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Eine andere Welt erproben

Zwischen all den kitschigen Inspirationssprüchen auf Instagram, die immerhin manchmal trösten oder das Einzige sind, das ich in der klebrigen Müdigkeit nach einem Tag voller Termine oder allein mit Kleinkind noch lesen kann, finde ich manchmal auch Anstöße, die mehr in mir bewegen. Ein paar Worte, die größer sind als die kleine Kachel, auf der sie stehen. Die meisten Zitate rauschen in wenigen Sekunden vorbei und sind meist Stunden später vergessen. Manche trage ich wochenlang gedanklich mit mir herum. Vor ein paar Tagen sah ich den neuen Kalender für 2023 von Molly Costello (Öffnet in neuem Fenster), non-binäre Illustrator_in aus den USA, der „Fertile Futures“ (Öffnet in neuem Fenster) heißt und auf dessen Deckblatt der Querschnitt eines Gartens mit seinen unterschiedlichen Bodenschichten gemalt ist, sowie einige bunte Pflanzen und Wurzeln, die in einem fruchtbaren Boden wachsen und blühen. Die Unterzeile des Kalenders lautet „Practicing the world we want“, die in meinem Kopf zunächst hängen blieb als „Practicing the future we want“. Denn ich fand zunächst diese Idee eingängiger: „Die Zukunft praktizieren, die wir wollen“. Aber beim Darübernachdenken einige Tage später fiel mir auf, dass wenn wir die Zukunft, die wir uns wünschen, erproben und versuchen zu leben, sie bereits da ist und zu unserer Gegenwart wird. Dann praktizieren wir bereits die Welt, die wir uns wünschen und holen unsere utopischen Wünsche ins Jetzt, lassen sie Realität werden, zumindest in Konturen. Das ist der Beginn. Wir holen die Zukunft näher heran, geben ihr eine Form, übersetzen Sehnsüchte in Handlungen.

„Practicing the world we want“ – Molly Costello

Ich mag diesen simplen Satz so sehr, dass ich ihn mir am liebsten tätowieren lassen würde, oder ihn auf ein Shirt sticken lasse, das ich im kommenden Jahr auf jeder Veranstaltung tragen werde, auf der ich mitdiskutiere. Als Erinnerung für mich selbst und für andere, dass wir nicht auf einen Startschuss warten müssen, sondern jederzeit damit beginnen können, Teil von der Veränderung zu sein, nach der wir uns sehnen.

Eine Vermutung, die ich habe, ist dass die neuen Klima-Proteste bei einigen Menschen so viel Wut auslösen, weil sie sich getroffen fühlen in der eigenen Ohnmacht und Untätigkeit und sie einen unangenehmen Druck spüren, selbst etwas zu tun, aber noch nicht wissen, was das sein könnte. Sie haben noch keine Idee, wie sie diese seltsamen Gefühle anders ausdrücken sollen als in der erregten Ablehnung der Proteste, deren Notwendigkeit ihnen heiß den Rücken hinaufkriecht.

Eine der Fragen, die ich hatte, als ich begann »ALLE_ZEIT« (Öffnet in neuem Fenster) zu schreiben, war, warum so viele Menschen im Widerspruch zu ihren Werten leben und nicht genug gegen Zwänge rebellieren. Denn in Umfragen dazu, was ihnen im Leben am wichtigsten ist, sagen die wenigsten Menschen, dass sie reich werden wollen und auf der Karriereleiter so weit nach oben klettern, dass von ihnen sehr bald erwartet wird, das Büro nur noch zum Schlafengehen zu verlassen. Der repräsentativen Allensbach-Umfrage AWA (Öffnet in neuem Fenster) zufolge ist Menschen in Deutschland nichts so wichtig wie „gute Freunde zu haben, enge Beziehungen zu anderen Menschen zu führen“ (2022: 84,5 Prozent), sogar Familie und Partnerschaft rangieren dahinter. Erfolg im Beruf ist nur für knapp die Hälfte der Befragten erstrebenswert und der Haltung, dass es wichtig sei, „viel zu leisten“, stimmt 2022 en nur knapp über 30 Prozent zu. 

Aber wie viele Menschen leben aktuell nach diesen Werten und priorisieren Freund_innenschaften statt Job oder Partner_in? Wie viele setzen sich selbst unter Leistungsdruck oder halten andere für faul, die ein wenig gemütlicher leben als sie selbst? Die Debatte über das Bürgergeld, so wie sie medial abgebildet und von konservativer Seite politisch kommentiert wurde, erweckte eher den Eindruck, dass „viel zu leisten“ einer der wichtigsten Werte in Deutschland sei. Schaut man in die Befragungsergebnisse zur Frage „Was halten Sie persönlich im Leben für besonders wichtig und erstrebenswert?“ sind Menschen bezüglich der Leistungsethik vergleichsweise entspannt.

