Zum Hauptinhalt springen

Game Studies: Computerrollenspiele - Entstehung & Kritik

Was denken Historiker, Soziologen, Philosophen und Kulturwissenschaftler über Spiele? Über was wird in den Game Studies diskutiert? Ich habe diese Reihe mit "Auf Abwegen - Folk horror, Videospiel und das Problem der Natur" von Daniel Illger begonnen. Mittlerweile gibt es dazu unter Berichte eine eigene Kategorie (Öffnet in neuem Fenster), in der alle Erkundungen und Podcasts über Game Studies einsortiert werden.

Diesmal geht es um ein Thema, das mich seit der Gründung von Spielvertiefung immer wieder beschäftigt: Computer-Rollenspiele (CRPG). Ich habe schon einige Artikel (siehe hier (Öffnet in neuem Fenster)) zur Geschichte von Dungeons & Dragons sowie den digitalen Anfängen geschrieben. Und genau darum geht es auch Manuel Günther in Computerrollenspiele - Ein Missbrauch von Forschungsgerät (Öffnet in neuem Fenster).

(Öffnet in neuem Fenster)

Er beschreibt in seinem lesenswerten Aufsatz zunächst das kulturhistorische Umfeld, in dem ein Spiel namens Dungeons & Dragons unter Studenten populär wurde, bevor man es an der Universität von Illinois in verblüffend kurzer Zeit, nach nur einem Jahr, digitalisierte:

"Die sozialen Milieus der USA, in denen diese Stift-und-Papier-Spiele ab 1974 betrieben werden, haben Kontakt zur Counterculture und bestehen überwiegend aus jungen Männern im Highschool-und College-Umfeld."

Diese so genannte Counterculture, die sich gegen das konservative gesellschaftliche Establishment richtete, entwickelte sich seit Ende der 60er Jahre sowie im Zuge des Vietnam-Krieges weltweit, vor allem in Europa und Europa. Das erste CRPG namens pedit5 wurde quasi heimlich und gegen den akademischen Forschungsauftrag am universitären Großrechner PLATO entwickelt:

"(...) pedit4 wurde das Handbuch zu seinem Computerspiel, pedit5 das eigentliche Programm – die Namen änderte er nicht wie üblich, um mit seiner unvorgesehenen Entwicklung nicht aufzufallen."

Aber diese ludologische Anarchie des Doktoranden Reginald »Rusty« Rutherford, der eigentlich Physik studierte, flog auch deshalb auf, weil das Spiel an der Uni immer beliebter wurde und natürlich (für damalige Verhältnisse) reichlich Speicherplatz benötigte. Pedit5 wurde mehrmals von der Universitätsleitung gelöscht und ist heute nicht mehr erhalten. Hier zieht Günther einen interessanten historischen Vergleich zur Radio-Unterhaltung:

"Keine Gottesdiener*innen, sondern realistische Systemadministrator*innen waren es also, die pedit5 als unangemessene Verwendung der Systemressourcen löschten. Wie vor jedem öffentlichen Rundfunk Radiomusik ein Missbrauch von Heeresgerät war, traten vor jeder Computerspielvermarktung Computerrollenspiele als ein Missbrauch von Forschungsgerät in die Welt."

Das ist dann ein kleiner Vorgeschmack auf die folgende Gesellschaftskritik. Denn nachdem Günther die weitere Geschichte der prototypischen Rollenspiele wie m199h, dnd, Oubliette, moria, avatar und Orthanc sowie Dungeon erläutert, und in einer Tour de force durch das komplette Genre über Neverwinter Nights und Diablo bis zu World of WarCraft und The Witcher 3 rast, wechselt er mit der Kommerzialisierung des Genres...

"Aus den rebellischen Studierendengrüppchen, die der Universitätsbürokratie Widerstand leisteten wie Fantasyheld*innen den Schergen unheimlicher Dungeons, war eine Industrie hervorgegangen, die zu den wirtschaftsstärksten in der Geschichte aller Wirtschaft zählte."

...die Perspektive auf die Entstehungsbedingungen sowie die Ausbeutung der Entwickler durch Crunch. Dabei gibt er konkrete Beispiele, sowohl von amerikanischen als auch deutschen Studios, dass Angestellte etwa schon zu Zeiten von Ultima VI von morgens bis mitternachts arbeiten mussten und nicht selten im Büro schliefen. Zudem sieht er eine Ironie der Geschichte:

"Der wiederkehrende Crunch, bei dem Entwickler*innen für kleiner werdende Stundenlöhne zunehmend ihre Lebenszeit aufgeben und ihre Körper ruinieren, obwohl es das Produkt nicht einmal besser macht, stellt eine betriebliche Internalisierung dieser Wirtschaftskrisen dar. Im gleichsam zunehmenden Maß wächst die Ironie, dass ausgerechnet diese Arbeiter*innen gerade damit die ansehnlichsten Fantasywelten – viel schöner als in pedit5 oder Neverwinter Nights – zur Schau bringen und Geschichten von Befreiungskämpfen erlebbar machen. (...) Die Politik des Spielverlaufs von pedit5, moria, avatar und all der anderen vor der Erstvermarktung bestand in einer konfrontativen Befreiung der Spielwelt von monströsen Bedrohungen, die – wie es schon Rutherfords Prolog zu pedit5 sagte – in Reichtum und Ruhm endet."

An Ende des Aufsatzes verweist Günther darauf, dass sich Entwickler heutzutage u.a. in Gewerkschaften und Projekten für bessere Arbeitsbedingungen organisieren können:

"Falls ein Ausweg beschritten wird, kann dieser nur nach vorn weisen. Held*innen suchen ihr eigenes Heil im Abenteuer, Scherg*innen gleichen sich im Gehorsam. Weil sie eine Welt zu gewinnen haben, können sich dagegen Entwickler*innen aller Länder zugunsten ihrer Software und mehr noch ihrem eigenen Wohl ein Beispiel an Ubifree, GWU, den Vodeo Workers United und der Game Workers Alliance in den USA nehmen."

Manuel Günther ist an der Berliner Humboldt-Universität u.a. in den Medienwissenschaften aktiv. Computerrollenspiele - Ein Missbrauch von Forschungsgerät (Öffnet in neuem Fenster) ist 2023 im frei verfügbaren Sammelband Politiken des (digitalen) Spiels - Transdisziplinäre Perspektiven (Öffnet in neuem Fenster) erschienen, übrigens herausgegeben von Tobias Unterhuber und Arno Görgen, den ihr vielleicht aus einem meiner Podcasts (Öffnet in neuem Fenster) und/oder als Autoren der GEE kennt.

Vielen Dank an alle Steady-Unterstützer (Öffnet in neuem Fenster), die dieses kleine Spiele-Magazin mit ihrem Abo (Öffnet in neuem Fenster) möglich machen. Es würde mich freuen, wenn ihr auch an Bord kommt!

Kategorie Erkundung

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Spielvertiefung und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden