Beten
von Mia
Ich bin bald sieben Jahre nüchtern und gehe immer noch in die Meetings. Oder besser gesagt, in ein Meeting, in meine Home Group. Genau wie die Nüchternheit selbst hat sich mein Ins-Meeting-Gehen von etwas, das um die Nüchternheit und Abhängigkeit kreist, zu etwas entwickelt, was mehr so mit dem ganzen Leben zu tun hat und all die Dinge behandelt, die meine eigene menschliche Erfahrung ausmachen.
Einmal in der Woche geht es um Liebe, Tod, das Schicksal und den Abwasch, den keiner machen will. Manchmal ist es lustig, manchmal albern, manchmal intensiv, manchmal lehrreich, meistens emotional. Jedes Meeting hat eine Stimmung. Ich habe mich hinterher noch nie schlechter gefühlt als vorher.
Ich überhöre den ganzen Blaues- und Grünes-Buch-Quatsch immer routiniert; es sind wirklich sehr alte Texte mit einem sehr fragwürdigen Frauenbild und einer seltsamen Auffassung von Sucht. Ich bin keine religiöse Person, ich kann mit wenigen biblischen Texten etwas anfangen — außer der Geschichte vom Sündenfall, die ich spektakulär gut finde, seitdem ich kapiert habe, dass Eva den Apfel gegessen hat, weil sie klüger sein wollte, diese großartige Irre! — aber diese Woche beim Meeting wurde ein Gebet vorgelesen, das wirklich was mit mir gemacht hat.
Weil es ein bisschen ein Gegengift zur neoliberalen Egozentriertheit der kapitalistischen Gesellschaft ist, ein Gegengift zur narzisstischen Emotions-Kapitalisierung auf sozialen Medien, ein Gegenentwurf zum permanenten Selbstbespiegeln, ein Gegenentwurf zu dem, was in den Kommentarspalten passiert, wo Leute sich den ganzen Tag einen drauf runterholen, moralisch besser zu sein als andere.
Der Text ist über 800 Jahre alt. Er ist ein ziemlich zeitloser Aufruf dazu, das einzige zu wollen, was zu wollen Sinn macht, in the long run: ein besserer Mensch zu werden. Mich hat er beruhigt und geerdet.
Gebet für den Frieden
Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens,
lass mich dort, wo Hass ist, Liebe bringen,
wo Ungerechtigkeit ist, Vergebung,
wo Streit ist, Versöhnung,
wo Irrtum ist, Wahrheit,
wo Zweifel ist, Vertrauen,
wo Verzweiflung ist, Hoffnung,
wo Dunkelheit ist, Licht,
wo Kummer ist, Freude.
Herr, lass mich danach streben,
nicht getröstet zu werden, sondern zu trösten,
nicht verstanden zu werden, sondern zu verstehen,
nicht geliebt zu werden, sondern zu lieben.
Denn wer gibt, der empfängt,
wer sich selbst vergisst, wird finden,
wer vergibt, dem wird vergeben,
und wer stirbt, erwacht zu ewigem Leben.
—
Franz von Assisi
🖤