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DIE WANDEL-RATTE

LITERATUR-KRITIK

„Ich habe meine Pflicht getan. Meine Pflicht als Soldat der deutschen Wissenschaft: Die organische biologische Gemeinschaft schützen, das Blut reinigen und von seinen Fremdkörpern befreien. Glaub mir, das war nicht immer einfach. Ich habe den Befehlen gehorcht, aus Liebe zu Deutschland. Und weil die Politik des Führers, unseres Führers, es verlangte.“


So Peter Hochbichler alias Helmut Gregor alias Josef Mengele zu seinem Sohn Rolf, einem eher linksgerichteten Rechtsanwalt, als dieser ihn im Oktober 1977 in seinem Versteck in einer Favela in São Paulo besuchte. Gelockt hatte der Vater, den Rolf hier erst zum zweiten Mal sieht und der ihn lange nur als „Onkel aus Amerika“ kannte, den Sohn mit dem Versprechen auf die Wahrheit. In Deutschland würden nur Lügen über ihn geschrieben. Dass dem nicht so ist, erfährt Rolf schnell, rantet der Herr Papa doch kurz nach der mitleidvollen Rechtfertigung:

„Mitleid ist keine gültige Kategorie, weil die Juden nicht der Menschheit angehören. Sie wollen seit Jahrtausenden das Verderben der nordischen Rasse. Sie mussten ausnahmslos ausgerottet werden.“

Zurück in Deutschland bricht Rolf folgerichtig den Kontakt ab, schützt den Vater aber weiter – auch über dessen Tod „im türkisblauen Meer“ bei Bertioga am 7. Februar 1979 hinaus. Josef Mengele musste sich wegen seiner unsäglichen, unmenschlichen Verbrechen nie verantworten. Gesucht und gejagt von Staatsanwalt Fritz Bauer wie auch dem Mossad, wurde er zu Lebzeiten, im Gegensatz etwa zu Adolf Eichmann, nie gefasst. Erst Jahre nach seinem Tod wurde bekannt, dass er, der vor allem Kinder mordende Arzt aus Auschwitz, eben schon längst tot ist.

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Ein mittlerweile paranoider - immer noch bösartiger und manipulativer - Mengele schreibt seinem Sohn Rolf // © 2023 Matz (Text), Jörg Mailliet (Illustrationen) / Kenesebeck Verlag

Wie dies ans Licht kam, erzählt der Epilog der Graphic Novel Das Verschwinden des Josef Mengele von Matz (Text) und Jörg Mailliet (Illustrationen) nach dem gleichnamigen Roman von Olivier Guez, der auch das Vorwort zum üppigen, im Knesebeck Verlag erschienenen Comic verfasst hat. Zunächst sei er skeptisch gewesen, als die Idee einer Comic-Adaption an ihn herangetragen wurde, so Guez. Diese löste sich allerdings auf und er finde diese Adaption, an der er aus der Ferne mitgearbeitet habe, „ganz große Klasse“, ein „Hammer“ sei sie.

Dem ist nur zuzustimmen, auch ohne den Roman gelesen zu haben. Die Geschichte in ihren zwei Teilen „Der Pasche“ und „Die Ratte“ ist rasant, doch nie gehetzt, unterhaltsam aber nicht leicht, düster vor allem, was sich auch in den ausgezeichneten Zeichnungen Mailliets widerspiegelt. Doch düster und dunkel nicht um des Effekts wegen, sondern schlicht, weil es die grausame Realität der Nazi-Gräueltaten, das Bestehenbleiben des Gedankenguts gepaart mit Arroganz, die Nachlässigkeit der jungen Bundesrepublik bei der Jagd nach den Tätern sowie die wachsende Paranoia der Versteckten und zurecht Gejagten prägnant erzählt und illustriert.

Im Juni 1949 kam Mengele in Rio de la Plata im Argentinien unter Juan Perón an. Der diktatorische Präsident (dessen Sozialpolitik der verstorbene Papst Franziskus übrigens schätzte, mehr dazu in Kürze) schützte nur zu gern die flüchtigen Nazis, sah deren Kompetenz und Geld fröhlich ins Land fließen und hatte es selber ja auch eher mit Hitler und weniger mit diesem Judenpack so. Win-Win also. Doch, hui, eines Tages wird er gestürzt und somit wackelt neben seinen Statuen vor allem die Sicherheit der teils sehr prominenten Nationalsozialisten im vermeintlichen Exil-Paradies.

