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Der dritte Job

In der Zeit_zwischen dem Schreiben des Newsletters und dem Versand wird einiges passiert sein – ein Bernie-Sanders-Meme (Öffnet in neuem Fenster) zum Beispiel – und ich bin selbst gespannt, was es mit meinem Schreiben macht, ihn am Sonntagabend zu schreiben (bzw. schreiben zu wollen) und erst einige Tage später zu verschicken. Inwiefern ich reflektieren werde oder vorausblicken oder die Texte eher zeitlos werden, losgelöst vom Davor und Danach.

Kann man in einer Pandemie überhaupt ohne zeitliche Bezugspunkte schreiben? Gibt es sie noch? Immer wieder habe ich in den letzten Monaten von anderen gehört, ihr Zeitgefühl habe sich verändert. Dabei ist die Wahrnehmung davon, wie sich das eigene Zeiterleben gewandelt hat, völlig unterschiedlich. Einigen kam es so vor, als würde die Zeit beinahe stillstehen, andere sagten, die Zeit würde rasen.

Psycholog_innen haben gezeigt, dass in unserer Empfindung die Zeit langsamer geht, wenn viel passiert und wir damit viel erinnern können. Ein langer Film mit vielen Szenen, keine Kurzgeschichte. Doch obwohl im letzten Jahr ist in meinem Leben viel passiert, empfinde ich meine Zeit nicht als ausgedehnt. Sie vergeht viel zu schnell. Dabei ist mein Alltag deutlich anders als die Jahre zuvor: nicht mehr fest angestellt, ein neues Kind, eine neue Familiendynamik, jede Woche neue Corona-Regeln. Ich frage mich immer wieder, wo das Jahr hin ist. War nicht eben noch März? Ist das Baby nicht gestern erst geboren? Warum steht es nun schon? Läuft es, noch ehe der Lockdown endet?

Momentan rechne ich die Zeit in Wochen ohne Kinderbetreuung. Wenn dieser Newsletter verschickt wird, ist meine Tochter schon sechs Wochen nicht mehr in der Kita gewesen. Am 11. Dezember 2020 war sie das letzte Mal dort. Besonders lang erscheint es mir nicht, obwohl es viel zu lang ist. Vielleicht ist es die Gleichzeitigkeit von Wandel und Stillstand, die das Zeitgefühl ein Stück weit auflöst. Obwohl das Baby jeden Tag etwas Neues kann, sind die Tage sind so unheimlich ähnlich, dass es sich manchmal anfühlt, als wären diese sechs Wochen ein einziger langer Tag gewesen.

War das ein schnelles Jahr? Welches Gefühl, oder eher, welches Zeitgefühl verbindest du mit 2022?

Trotz aller Veränderungen sind meine zeitlichen Bezugspunkte künstlich. Deadlines sind keine Ereignisse, digitale Treffen meist überraschungsfrei, unterkühlt, weil die Emotionen von der Digitalität gedrosselt werden. Alle Zoom-Meetings fließen zusammen zu einem einzigen riesigen Standbild aus flackernden Kacheln. Dinge passieren, aber es passiert kaum etwas. Da es in den letzten Monaten weniger konkrete Erlebnisse gab, die große Erinnerungsspuren hinterlassen konnten, brauchen wir die Eckdaten der letzten Male, um die Zeit im Nachhinein zu strukturieren und über sie zu sprechen.

Wann wir das letzte Mal mit jemandem vor einem Café gesessen haben. Wann wir das letzte Mal unsere Eltern besucht haben und umarmt. Das letzte Mal die Haare geschnitten bekamen. Das letzte Mal ein echtes Date gehabt in einer Bar. All das sind Erinnerungen, die wir auch körperlich erfahren haben. Diese Ebene ersetzt das Digitale nicht. Dieser Berührungshunger.

Das Soziale, das uns ausmacht, sind nicht nur Gespräche, sondern auch das Miteinander in einem Raum, an einem Ort. Die Atmosphäre von Restaurants, Cafés und Konzerten, die man vermisst, sind nicht nur das Essen und die Musik, sondern auch die Wahrnehmung anderer fremder Menschen, mit denen man nichts zu tun hat. Wir sehen und spüren sie, wir bekommen etwas voneinander mit trotz des anonymen Nebeneinanders. Uns fehlen die fremden Menschen. Ich frage mich, ob die Solidarität in der Pandemie darüber erschwert wird, dass wir so sehr zurückgeworfen sind auf uns allein in der Wohnung und über die Monate das Bewusstsein dafür blasser geworden ist, dass wir viele sind.

