„Was ist das für ein unfassbar schlechter Film, in dem wir seit zwei Jahren mitspielen“ – das habe ich im Laufe der Pandemie schon öfter gedacht. Vielleicht sogar als psychologische Schutzmaßnahme, um die Pandemie gedanklich von mir weg zu schrieben. Mittlerweile dauert das Ganze zu lang, um noch als Filme zu gelten. Aber ganz besonders bizarr und bedrückend fühlte sich dieser Gedanke an, als ich am Montag etwa 30 Minuten lang im Bus nach Hause fuhr und an jeder Haltestelle – erst auf Deutsch, dann auf Englisch – die Durchsage abgespielt wurde, man müsse im öffentlichen Nahverkehr entweder geimpft, getestet, oder genesen sein. Da die Haltestellen von Bussen in einem sehr viel kürzeren Abstand kommen als in der S-Bahn, schlossen die mechanisch klingenden Sätze manchmal mit nur wenigen Sekunden Abstand aneinander an. Ich war zum einen genervt, weil die Ansagen mir die Konzentration raubten das Buch zu lesen, das ich mitgenommen hatte. Zum anderen wirkten die Durchsagen nicht nur seltsam, sondern auch repressiv in dieser engen Taktung.
Den ÖPNV auf 3G umzustellen dient derzeit als Maßnahme, Menschen dazu zu bewegen, sich doch noch gegen Covid-19 impfen zu lassen und die Mitfahrt für alle sicherer vor einer Infektion zu machen. Ich bin seit Monaten geimpft, warte auf meine Booster-Impfung und sorge mich ständig um meine Kinder. Mehr Sicherheit, geringere Infektionsrisiken nehme ich gern. Aber gleichzeitig fühlten sich die Umstände im Bus intrusiv an. Der Abruf des Gesundheitsstatus als Dauerbeschallung. Ähnlich unangenehm, wie bei so viele Arztbesuchen auf Bögen ankreuzen zu müssen oder gefragt zu werden: „Sind sie gerade schwanger?“
Eigentlich wünsche ich mir weniger gesellschaftliches Interesse an meinem Impfstatus, sondern vor allem eines an meiner Erschöpfung. Ich glaube, ich kenne niemanden, der in dieser Pandemie ,resilienter‘ geworden ist. Pflegekräfte kündigen aus Selbstschutz. Ob diese Frage, wie es uns eigentlich geht und wie wir uns erholen können, irgendwann noch einmal politisch gestellt, bezweifle ich gerade.
Yvonne Bovermann, Geschäftsführerin des Müttergenesungswerkes, hat in diesem Interview (€) (Öffnet in neuem Fenster)erzählt, dass die Eltern aktuell viel kränker und erschöpfter in den Kuren ankommen als sonst. Diese Kuren werden von den Krankenkassen bezahlt, um schlimmere Gesundheitsfolgen zu vermeiden. Mit diesen Kuren erkennt unsere Gesellschaft sogar politisch an, dass die Arbeitslast, die Eltern und pflegende Anegehörige schultern, krank machen kann. Sie sind ein Pflaster auf ein System, das einen fetten Designfehler hat. Bovermann sagt in dem Interview außerdem, dass endlich sichtbar werden würde, wie stark unser jetziges Gesellschaftssystem auf unbezahlter Sorgearbeit beruht, wenn sich alle Menschen ihre Erschöpfung diagnostizieren lassen würden. Auch mal eine Idee für eine andere Art von Care-Streik.
Um eine fünfte Welle zu vermeiden, wird die Impfpflicht wohl notwendig werden. Dennoch ist es eine berechtigte Frage, ob die Impfpflicht nicht vermeidbar gewesen wäre. Die politische Kommunikation der letzten Monate wirkte oft wie ein veralteter, nachweislich suboptimaler Erziehungsstil, bei dem mit Druck und Strafen und möglichst wenig Empathie gearbeitet wird. An einem Abend in dieser Woche fiel mir plötzlich ein, mit was ich den Kommunikationsstil assoziierte: Den Rat an Eltern, ein Baby schreien zu lassen, damit die Lungen kräftig werden. Die Babys geben irgendwann auf und passen sich an, zeigen das gewünschte Verhalten. Aber das, was dem vorausging, war kalt. Zum Glück widersprechen die meisten Eltern-Ratgeber diesem schädlichen Schlaflerntipp heute.