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Bessere Zeiten: Willem Sassen ist einer der ersten Ansprechpartner Mengeles aka Helmut Gregors in Buenos Aires // © 2023 Matz (Text), Jörg Mailliet (Illustrationen) / Kenesebeck Verlag

Mengele flüchtet, finanziell immer unterstützt von seiner einflussreichen und wohlhabenden Industriellen-Familie aus Günzburg, nach Paraguay und schließlich Brasilien. Diese Schritte illustriert die Graphic Novel Das Verschwinden des Josef Mengele eindrücklich, auch lehrreich sowie visuell imponierend. Manch ein Detail mag vielen gar nicht bekannt oder mittlerweile entfallen sein. Etwa, wie die Suche bzw. Jagd nach dem grausamen Nazi-Arzt immer wieder durch „das Leben“ unterbrochen wurde. Etwa das Verschwinden des Jungen Jossele (die sog. Jossele-Schumacher-Affäre), das in Israel (beinahe) eine Staatskrise auslöste und den Mossad voll einspannte. Oder die Forschung von (ehemaligen) Nazi-Wissenschaftlern in einer Militärfabrik in Ägypten, wo wohl an Raketen mit radioaktiven Abfällen oder Atomsprengkörpern gearbeitet wurde, um Israel auszulöschen.

In Deutschland kämpfte Fritz Bauer ohnehin mehr oder minder allein auf weiter Flur. Ein Bundesnachrichtendienst (BND) unter Reinhard Gehlen schützte Nazis und bekämpfte den Bundesverfassungsschutz und dessen Leiter Otto John, der wiederum versteckte Nazis und Kriegsverbrecher aufspüren wollte. (In diesem Zusammenhang sei auch die Serie Bonn – Alte Freunde, neue Feinde empfohlen sowie Lars Kraumes Spielfilm Der Staat gegen Fritz Bauer, an dessen Drehbuch Olivier Guez mitwirkte und der auch Bauers Homosexualität thematisiert.)

So ist diese Graphic Novel nicht nur am heutigen 8. Mai 2025, an dem wir den 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs und die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus begehen, eine empfehlenswerte Lektüre. Erinnert sie doch tief und nachhaltig daran, dass mit „dem Ende“ noch lange kein Ende war. Nach und nach wurden „rehabilitierte“ Nationalsozialisten in die Politik und Medien, Justiz und Medizin, Verwaltung und Firmen im Nachkriegsdeutschland gelassen. Die Worte änderten sich, das Gedankengut blieb zumeist.

Kafkaesk Illustration düster Menschen fantasie Graphic Novel Josef Mengele Flucht
Sie sind überall! Zerfressen von Paranoia und Angst auf der Flucht im brasilianischen Niemandsland... // © 2023 Matz (Text), Jörg Mailliet (Illustrationen) / Kenesebeck Verlag

Andere, wie Mengele, Eichmann, Klaus Barbie etc. flüchteten. Was vielen Verantwortlichen auch in Deutschland nur recht gewesen sein dürfte. Fröhliches Unter-Den-Teppich-Kehren stand einem Land im Wiederaufbau und wirtschaftlichen Aufschwung halt besser. Und ein wenig gesucht und angeklagt wurde ja, wenn auch nicht zuletzt bzw. vor allem dank der Alliierten.

Josef Mengele, der nicht nur zeitlebens dem Gedanken der Herrenrasse anhing, sondern sich wohl auch noch für ein ganz besonders ausgezeichnetes Exemplar dieser hielt, wie die Graphic Novel deutlich macht, wurde wie erwähnt nie der Prozess gemacht. Stattdessen wählte er wohl, paranoid, einsam, verbittert, gequält von den eigenen Dämonen und nach seiner Meinung missverstanden, den Freitod im Atlantik. Eine bittere Ironie, wenn wir bedenken, wie vielen Menschen er das Leben nahm, sie folterte und quälte, kaltblütig an ihnen „forschte“ und ihnen jede Freiheit, beinahe jede Entscheidung nahm.

Die bildstarke, an mancher Stelle kafkaeske, in spitzen, boshaften, entlarvenden Dialogen und Selbstgesprächen, von Werner Kügler stark aus dem Französischen übersetzte, hochgradig spannende, aufwühlende, atmosphärische und definitiv zeitlose Graphic Novel Das Verschwinden des Josef Mengele sei unbedingt empfohlen. So unangenehm sie an mancher Stelle sein mag.

AS

PS: Übrigens dürfte sie sich perfekt als Geschenk für ältere Jugendliche eignen. Stellen wir doch fest, wie arg der Wissensmangel ist, wenn es um den Holocaust und die Verbrechen des Nationalsozialismus geht. Mit Das Verschwinden des Josef Mengele nach Olivier Guez lassen sich sicher einige Lücken schließen und es ist eben kein trockener (und oft übel riechender) Lehrbuch oder Broschürentext.

https://steadyhq.com/de/018e38c0-7a57-4e1c-b5b8-4c831b91d2f7/posts/55a71840-6e3d-4dbf-bfac-17b0aed76701 (Öffnet in neuem Fenster)

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Matz (Text), Jörg Mailliet (Illustrationen): Das Verschwinden des Josef Mengele nach Olivier Guez (Öffnet in neuem Fenster); Aus dem Französischen von Werner Kügler; August 2023; 192 Seiten, durchgehend vielfarbig, Hardcover, gebunden; Format: 21.5 x 29.0 cm; ISBN: 978-3-95728-756-4; Knesebeck Verlag; 25,00 €

Kategorie Belletristik & Literatur

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