In dieser Woche habe ich einen Text über die Erschöpfung (Öffnet in neuem Fenster) von Eltern in der Pandemie geschrieben und kritisiert, dass bislang die mentalen Belastungen, die durch die soziale Isolation verursacht werden, gerade politisch zu wenig berücksichtigt werden. Anna Jikhareva hat in der Schweizer Wochenzeitung (Öffnet in neuem Fenster) so gut auf den Punkt gebracht, was den seelischen Druck begünstigt:

„Vereinsamung unter Leistungsdruck.“

Neben der Einsamkeit und der Doppelbelastung von Beruf und Fürsorge, müssen besonders die Menschen, die mit Kindern zusammenleben, nicht nur sich selbst, sondern zusätzlich andere emotional auffangen. Viel anstrengender und fordernder als meine Kinder zu beschäftigen, war es seit Beginn der Pandemie ihnen emotionalen Halt zu geben, ihnen die Angst zu nehmen und zu versuchen, die kindliche Unbeschwertheit zu erhalten. Was habe ich mich geärgert, wenn immer wieder Leute sagen, Kinder könnten die Hygiene-Regeln nicht einhalten. Vermutlich tun sie es konsequenter als viele Erwachsene. Meine Tochter sind immer noch „Happy Birthday“, wenn sie sich die Hände wäscht. Die Kinder trauen sich auf den Spielplätzen nicht mehr in die Nähe anderer, nehmen kaum Kontakt miteinander auf. Es ist unendlich traurig. Das Auffangen dieser Veränderung, das zu erhalten, was Kindheit ausmacht, ist der dritte Job, den viele Eltern gerade versuchen zu leisten. Emotionale, unsichtbare Arbeit.

Wenn man sich darauf besinnt, was Kinder gerade brauchen, wird plötzlich klar, was für ein hohles Konzept Self-Care mittlerweile geworden ist. Denn Kinder brauchen keine Self-Care, Kinder brauchen andere, die sich um sie kümmern. Kindern ist gerade nicht geholfen, indem sie sich ein Bad einlassen und Schokolade essen. Es lenkt sie kurz ab. Genauso wenig, wie es die emotionalen Bedürfnisse von Kindern abdeckt, reicht Self-Care für Erwachsene. Wenn Self-Care aus endlosen Routinen besteht, die täglich wiederholt werden müssen und lediglich bewirken, dass man sich fünf Minuten lang besser fühlt, ist es vielleicht nur Kapitalismus. Die Autorin Gabrielle Moss (Öffnet in neuem Fenster) hat es so formuliert:

„Things that get branded as self-care now have nothing to do with taking care of yourself, like detoxes and juice fasts. I do them because I hate myself, not because I’m taking care of myself. It’s poised to be wrenched away from activists and turned into an excuse to buy an expensive bath oil.”

Die Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde hat Self-Care als politischen Widerstand (Öffnet in neuem Fenster) in einer rassistischen Welt aufgefasst, damit Aktivist_innen ihrer politischen Arbeit erhalten bleiben. Wie der Begriff dem aktivistischen Kontext entrissen wurde und zu einem ein Marketing-Instrument geworden ist, um Feel-Good-Produkte zu verkaufen, erklärt André Spicer in diesem Text für den Guardian: Self-care’: how a radical feminist idea was stripped of politics for the mass market (Öffnet in neuem Fenster).

Eine andere Art der Self-Care-Kritik hat die in Kanada lebende Muslima Nakita Valerio beschrieben, die nach dem Terroranschlag auf zwei Moscheen in Christchurch versuchte, ihre Trauer zu verarbeiten und sich im Stich gelassen fühlte von Nicht-Muslim*innen. Sie schrieb damals auf Facebook den Satz:

„Shouting ‘self-care’ at people who actually need ‘community care’ is how we fail people.“

In einem Essay über Community-Care (Öffnet in neuem Fenster) beschreibt sie genauer, warum sich gemeinsam um Menschen zu kümmern, statt jede_r um sich selbst, insbesondere von Frauen of Colour schon lange praktiziert und gefordert werde. Auch der Essay (Öffnet in neuem Fenster) von Meghan Markle, der vor einigen Wochen erschien und von ihrer Fehlgeburt handelte, hatte als zentrales Thema Community-Care. Einander fragen: „Are you OK?“

Bei Community-Care geht es nicht nur um konkrete Unterstützung, sondern zudem um ein echtes Interesse– „to care about“ – was in dieser Woche zu den Forderungen der Initative 19. Februar Hanau (Öffnet in neuem Fenster) passt. Sie setzt sich dafür ein, dass die rassistischen Morde vom 19. Februar 2020, bei denen Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov ihr Leben verloren haben, aufgeklärt und nicht vergessen werden.

Die Initiative schreibt: „Wir wünschen uns am 19.2.2021 nicht nur Beistand in der Trauer. Organisiert überall Kundgebungen, Demos, Gedenkaktionen!“

Community-Care geht über Beileidsbekundungen hinaus, sie übernimmt Verantwortung, wenn andere, die gerade zum Beispiel Raum für ihre Trauer brauchen, sie allein nicht tragen können und das auch nicht sollten. Wie Nakita Valerio schreibt:

„Community care means showing up; it means that when you find yourself in the position of being able to give more than you need to receive, you do so.“

Wie Community-Care in der Corona-Krise aussehen könnte, das ist wiederum ein ganz eigener Text. Sie fehlt (Öffnet in neuem Fenster), so viel ist klar. Und es ist schwierig, sie gerade zu organisieren, wenn auch nicht unmöglich.

„Die Aufgabe von Elternschaft ist auch, für die Kinder und die eigene Familie ein soziales Netz aufzubauen, das sich als Dorf gemeinsam kümmert. Der Aufbau dieser Dörfer ist ohnehin schwierig genug. In der Pandemie sind aber die Straßen zu ihnen gesperrt."“

Ihr könnt übrigens auf diesen Newsletter ganz einfach direkt per Mail antworten, wenn ihr irgendwas loswerden wollt.

take CARE

Teresa

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