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Bindungstoleranz: Ein irreführender Begriff

Ich kann mich noch gut an den heißen Sommertag im Jahr 2016 erinnern, als ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Gerichtsgebäude betrat. Ich war weder Angeklagte, noch Zeugin. Es handelte sich auch nicht um ein Strafgericht. Ich war vielmehr Mitarbeiterin eines Jugendamts und somit Beteiligte in einem familiengerichtlichen Verfahren. Das ist schon viele Jahre her und auch wenn ich mittlerweile einen anderen Job habe, komme ich regelmäßig mit dem Thema Familienrecht in Berührung. Denn: Familienrecht ist nicht nur Jurist*innen vorbehalten, sondern betrifft eben auch meine Profession, die Soziale Arbeit und Erziehungswissenschaft. Wenn auch in einer anderen Form und Rolle, das ist klar.

Im Zusammenhang mit familiengerichtlichen Verfahren begegnet uns der Begriff “Bindungstoleranz” immer wieder. Der Begriff und das dahinterstehende Konzept ist allerdings nicht auf die Bindungstheorie zurückzuführen - auch wenn das sehr naheliegend ist -, sondern kommt ursprünglich aus der Rechtspsychologie. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass getrenntlebende Eltern die Fähigkeit besitzen, die Bindung und Beziehung zum anderen Elternteil zu respektieren. Das setzt wiederum die Kompetenz voraus zwischen Paar- und Elternebene zu trennen.

Die gute Nachricht ist: Die meisten getrenntlebenden Eltern schaffen es weiterhin sich gut um die gemeinsamen Kinder zu kümmern. Diese Eltern brauchen dementsprechend auch kaum oder keine Unterstützung durch Beratungsstellen. Es gibt Eltern, die nach einer Trennung durchaus professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen. Das ist weder verwerflich, noch zeugt das auf Seiten der Eltern von Unfähigkeit. Denn: Beratungsstellen sind dafür da, um nach einer Trennung zu unterstützen und Eltern dabei zu helfen eine gute Lösung für alle zu finden.

Ein kleiner Anteil von getrenntlebenden Eltern scheint es jedoch nicht zu schaffen, selbst wenn sie an eine Beratungsstelle angebunden sind, eine (gute) Lösung für die gemeinsamen Kinder zu finden. Fachkräfte sprechen von sogenannten “hochstrittigen Eltern”. In solchen Fällen kommt es in der Regel zu einem familiengerichtlichen Verfahren, bei dem das Umgangs- und / oder Sorgerecht bei Gericht verhandelt werden soll. In jenen Verfahren geht es immer wieder darum, ob Eltern die Fähigkeit der Bindungstoleranz gegenüber dem getrenntlebenden Elternteil besitzen. Das ist eine zentrale Frage und kann entscheidend dafür sein, wie ein späterer Beschluss durch das Familiengericht ausfällt.

An dieser Stelle könnte man schlussfolgern, dass die Frage nach der Bindungstoleranz gerechtfertigt ist und dass auf dieser Basis eine gerechte Entscheidung, im Sinne des Kindeswohls, getroffen werden kann. Aber so einfach ist die Sache leider nicht. Denn: Auch wenn das Konzept der Bindungstoleranz logisch und bindungsorientiert klingt, steht es gleichzeitig auf fachlicher Ebene immer wieder in der Kritik.

Eine Kritik ist zum Beispiel, dass eine künstliche Trennung zwischen der Paar- und Elternebene erfolgt, auch dann wenn etwa (häusliche) Gewalt im Spiel war oder ist. Viele Fachkräfte vertreten die Ansicht, dass Väter, die gegenüber ihren Partnerinnen gewalttätig waren oder sind, trotzdem eine gute Beziehung zu ihren Kindern haben können. Dass sie zwar Gewalt gegenüber der Mutter ausüben, aber gegenüber ihren Kindern ja schließlich nicht. Genau deshalb müsse man den Kindern nach einer Trennung die Möglichkeit geben, den Kontakt zum Vater aufrechtzuerhalten. So zu denken und entsprechend zu handeln ist problematisch. Die Familienrechtsanwältin Asha Hedayati schreibt in ihrem 2023 erschienenen Buch “Die stille Gewalt” hierzu folgendes:

“Diese künstliche Trennung (und damit auch die Auffassung, dass Partnerschaftsgewalt das Kind nicht betreffe) führt dazu, dass sich weder das Gericht noch das Jugendamt mit der Frage beschäftigen müssen, ob ein Vater, der Gewalt gegen die Mutter ausübt, erziehungsfähig ist. Und wenn man sich dieser Frage nicht stellt, muss es auch keine Auflagen wie verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings oder Elternkurse für den gewalttätigen Expartner geben.”

