(Wohlfühl)-Oase FC St. Pauli
Warum es nicht falsch ist, sich wohl zu fühlen und wie die Oase sogar zu einer neuen Utopie werden kann; zum Sehnsuchtsort für uns Supporter, den Verein vor allem unsere Spieler.
Die leeren Gesichter unserer Spieler, das mechanische Klatschen gen Fankurve, die Enttäuschung über das Ende eines Traums, den wir alle nun ausgeträumt haben, stand unseren Boys in Brown ins Gesicht geschrieben nach dem Abpfiff auf Schalke, der bei denen, die es mit Blau-weiss halten Explosionen der Freude verursachte, bei uns metallischen Geschmack im Mund.
Es ist völlig OK, enttäuscht zu sein. Bin ich auch.
Was nun?, fragt M. am Telefon als wir die Niederlage verarbeiten. “Die Täuschung annehmen” ist seine Antwort.
Der FC St. Pauli hat eine begeisternde Hinrunde über seine Verhältnisse gelebt, analysiert (Öffnet in neuem Fenster) auch der Millernton und nennt das “Überperformance”. “Das Team hat nicht nur die eigenen Erwartungen und auch die seiner Fans übertroffen, sondern auch das eigene Leistungsmaximum beständig ausgereizt”. Überreizt, würde ich ergänzen. Mit Vollzeug bei stärker werdendem Gegenwind, das geht aufs Material, so nennt man das beim Segeln. Wird der Druck aufgrund der vielen Segelfläche dann aufs Ruder zu groß, läuft die Yacht aus dem Ruder; im schlechtesten Fall schießt sie in die Sonne – die Wirkung verdreht sich ins Gegenteil. Das passiert beim Überpacen auch im Fußball, kann man nach dieser Saison sagen.
Diesem Teil der Analyse stimme ich zu. Dem zweiten Teil, da wo von “Wohlfühloase” und immer wieder von “Performance”, diesmal “Underperfomance” die Rede ist, widerspreche ich; das Wort löst bei mir schon Widerstand aus.
Warum? Weil die Analyse mir nicht tief genug geht. Mehr Performance ist nur durch mehr Budget machbar. Und das hat der FCSP nach zwei Corona-Saisons und dem verpassten Aufstieg einfach nicht.
Während die einen schon mutmaßen, dass wir den Stadionnamen verhökern müssen, um den Status quo zu halten, möchte ich alle “Performance-Apologeten” fragen: wo soll die herkommen?, die Performance? Ohne sich an den Kapitalmarkt zu verhuren, wie das Union mutmaßlich einst tat (bisher erfolgreich übrigens) oder sich einem Mäzen an den Hals werfen, was fast noch übler wäre (mit Beutemillionen aus dem 2. WK womöglich?).
Bei diesen Überlegungen kommt mir die Oase tatsächlich als erstrebenswertes Bild in den Sinn. Lasst uns doch mal überlegen, was das heissen könnte:
Sportchef/ Spielerauswahl: Der FC St. Pauli macht ja seit Bornemann (und schon mit Stöver) vieles richtig. Neben den Spielern, für die unser Klub ein Durchlauferhitzer der Karriere ist (was OK ist, wie im Fall von Kofi oder auch Marmoush, selbst beim Wappenküsser Zalazar), haben wir in den letzten Jahren Spieler ans Millerntor locken können, die nicht nur sportlich besonders sind, sondern auch kulturell zu uns passen: Jackson Irvine, bspw. aber auch Makienok wäre da zu nennen. Diese Spieler zu einem Profil zu formen, das weitere dieser Art anzieht, das wäre nun angesagt. Wer sich politisch mit St. Pauli engagiert, der bleibt vielleicht auch, wenn es aus Hoffenheim ein besseres Angebot gibt.
Gemeinschaft statt Gruppe: Die letzte Aufstiegsmannschaft des FC St. Pauli war eine eingeschworene Gemeinschaft. Ergänzt durch Spieler mit Potenzial, wie Ozcipka, war der Kern des Erfolges das Team-Gefüge derer, die sich jahrelang aus der Regionalliga nach oben gefightet haben. Auch Schulle war dabei – und blieb bis in die Bundesliga – da wurde keiner vergessen. Dass eben dieser Schulle von seinem Team als “Gruppe” spricht, macht mich hellhörig. Eine Gruppe ist kein Team. Höchste Zeit, das zu ändern.
Mehr Politik, mehr St. Pauli in das Profiteam: Der dünne Faden, den es aus der Fanschaft in die Profifußballmannschaft gibt, den wir jedes Heimspiel neu spinnen, droht zu reissen, wenn wir uns weiter “professionalisieren” uns der Perfomance unterwerfen. Nur in der 2. Liga, so mein Eindruck, gelingt es uns halbwegs, das, was St. Pauli ausmacht in die Kabine zumindest als Echo zu übertragen. Lasst uns daran arbeiten (siehe 1), dass wir mehr von ihnen auf Podien, vor dem Jolly oder auf Veranstaltungen der Fanszene sehen. In meiner Vorstellung von der Oase St. Pauli passiert das wieder, was Benny Adrion einst zu Viva Con Aqua (Öffnet in neuem Fenster) inspirierte. Vielleicht ja mit einem der jetzigen Boys in Brown?
Mehr Utopie: “Her mit der Utopie” stand auf einem T-Shirt, das Oke einmal auf einer gemeinsamen Auswärtsfahrt nach Bielefeld trug. Das taugt doch gerade jetzt als Leitspruch. Lasst uns darüber nachdenken, welche Modelle uns autarker machen können, von dem Wahnsinn, den DFL und DFB da veranstalten. Ich bin dabei!
Eine Oase am Millerntor, das ist für mich keine Beschreibung eines Mißstandes, der im Sinne von Erfolg beseitigt gehört. Für mich ist eine Oase positiv besetzt. Innen lustvoll singender Frieden und aussen die erbarmungslose Wüste Profifussball. Eine erstrebenswerte Utopie. Von der brauchen wir mehr. Weniger Performance!
Dieser Post ist im Original in meinem St. Pauli Blog (Öffnet in neuem Fenster) erschienen und wird morgen als Read-Out-Loud Podcast vertont ...
Titelfoto: Peter Böhmer / www.boehmer-fotografie.de (Öffnet in neuem Fenster) – mit freundlicher Genehmigung.