Die Impfkampagne in Deutschland zu organisieren war keine leichte Aufgabe, sicherlich. Zunächst wurden hochaltrige Menschen und einige Risikogruppen geimpft, sodass andere, die sich sehnlichst mehr Schutz wünschten, warten mussten. Gut möglich, dass diese Wartezeit bei manchen Menschen zu Frust geführt hat, sie die Dringlichkeit einer Impfung für sich herabstuften und sie aufgrund der Dauer der Zeit weniger für Impfangebote erreichbar wurden als sie in den ersten Wochen nach Impfstart gewesen wären. Vielleicht hat die Fülle der Informationen und Empfehlungen dazu, wer mit was idealerweise geimpft werden sollte, zusätzlich verunsichert. Und auch dass alle Menschen sich auf ähnliche Weise eigenverantwortlich um eine Impfung kümmern können und dabei auch mehrere Hürden überwinden können, ist eine der Fehlannahmen der Impfkampagne gewesen. Alltagsorganisation wie Termine zu vereinbaren ist für einige Menschen schwer.
Aufsuchende Angebote und Community-Engagement-Strategien hätten von Anfang an ein integraler Teil der Impfkampagne sein müssen: Beide dieser Herangehensweisen setzen sehr gute Kenntnisse von unterschiedlichen sozialen Gruppen voraus, interkulturelle Kompetenz, Sprachkenntnisse, erfordern viel Personal. Insbesondere die Zusammenarbeit mit Communitys muss im Idealfall bereits aus anderen Zusammenhängen etabliert sein und für andere Themen fortgesetzt werden, da man Vertrauen nicht punktuell aktivieren kann. Staatliche Stellen müssen dafür auch reflektieren, dass Menschen aufgrund ganz unterschiedlicher schlechter Erfahrungen wenig Vertrauen in politische Maßnahmen und Behörden haben können. Erfahrungen, die sie nicht nur im Gesundheitssystem gemacht haben, sondern überall dort, wo Diskriminierung geschieht. Wie bereits im letzten Newsletter beschrieben, ist ein vertrauensbildender Aspekt in der politischen Kommunikation und im Handeln, dass Menschen Wohlwollen und echtes Interesse an ihren Bedürfnissen erleben. Menschen also, die strukturelle Ausgrenzung erleben, die spüren, dass ob es ihnen gut geht so vielen anderen egal ist, müssen sowohl innerlich als auch oft rein organisatorisch mehr Hürden überwinden, um sich für die Impfung zu entscheiden und einen Termin wahrnehmen zu können. Studien für unterschiedliche Länder haben gezeigt, dass Misstrauen gegenüber der Covid-Impfung unter erwerbslosen oder einkommensarmen Menschen – also solche, die wirtschaftlich ausgegrenzt werden und oft stigmatisierende Erfahrungen mit Behörden machen – stärker ausgeprägt ist als bei Menschen, die mehr Geld zur Verfügung haben.
Worüber aus meiner Sicht in der Impfkampagne auch zu wenig gesprochen wurde, war, welche Unterstützungsangebote Menschen brauchen, um sich impfen lassen zu können. Für alte Menschen, die noch eigenständig in Wohnungen leben, wurden zwar Taxis zu Impfzentren organisiert, doch weit darüber hinaus wurde über Unterstützungsbedarf nicht gesprochen. Wie erreicht man beispielsweise psychisch kranke Menschen, denen die Kraft fehlt, sich selbst um einen Termin zu kümmern oder dann auch zu diesem Termin zu erscheinen? Wie schaffen es alleinerziehende Eltern zum Impftermin, wenn sie keine andere Betreuung für ihre Kinder haben und nicht wissen, wen sie fragen sollen? Genau diese Situation mag für manche nicht vorstellbar sein – Irgendwen gibt es doch immer! – doch viele Alleinerziehende in Deutschland müssen ihr Leben sehr allein und komplett ohne andere Erwachsene organisieren. Dieses Gefühl der Verlassenheit korrespondiert auch mit wenig Vertrauen.
Auf ähnliche Weise fehlen vielen Menschen gute, vielseitige soziale Beziehungen, über die sie sich mit anderen austauschen können und über die ihnen beispielsweise Ängste vor der Impfung genommen werden. Informationen von Menschen, die uns nahestehen, vertrauen wir häufig sogar mehr als Informationen, die von Expert*innen kommuniziert werden. In ein Netz von Menschen eingebunden zu sein, die sich impfen lassen oder davon erzählen können, die Impfung gut vertragen zu haben, ist damit eine eigene kleine Impf-Kampagne. Sie wirkt nicht immer, wie manche Familien, Verwandte und Freund_innen gerade erleben, aber mit anderen darüber reden oder sogar gemeinsam zur Impfung gehen zu können, macht es für einige Menschen deutlich leichter.
