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Medien, Mythen und Klassismus

Ich widme diesen März-Newsletter einem Thema, das uns alle - ganz besonders in der BO-Bubble - wiederkehrend beschäftigt und worüber ich bereits mehrere Instagram-Posts geschrieben habe. Denn: Innerhalb von kurzer Zeit sind jüngst zwei Artikel zu Bildschirmzeiten in der Kindheit erschienen: Einmal in der Zeit (Öffnet in neuem Fenster) und in der Süddeutschen Zeitung. (Öffnet in neuem Fenster) In der BO-Szene gab und gibt es Debatten darüber, was denn jetzt wirklich der “richtige” Umgang mit Medien sei.

Ich selbst werde immer mal wieder mit dem Vorwurf konfrontiert für einen zu lockeren Umgang mit Medien zu stehen und damit Eltern einen Freifahrtschein auszustellen. Vor allem dann, wenn es um die Altersspanne zwischen null und drei Jahren geht: Hier solle ich mich doch klar positionieren und den Empfehlungen der Kinderärzt*innen folgen. Diese heißt, keine Bildschirmmedien unter drei.

Die Initiative “Bildschirmfrei bis 3” wird tatsächlich von vielen Kinderärzt*innen unterstützt. In den U-Heftchen werden Signalaufkleber angebracht, um Eltern zu sensibilisieren, dass ihre Kinder null Bildschirmzeit bis zu ihrem dritten Lebensjahr auf ihrem Medienkonto verbuchen sollten. Klar können wir argumentieren, dass Kinder in diesem Alter Bildschirmzeiten nicht brauchen. Oder, dass es wichtig ist Kinder im Kleinkindalter nicht vor einem Bildschirm zu “parken” und sie stattdessen von echter Nähe und echter Kommunikation profitieren. Und in der Tat: Das stimmt.

Selbstverständlich sind die unmittelbaren Erfahrungen von Interaktion und Kommunikation für Kinder, gerade in den ersten Lebensjahren, wichtig. Und selbstverständlich sind Bindungspersonen für Kinder eine Überlebensgarantie, Bildschirmmedien dagegen nicht. All das ist richtig. Und doch sehe ich sowohl die Initiative “Bildschirmfrei bis 3” als auch die dahinterstehenden Empfehlungen kritisch.

Immer wieder werden alte Mythen ausgegraben, um Menschen zu verunsichern und Ängste zu schüren. Allen voran die Sorge, dass Kinder durch (zu viel) Medienkonsum in ihrer Entwicklung geschädigt werden. Diese Sorge hat es schon im 18. Jahrhundert gegeben: Damals hatte man die Befürchtung, dass durch das vermehrte Aufkommen von Literatur bei jungen Menschen eine Lesesucht entstehen könnte. Heute können wir darüber nur noch müde lächeln, denn Bücher gehören mittlerweile zu den “guten” Medien.

Klar können wir Bücher und Bildschirmmedien nicht eins zu eins vergleichen. Aber die Wirkmechanismen dahinter sind ähnlich: Das Aufkommen neuer Technologien und Medien war schon immer mit Ängsten behaftet. Vor allem die Angst, wie sich das Neue auf den Menschen und auf seine Entwicklung auswirkt. Gestern waren es noch Comics, die einer gesunden Entwicklung im Wege standen. Heute sind es Bildschirmmedien. Und immer werden all die Ängste mit scheinbar wissenschaftlichen Erkenntnissen untermauert. So schreibt der Autor des kürzlich erschienenen Zeit-Artikels (Öffnet in neuem Fenster): “Tatsächlich gilt der Zusammenhang zwischen Entwicklungsstörungen bei Kindern und übermäßigem Medienkonsum wissenschaftlich als gesichert.”

