. Auf der anderen Seite eine Horde Lobbyisten, die das Gegenteil versuchen. Auf der einen Seite kleinere Staaten wie Peru oder Ghana, die sich ernsthaft und ambitioniert für eine plastikfreie Welt einsetzen – auf der anderen Seite Saudi-Arabien und Russland, die versuchen zu blockieren, wo es nur geht.

Wie die Konferenz am Sonntag ausgeht, schreibe ich nächste Woche im taz-Newsletter TEAM ZUKUNFT, Du kannst ihn hier abonnieren (Öffnet in neuem Fenster)). Klar ist: Das Abkommen ist noch mitten im Verhandlungsprozess, auch nach der Konferenz. Im kommenden Jahr wird es noch zwei weitere Konferenzen geben, in Kanada und in Südkorea. Erst dann wird es (hoffentlich) ein finales, globales Abkommen geben, das (im besten Fall) rechtlich bindend ist. Dass wirklich alle Mitgliedsstaaten unterschreiben, ist noch alles andere als in Stein gemeißelt.

So oder so werde ich wohl nie wieder eine Plastiktüte, einen bunten Eislöffel oder sonst irgendeine Sache aus Plastik in den Händen halten können, ohne an diese Tage in Nairobi zu denken.

Danke Dir fürs Lesen! Mein Gefühl ist: die Plastikkrise und ihre Verzahnung mit dem Klima haben noch nicht viele Leute auf dem Schirm. Und das UN-Abkommen, das wirklich eine große Chance darstellt, erst recht nicht. Ich würde mich freuen, wenn Du daher diese Ausgabe weiterschickst, damit noch mehr Menschen von diesem wichtigen Thema mitkriegen.

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Klimageschichten aus der Community

Wir haben nach unserer Ausgabe (Öffnet in neuem Fenster) zu neuen Narrativen in der Klimakrise viele spannende Tipps von euch bekommen. Hier sind sie, vielleicht kennst Du ja den ein oder anderen auch noch nicht.

Die nächste Treibhauspost bekommst Du am 02. Dezember.

Bis dahin, herzliche Grüße
Julien

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Kategorie Gesellschaft

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