In einem Interview mit dem Spiegel (Öffnet in neuem Fenster)aus dieser Woche hat ein dänischer Medizinexperte über Community-Engagement gesprochen, das die Impfungen voranbrachte. Er sagte:
„Oft hängt es an einzelnen Personen, ob eine Gruppe geimpft wird. Ein Friseur, ein Fußballballtrainer oder ein Familienoberhaupt kann am Ende entscheiden, ob sich der halbe Block die Spritze geben lässt oder nicht. Diese Menschen muss man überzeugen.“
Im gleichen Interview wundert er sich auch darüber, warum der deutsche Gesundheitsminister eher drohend auftrat, wenn er sagte, dass am Ende dieser Pandemie-Welle jede Person entweder geimpft, genesen, oder gestorben sei. Denn auch das klingt eben wie: ,Wenn du dein Zimmer nicht aufräumst, gibt es keinen Nachtisch.‘ Kinder werden bei einer solchen Ansage eher trotzig, als dass sie beginnen aufzuräumen.
Und nun ist es ein Dilemma. Die geimpfte Mehrheit erwartet, dass die sich Pandemie möglichst bald ausläuft und die Einschränkungen des Alltags fallen. Ihre Geduld und ihr Vertrauen nimmt ab. Die Soziologin Sonja Bastin (Öffnet in neuem Fenster) arbeitet gerade an einem Forschungsprojekt, von dem sie schon erzählt hat, dass insbesondere bei Müttern, die nach wie vor hohe Belastungen schultern, ohne wirksam entlastet zu werden, das Vertrauen in Politik und Demokratie gesunken sei. Ich merke das an mir selbst. Ich glaube daran, dass Politik viel Gutes bewegen kann. Aber dass meine Familie und ich gut durch die Pandemie kommen, dass wir uns danach irgendwann wieder erholen, damit fühle ich mich allein. Ich bin dünnhäutiger als im letzten Winter. Um sich für einen weiteren Corona-Winter zu wappnen, gab es nicht genug Gelegenheit zur Erholung. Davon, dass Familien eine Gesellschaftsaufgabe sind, habe ich lange nichts mehr gespürt. Und doch bin ich selbst genervt davon, wie pessimistisch ich geworden bin. Wie enttäuscht ich bin.
Die andere Seite des Dilemmas der Impfpflicht ist, dass manche befürchten, dass sie die Gruppe des bislang ungeimpften Menschen ebenso verärgern wird wie diejenigen, die die Pandemie leid sind und die Ungeimpften weiter von gesellschaftlichem Zusammenhalt wegbewegen könnte. Da ein Teil dieser Menschen ohnehin bereits demokratiefeindlich eingestellt ist und es schon jetzt immer wieder zu Gewalt und Drohungen kommt, wenn beispielsweise der Impfstatus oder Teststatus kontrolliert wird, ist diese Befürchtung durchaus berechtigt (Hier eine aktuelle Reportage aus Sachsen (Öffnet in neuem Fenster)). Aber die Impfpflicht nicht einzuführen, ist keine Strategie gegen Rechts. Und das Vertrauen, das eine funktionierende Impfkampagne braucht, baut man nicht mal eben in den letzten Tages des Jahres auf.
Die Frage des Impfens allein und wie die Pandemie irgendwann endemisch wird, wird die bereits bestehenden gesellschaftlichen Spannungen nicht auflösen. Diese Probleme sind größer, die Frage nach Vertrauen in Politik und Gesellschaft grundlegender. Wir sollten die Pandemie auch deswegen bald global überwinden, damit wir uns den anderen großen Gerechtigkeitsthemen widmen können. Die Pandemie durch späte Maßnahmen immer weiter zu verlängern, frisst auch die Zeit, die wir für ganz andere gesellschaftliche Fragen dringend brauchen.
Vorspulen können wäre jetzt wirklich schön, mindestens bis Mitte März. Winterschlafpflicht.
Bis dahin
Teresa
Auf Instagram poste ich als kleinen Adventskalender feministische Buchtipps (Öffnet in neuem Fenster).
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