Vielleicht fehlt der ehrliche Austausch darüber, was uns wichtig ist, sodass wir lediglich annehmen, dass andere von uns erwarten, im Beruf erfolgreich zu sein, stets top herausgeputzt und alle in diesem Jahr erschienenen Sachbücher zu kennen, während sie selbst ganz auf uns blicken. Die Frage „Wie würdest du leben ohne kapitalistische Zwänge?“ ist die bessere Small-Talk-Frage, damit wir einander näherkommen und offener sein können, als „Was hast du dir für das kommende Jahr beruflich vorgenommen?“, „Wie läuft dein neues Projekt?“ oder „Wie sieht es aus mit deiner Beförderung?“ Viele Menschen haben sich so sehr den Normen und Zwängen unserer materiell orientierten Welt untergeordnet, dass sie mit der Frage nach Zielen und Wünschen automatisch berufliche Ziele oder kostspielige Anschaffungen verbinden, statt soziale Ziele, wie im nächsten Jahr die engsten Freund_innen wieder mindestens einmal im Monat, besser noch jede Woche zu treffen und sich vom Leben der anderen viel öfter persönlich erzählen zu lassen, als am Alltag der Menschen, die sie gern umarmen, im Vorbeiscrollen teilzuhaben. Neujahrsvorsätze könnten völlig anders lauten, wenn wir sie nicht mehr für uns allein, sondern ausgerichtet auf andere formulieren. Vorhaben, um uns wechselseitig zu stärken und vertrauter miteinander zu werden.

Wenn du die Welt praktizieren könntest, in der du leben willst, wie sähe sie aus? Was würdest du tun? Was würdest du an anderen schätzen? Was würdest du sie fragen, wenn du sie triffst?

Eines der Bücher, das mich in diesem Jahr am stärksten berührt hat und über das ich seit Monaten nachdenke, immer wieder in es hineinschaue, ist „How We Show Up: Reclaiming Family, Friendship, and Community“ (Öffnet in neuem Fenster) von Mia Birdsong, indem sie eine ähnliche These wie ich in »Alle_Zeit« vertritt – dass soziale Beziehungen viel mehr Zeit brauchen, um entstehen, wachsen zu können und uns emotional zu nähren – und mit vielen Beispielen über Beziehungen, Freund_innenschaft, Elternschaft und Familie erläutert, was verhindert, dass wir in den Beziehungsgeflechten leben, die wir uns wünschen, und wie es anders gehen könnte. An einer Stelle schreibt sie: „Je erfolgreicher ich wurde, desto schwieriger war es für mich, mir die Zeit zu nehmen, die es braucht, um Verbindungen zu anderen aufzubauen. Und desto weniger habe ich priorisiert, Beziehungen zu vertiefen.“ Sie hatte zwar ein großes berufliches Netzwerk, aber nicht die Art von Gemeinschaft, die sie sich eigentlich wünschte: verlässliche, vertrauensvolle Beziehungen, „die uns erlauben, verletzlich und unperfekt zu sein, zu trauern und zu stolpern, in denen wir für andere verantwortlich sind und tief geliebt werden.“

Sie stellt sich die Fragen: 

„How much of my life do I have to let go of to make room for the kinds of relationships I want? How far and deep must the reach of my heart extend? Can I hold in the light of generosity those who would wish me harm? And what cost is not too much to do so?“

Schon die kleinen, schrittweisen Veränderungen im Alltag, die wir aus diesen Fragen hervorbringen, können viel bewirken. In einem ihrer Texte beschreibt die Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp die kleinen Schritte als „Politik des Alltäglichen“ (Öffnet in neuem Fenster) und zeichnet nach, wie die Frauenbewegung der 70er-Jahre in Deutschland damit erfolgreich war:

„Die Frauenbewegung hat genau auf diese Weise das Geschlechterverhältnis in Europa nachhaltig umgekrempelt: nicht durch die eine große Revolte, sondern durch beständige Modifikationen des Bestehenden. Es gab natürlich auch theoretische Texte und originelle Ideen Einzelner, aber die wurden dann am Küchentisch und im Frauenzentrum diskutiert, woraus manchmal neue Texte und Ideen hervorgingen, viel öfter aber konkrete Veränderungen, die nach und nach im persönlichen Alltag Realität wurden: Frauen trennten sich aus unguten Beziehungen, führten neue Verhandlungen über die Aufteilung der Hausarbeit, wechselten ihren Kleidungsstil, suchten sich andere Berufe… alles kleine Modifikationen, die in der Summe eine enorme gesellschaftliche Veränderung bewirkt haben.“