Selbst wenn Vorwürfe im Raum stehen, dass der Vater gegenüber dem Kind gewalttätig war bzw. ist und die Mutter einen Umgangsausschluss beantragt, sprechen sich sowohl Fachkräfte, als auch Gerichte dennoch häufig für Umgänge aus. Asha Hedayati erklärt in ihrem Buch, warum das so ist: In solchen Fällen werde nämlich auf den Grundsatz der Unschuldsvermutung zurückgegriffen. Dieser sei zwar im Strafrecht relevant, aber nicht im Familienrecht. Das oberste Gebot bei Kindschaftsverfahren solle immer das Kindeswohl sein, weshalb es andere Maßstäbe brauche als im Strafrecht.

Ein anderer Grund, warum Umgänge mit Vätern grundsätzlich befürwortet werden, ist, dass noch immer die allgemeine Annahme besteht, Kinder brauchen für eine gesunde und positive Entwicklung zwingend beide (leibliche) Elternteile: Mutter und Vater. Doch aus der Bindungsforschung wissen wir, dass der entscheidende Faktor für eine gute Entwicklung weder am Geschlecht, noch an der Blutsverwandtschaft der Eltern festgemacht werden kann. Was Kinder brauchen sind sichere und gewaltfreie Beziehungen und Menschen, die sich verlässlich um sie kümmern.

Tatsächlich sind es vor allem Väter, die in Verfahren vor dem Familiengericht den Begriff der Bindungstoleranz verwenden, um damit klar zu machen, dass sie selbst bindungstolerant seien, jedoch bei den Müttern ihrer Kinder eine Bindungsintoleranz feststellen müssen. Häufig geht mit dem Vorwurf der Bindungsintoleranz eine weitere Annahme einher: Nämlich, dass die Mutter das Kind vor dem Vater “entfremde”.

Die sogenannte “Eltern-Kind-Entfremdung” (oder PAS = „Parental Alienation Syndrome”) besagt, dass ein Kind durch jene Person von der es hauptsächlich betreut und versorgt wird (meist die Mutter), negativ beeinflusst werde, mit dem Ziel der kompletten Ablehnung des umgangsberechtigten Elternteils (meist der Vater). Diese pseudowissenschaftliche Theorie geht auf Richard A. Gardner zurück und basiert auf keinerlei wissenschaftlicher Evidenz. In England und Kanada steht das unwissenschaftliche Konzept der “Eltern-Kind-Entfremdung” sogar unter Beweisverbot. Hierzulande stößt diese “Theorie” nach wie vor bei einigen Behörden, wie dem Jugendamt oder beim Familiengericht, auf Zuspruch und wird bei Entscheidungen mitberücksichtigt. Mit fatalen Folgen für Kinder. So werden Kinder gezwungen Umgänge wahrzunehmen, obwohl sie Angst haben und sich mitunter tatsächlichen Gefahren aussetzen.

Insbesondere Väterrechtsbewegungen haben sich das Konzept der Bindungstoleranz zu eigen gemacht und es ideologisch aufgeladen. Die Väterrechtsbewegungen sind ein Zusammenschluss von Vätern, die behaupten, dass sie in Umgangs- und Sorgerechtsverfahren generell die schlechteren Karten hätten. Die Akteure sind antifeministisch, lehnen progressive Entwicklungen ab und haben teilweise rechtsextreme Einstellungen.