Dieser vermeintlich wissenschaftliche Zusammenhang wird auch von der Initiative “Bildschirmfrei bis 3” hergestellt. So werden auf der gleichnamigen Homepage (Öffnet in neuem Fenster) viele Gefahren, die angeblich von Bildschirmmedien ausgehen und auf die kindliche Entwicklung einwirken, aufgelistet. Unter anderem: Verhaltens- und Bindungsstörungen, Hyperaktivität, Lernprobleme, Übergewicht oder Aggressivität. Dass es sich hierbei vor allem um Korrelationen, statt um Kausalzusammenhänge handelt, wird jedoch nicht explizit erwähnt. Das ist aber wichtig. Denn wir könnten genauso sagen: Kinder, die eine Hyperaktivität aufweisen oder zu aggressivem Verhalten neigen, greifen häufiger zum Smartphone. Dann ist der Medienkonsum plötzlich nicht mehr die Ursache, sondern lediglich die Folge einer “Entwicklungsstörung”.

Gerade um den Zusammenhang von ADHS und Bildschirmmedien ranken sich viele Mythen. So wird immer wieder behauptet, dass Kinder aufgrund einer Medienflut eine ADHS entwickeln. Schließlich habe es noch nie so viele ADHS-Diagnosen gegeben wie in den letzten Jahren. Ich höre Sätze wie zum Beispiel: “Früher konnten sich Kinder viel besser konzentrieren. Heute ist die Aufmerksamkeitsspanne nicht mehr groß. Das ist ja kein Wunder, bei dem Medienkonsum heutzutage.” Solch populistische Sätze werden zum Teil auch von pädagogischen Fachkräften geäußert. Das ist meines Erachtens besonders tragisch, denn dadurch untermauern sie unwissenschaftliche Thesen und geben diesen eine Legitimation.

Auch die Initiative “Bildschirmfrei bis 3” stellt einen Zusammenhang zwischen Medienkonsum und ADHS her. Sie verweist auf ihrer Homepage (Öffnet in neuem Fenster) auf eine Quelle (Öffnet in neuem Fenster), die ihre These angeblich bestätigt. Dabei handelt es sich um einen wissenschaftlichen Artikel, der den aktuellen Forschungsstand zu diesem Thema prüft, um daraus Erkenntnisse zu formulieren. Liest man sich den Artikel durch, ist der Zusammenhang alles andere als klar und eindeutig. Ganz im Gegenteil: So schreiben die Autor*innen des Textes schon in der Einleitung, dass der Zusammenhang zwischen ADHS und das Konsumieren von Bildschirmmedien innerhalb der Forschung und Wissenschaft umstritten sei. Die Autor*innen des wissenschaftlichen Artikels kommen schließlich zu dem Schluss, dass es kaum möglich sei einen kausalen Zusammenhang zwischen ADHS und Medienkonsum herzustellen.

Der Entwicklungspsychologe Martin Dornes (1950-2021) zeigt in seinem 2012 erschienenen Buch Die Modernisierung der Seele auf, wie sich hierzulande eine kulturpessimistische Haltung in Bezug auf Medien und Technologie etabliert hat. Klischeevorstellungen von Kindern und Jugendlichen, die einsam zu Hause vor ihren Bildschirmen sitzen und keinerlei soziale Kontakte pflegen, werden wiederholt reproduziert. Vorstellungen von Kindern und Jugendlichen, die eine Online-Sucht entwickeln, sind weit verbreitet. Ich möchte damit nicht sagen, dass es all das nicht gibt. Online-Sucht und ihre Folgen müssen wir im Blick haben und ernst nehmen. Aber die meisten Kinder und Jugendliche verlieren nicht den Kontakt zur Realität. Selbst dann nicht, wenn sie in den Augen vieler Erwachsenen “zu viel” am Tablet hängen. Gleichzeitig kritisieren viele Medienpädagog*innen (Öffnet in neuem Fenster) den Begriff “digitale Mediensucht”, da er zu pauschal ist und man letztlich auch nichts damit anfangen könne.