Mit diesem Wissen, dass sich mit kleinen Modifikationen im Alltag eine neue Welt bauen lässt, können wir vielen Themen begegnen. Freund_innenschaften und Familien, Erwerbs- oder Sorgearbeit, auch der Klimakrise. Zwar können Konsumentscheidungen nur einen Teil dazu beitragen, dass die Erderwärmung sich verlangsamt, doch sie schaffen einen wichtigen Raum für andere, mutigere politische Entscheidungen. Die Journalistin Ulrike Hermann sagte bei der Aufzeichnung der Feministischen Presserunde (Öffnet in neuem Fenster)vor ein paar Tagen (wird gesendet ab diesem Sonntag), dass beispielsweise Eltern, die es wirklich ernstmeinen damit, dass ihre Kinder eine Zukunft mit weniger als zwei Grad Erderhitzung haben können, aufhören müssten Fleisch zu essen (Öffnet in neuem Fenster). Das ist so simpel, wie unbequem, wie wahr. Ein stärkerer Rückgang des Fleischverzehrs in Deutschland würde es schwieriger machen, Witze über den Veggie-Day zu machen und verändern, was Supermärkte und Restaurants bestellen, um Regale und Speisekarten zu bestücken. Radwege, die mehr genutzt werden, bauen Druck auf, Städte fahrradfreundlicher zu machen und normalisieren Radfahrer_innen gegenüber Autofahrer_innen als Verkehrteilnehmende, weil sie sichtbarer sind und mehr Platz einnehmen. Anderes Verhalten zu beobachten bringt einen Teil der Menschen auf die Ideen, es auszuprobieren. Wie Menschen ihre Wohnungseinrichtung, ihren Modegeschmack, ihre Erlebnisse in sozialen Netzwerken oder vor ihren Freund_innen inszenieren oder nicht, hat Einfluss darauf, was und wie viel andere besitzen wollen und kaufen oder auch, wie unzureichend sie ihr eigenes Leben finden.

Um die Fragen von Mia Birdsong für die Klimakrise oder schlicht für soziale Gerechtigkeit zu adaptieren:

„Wie viel meines alten Lebens muss ich loslassen, um die Welt zu bewahren, in der ich selbst und alle anderen langfristig gut leben und überleben können?“

Das ist keine Verzichtsdebatte, denn man bekommt ein neues Leben zurück. Zum Beispiel ein Leben, das reicher an verlässlichen sozialen Beziehungen und damit reicher an Unterstützung ist. Oder eines, das reicher an Zukunftshoffnungen, statt Zukunftsängsten ist. Dinge loszulassen, schafft Platz für Neues. Auch wenn es Mut, Offenheit, Risikobereitschaft voraussetzt, sich davon überraschen zu lassen, was diese neuen Dinge sind.

Bis bald wieder
Teresa

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Aus meinem Buch »ALLE_ZEIT« habe ich schon zwei Mal in Berlin und einmal in Hamburg gelesen und im kommenden Jahr werde ich unter anderem in München, Köln und Bremen sein. Gerne komme ich auch zu Lesungen in weiteren Städten, wenn ihr Interesse habt, eine zu organisieren, könnt ihr euch bei meinem Verlag melden (Infos hier (Öffnet in neuem Fenster)). 

Wer das Buch noch im Dezember verschenken möchte mit Widmung von mir, kann sich direkt bei mir melden (das geht als Antwort auf diesen Newsletter). Die erste große Tüte mit signierten Büchern habe ich diese Woche schon zur Post getragen und es ist jedes Mal spannend, in den Mails erzählt zu bekommen, an welche Personen es weshalb verschenkt wird. Besonders interessant und schön fand ich, dass einige, die es schon gelesen haben, das Buch nun an ihre Väter verschenken.

»Freie Radikale«

Endlich wieder Zeit für ... meine Kolumne beim SZ-Magazin. Dort habe ich über die Entscheidung der Bundesregierung geschrieben, die bezahlte Freistellung von Partner_innen nach einer Geburt bis 2024 aufzuschieben. Ist Gleichberechtigung so unwichtig, dass sie warten kann? 

https://sz-magazin.sueddeutsche.de/freie-radikale/teresa-buecker-vater-vaterschaft-urlaub-elternzeit-92153 (Öffnet in neuem Fenster)

Podcast

Ich  bin schon immer Fan der Arbeit der Juristinnenbunds (Öffnet in neuem Fenster), denn er ist eine  der progressivsten, hartnäckigsten Organisationen, die sich für  Gleichberechtigung engagieren. Ohne feministischen Jurist_innen wären  wir heute nicht so weit, wie wir sind. Umso mehr hab ich mich über die  Einladung in den Podcast „Justitias Töchter“ gefreut, in der wir darüber  sprechen warum Zeit ein feministisches Thema ist und Alice Betram über  ihre Dissertation „Zeit im Recht“ sprecht.

https://justitias-toechter.podigee.io/33-feministische-zeitpolitik-mit-teresa-bucker (Öffnet in neuem Fenster)

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