Das Recherchezentrum CORRECTIV hat im September 2023 einen Artikel (Öffnet in neuem Fenster) veröffentlicht, der aufzeigt, wie gut Väterrechtsbewegungen in Politik und Justiz vernetzt sind und somit Einfluss auf politische Entscheidungen haben:

“Einige der Verbände sind vernetzt mit Fachleuten und organisieren Schulungen für Familienrichter, Verfahrensbeistände oder betroffene Väter, und sie propagieren Thesen, die Männer in Umgangs- und Sorgerechtsverfahren stärken und Frauen bei Vorwürfen von häuslicher Gewalt als Quertreiberinnen dastehen lassen. “

Ganz besonders die FDP gibt sich offen für die Thesen der Väterrechtsbewegungen und hat eine Forderung in ihr Programm aufgenommen. Nämlich das sogenannte Wechselmodell als Regelmodell nach einer Trennung festzulegen. Das Wechselmodell bedeutet, dass Kinder hälftig bei der Mutter und hälftig beim Vater leben.

Um das Wechselmodell umzusetzen, müssen Eltern in einem kontinuierlichen Kontakt miteinander sein und gemeinsame Absprache treffen. Zu bedenken ist: Selbst wenn Eltern diese Voraussetzung mitbringen, kann es sein, dass für dieses eine Kind, in dieser Entwicklungsphase das Wechselmodell gerade nicht dem Wohle seiner Entwicklung entspricht. Für ein Kind bedeutet ein solches Modell, dass es ständig zwischen zwei Lebensmittelpunkten hin-und herwechselt. Das ist nicht einfach und kann zu einer (emotionalen) Überforderung führen. Der Soziologe Jörg Maywald gibt in diesem Artikel (Öffnet in neuem Fenster) zu bedenken, dass es im Einzelfall gute Gründe für das jeweilige Kind braucht, um das Wechselmodell einzuführen. Denn ein Kind wie ein Besitz nach einer Trennung aufzuteilen, ist schon allein mit der UN-Kinderrechtskonvention nicht zu vereinbaren.

Selbstverständlich gibt es getrenntlebende Eltern, bei denen das Wechselmodell gut funktioniert. Es gibt Kinder, die mit dem Pendeln ihrer Lebensmittelpunkte wunderbar zurechtkommen. Aber: Das Wechselmodell als Standardmodell nach einer Trennung einzuführen, kann nicht die Lösung im Sinne des Kindeswohls sein.

Wir sehen: Die Sache mit der Bindungstoleranz ist am Ende sehr viel komplexer, als uns das Konzept zunächst suggeriert. Es ist wichtig zu wissen, dass der Begriff nicht aus der Bindungsforschung kommt und auch mit der Bindungstheorie an sich nichts zu tun hat. Und wir müssen uns klar machen, dass Väterrechtler das Konzept der Bindungstoleranz für ihre Ideologie instrumentalisieren, um misogyne und kinderfeindliche Strukturen zu legitimieren. Ihnen geht es nicht um das Wohl des Kindes, auch wenn sie es noch so häufig sagen. Ihnen geht es um Macht und darum das Patriarchat aufrechtzuerhalten.

Und jetzt? Was können wir tun? Wichtig ist, sich immer wieder bewusst zu machen, dass wir es bei Kindschaftsverfahren vor allem mit strukturellen Aspekten zu tun haben, auch wenn es bei jedem Verfahren um eine individuelle Familie oder um ein individuelles Kind geht. Und: Es braucht sowohl bei sozialpädagogischen Fachkräften, als auch bei Familienrichter*innen und Rechtsanwält*innen Wissen darüber, woher bestimmte Konzepte und Narrative kommen, um diese entsprechend einzuordnen.

Abschließend möchte ich noch zwei Dinge anmerken, um ein vollständiges Bild zu zeichnen.

Erstens: In diesem Text habe ich vor allem über Gewalt von Männern (Vätern) an Frauen (Müttern) gesprochen. Mir ist bewusst, dass es auch Männer gibt, die Gewalt durch Frauen erfahren. Dennoch handelt es sich bei Gewalt an Frauen eben um ein strukturelles Problem, denn jede vierte Frau ist mindestens einmal in ihrem Leben von Gewalt betroffen.

Zweitens: Ich weiß aus Gesprächen mit Familienrichter*innen und Rechtsanwält*innen, aber auch mit Fachkolleg*innen, dass sie genau diese strukturelle Ebene mitberücksichtigen und dass sie sich der Schwierigkeit des Konzeptes der Bindungstoleranz bewusst sind.

Vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast meinen Newsletter zu lesen. Bis zum nächsten Mal,

Sandra