Wie über Medienkonsum gedacht und wie damit umgegangen wird, hängt aber auch mit der sozialen Klassenzugehörigkeit zusammen. Es geht letztlich um vorhandene oder nicht vorhandene Privilegien und Ressourcen. Auch das müssen wir mitdenken und berücksichtigen. Denn unsere soziale Herkunft hat Folgen. Der Fachbegriff heißt Klassismus (Öffnet in neuem Fenster) und bedeutet, dass Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft Diskriminierung erfahren können. Sie entscheidet unter anderem über Bildungschancen, Gesundheit oder auch über materielle sowie kulturelle Zugänge.

Wenn wir uns die konkreten Empfehlungen und Aussagen der Initiative “Bildschirmfrei bis 3” anschauen, können wir durchaus einen Zusammenhang zwischen ihnen und einer klassistischen Perspektive herstellen. So wird die Empfehlung ausgesprochen den Fernseher aus dem Wohnbereich zu “entfernen” und ihn entweder in den Keller oder auf den Dachboden zu stellen. Eltern sollen schließlich ein Repertoire an “schönen Alternativangeboten” herstellen. Oder: Ältere Geschwisterkinder, die schon Bildschirmmedien nutzen, sollten sich in einem anderen Raum, fernab des Babys oder Kleinkindes, aufhalten.

All das hat insofern etwas mit Klassismus zu tun, dass die Grundannahme besteht, alle Eltern verfügen über genügend Wohnraum, Zeit und andere Ressourcen. Das ist nicht der Fall. Was ist mit jenen Familien, die von Armut bedroht oder betroffen sind? So gibt es viele, die mit ihren Kindern in kleinen und engen Wohnungen leben müssen und die weder über einen Keller, noch über einen Dachboden verfügen. Ruhe und Entspannung erfahren Eltern und Kinder oft erst dann, wenn der Zugang zu Bildschirmmedien ermöglicht wird. Das bedeutet nicht, dass das “gut” ist. Es bedeutet vielmehr, dass dies eine Möglichkeit darstellt, sich selbst als Eltern und Kinder in irgendeiner Form zu regulieren. Und bevor sich einzelne Familienmitglieder anschreien oder an die Gurgel gehen, sind Bildschirmmedien eine mögliche - und bessere - Alternative. Martin Dornes schreibt in seinem weiter oben genannten Buch (S. 123):

“Wenn bereits Zweijährige, wie heutzutage in den den Vereinigten Staaten üblich, täglich zwei Stunden vor dem Fernsehapparat verbringen (…), so ist das sicher nicht gesund, aber auch nicht ‘überstimulierender’ oder ‘traumatischer’, als wenn man sie wie früher zwei Stunden lang alleine schreien ließ, weil man der Auffassung war, ‘sie gingen mit den Lungen spazieren’, würden dadurch physisch gekräftigt und überdies psychisch abgehärtet. (…) Wahrscheinlich ist einsames Schreien sogar traumatischer als einsames Fernsehen.

An dieser Stelle kommt häufig der Einwand: Ja, aber “solche” Familien könnten ja einfach auch in die Natur gehen, einen Park oder einen Spielplatz aufsuchen. Sie könnten in die Bibliothek gehen und sich pädagogisch wertvolle Bücher ausleihen. Hierfür brauche man ja kein Geld. Diese und ähnliche Aussagen sind zutiefst klassistisch. Denn: Menschen, die von Klassismus betroffen sind, können all das nicht “einfach” machen. Von Klassismus betroffen zu sein geht meist mit einem starken Rückzug aus dem öffentlichen Leben einher. Dies hat unterschiedliche Gründe: Zum einen, weil Menschen aufgrund ihrer finanziellen Lage viele Zugänge verwehrt bleiben (z.B. Theater- und Kinobesuche, Konzerte oder andere Veranstaltungen). Zum anderen, weil sie sich für ihre Lebenssituation schämen.

Eltern und / oder Alleinerziehende stellen sich Fragen, wie zum Beispiel: “Kann ich meinen Kindern am Ende des Monats eine warme Mahlzeit anbieten?" Oder: “Kann ich die Kosten für den Klassenausflug meines Kindes aufbringen?” Viele Eltern verzichten selbst auf vollwertige Mahlzeiten, damit sie ihren Kindern Teilhabe am Schulausflug ermöglichen können. Klar gibt es Hilfsprogramme für “sozial schwache” Familien. Aber: Das ist eine große Hürde. Denn hierfür muss man offen legen, wie es um die eigene Lebenssituation bestellt ist. Man muss beweisen, dass man die zehn Euro für den Ausflug ins Museum oder Planetarium wirklich nicht aufbringen kann.

Wer im Alltag über viele Ressourcen und Privilegien verfügt, hat möglicherweise weniger Schwierigkeiten die Empfehlungen der Kinderärzt*innen von “Bildschirmfrei bis 3” zu folgen. Ja, man muss es sich auf so vielen Ebenen buchstäblich leisten können all die Anforderungen umzusetzen. Das bedeutet im Umkehrschluss natürlich nicht, dass Menschen, die von Klassismus betroffen sind, sich nicht angemessen um ihre Kinder kümmern. Oder, dass sie nicht fähig sind, sich über den Medienkonsum ihrer Kinder Gedanken zu machen und sie darin zu begleiten. Nur: Ihre Möglichkeiten sind in der Regel sehr viel begrenzter.

Ich finde es wichtig, dass wir das Thema Bildschirmmedien nicht nur einseitig betrachten. So viele Aspekte spielen eine Rolle und es ist niemandem gedient, wenn wir uns in zwei Lager spalten (lassen). Neben gesundheitlichen Risiken, die es sicherlich gibt, müssen wir eben auch gesellschaftliche und soziale Gegebenheiten in den Blick nehmen. So schreibt der Autor des SZ-Artikels (Öffnet in neuem Fenster) folgerichtig:

“Auch der Kontext ist entscheidend. Denn Kinder sehen ja nicht nur fern. Ob sie sich später gut entwickeln, hängt genauso davon ab, wie gesund sie sich ernähren, ob sie regelmäßig draußen spielen, ob ihnen vorgelesen wird. Und wie gut sich die Eltern um all das kümmern, hängt wiederum davon ab, ob sie dafür Zeit haben, ob sie gesund sind oder krank, oder ob beide viel arbeiten müssen, um ihre Familie durchzubringen. Kurz gesagt: Es besteht immer die Möglichkeit, dass es gar nicht Bildschirmzeit ist, die für Kinder ein Problem ist, sondern die Armut ihrer Eltern.”

Den eingangs erwähnten Vorwurf, ich würde Familien in Sachen Medienkonsum einen Freifahrtschein für ihre Kinder ausstellen, finde ich nicht ganz fair . Denn das tue ich nicht. Das kann ich auch gar nicht. Ich teile den Grundsatz: “Je jünger ein Kind, desto weniger Medienzeit”. Deshalb finde ich es wichtig, Eltern und andere Bezugspersonen darin zu unterstützen, wie sie Medienzeiten im Alltag gestalten können. Was gilt es zu beachten? Wie kann ich mein Kind gut durch die Medienwelt begleiten? Oder: Woran erkenne ich, ob mein Kind ein problematisches Medienverhalten an den Tag legt? Das sind wichtige Fragen, die sich viele Eltern oder pädagogische Fachkräfte immer wieder stellen. Aber: Familien und all jenen, die in pädagogischen Kontexten arbeiten ständig zu vermitteln, wie “böse” Bildschirmmedien seien, erachte ich aus fachlicher Perspektive für unangemessen. Mein Blick auf Familien ist niemals der mit einem erhobenen pädagogischen Zeigefinger. Das gilt eben auch in der Medienfrage.

Herzlichst, Sandra

Veranstaltungshinweis:

Wenn dich das Thema Medien interessiert, dann komm gerne zum Online-Vortrag im Rahmen des BFB-Instituts:

Am 23. Mai 2024 von 19:30 - 21:30 Uhr halt ich einen Vortrag: “Bildschirmmedien und Mythen: Warum wir entspannter sein dürfen”. Hier (Öffnet in neuem Fenster) bekommst du nähere Informationen.