Was ist Arbeit?
Der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann tritt bei Lanz auf und sagt: “(…) Niemand muss arbeiten, es gibt keinen Arbeitszwang in Deutschland. Aber es kann auch niemand erwarten, der arbeiten kann, dass andere, die jeden Tag arbeiten gehen, Sozialleistungen für sie bezahlen. (…) Wenn jemand arbeiten kann, warum soll er denn Geld bekommen von jemandem, der arbeiten geht.” Lanz fragt: “Der will nicht arbeiten, der geht nicht arbeiten, der macht es nicht. Wo lebt er dann? Was macht er?” Linnemann antwortet: “Der wird dann schon arbeiten gehen, weil er es muss”, und lächelt zynisch. Das kommt nur wenige Sekunden nachdem er sagte, es gäbe keinen Arbeitszwang in Deutschland.
Es gibt sehr wohl einen Arbeitszwang in Deutschland. Wer seine Grundbedürfnisse wie Nahrung, Trinkwasser, Schutz vor Kälte und Hitze erfüllen möchte, muss arbeiten, weil er sonst stirbt. Wer nicht arbeitet, aber tagein tagaus Geld von jenen bekommt, die arbeiten gehen, sind die Reichen. Reiche, Superreiche, mussten für ihr Geld übrigens nie arbeiten. Sie haben das Geld nämlich von ihren Eltern geerbt, die genauso wenig gearbeitet haben wie sie. Gearbeitet haben ihre Angestellte. Profit haben die Angestellten erzeugt, davon haben sie allerdings nie etwas gesehen. Die Reichen saßen. Sie aßen. Sie tranken. Sie porpelten. Vielleicht vögelten sie manchmal auch, was ich bezweifle. Was auch immer Superreiche machen, machten sie das. Aber gearbeitet haben sie keinen Tag in ihrem Leben.
Und trotzdem sollen wir glauben, dass die Löhne, die wir gegen unsere Arbeitskraft bekommen, fair seien, und wir dankbar sein sollten für diese Hungerslöhne, die nicht einmal für die Miete einer zentralen Wohnung reichen, die groß genug und nicht verschimmelt ist. Und wenn wir nicht dankbar sind und sagen: Nö, das mach ich nicht mit, ich habe meinen Körper und meinen Geist doch nicht auf der Straße gefunden, kommen Typen wie Linnemann um die Ecke und sagen: Aber warum solltest du dann Geld bekommen von denen, die täglich arbeiten gehen? Und tun so, als ob die Verhältnisse andersrum wären. Als ob arme Menschen eine Bürde und lästig seien, während es die Reichen sind, die sich die Erde nicht länger leisten kann. Das nennt sich Täterschutz. Die CDU ist eine Partei des Täterschutzes.
Was ist Arbeit? Arbeit ist eine Zwangssituation. Manche sind so privilegiert, dass sie eine Arbeit finden, die für sie wichtig ist, ihnen Freude bereitet, sie gerne machen. Das ist weltweit eine sehr kleine Minderheit, zu der auch ich gehöre. Das verschulde ich meiner Mutter, in deren Wohnung ich mietfrei wohnen darf. Hätte ich Miete zahlen müssen, müsste ich irgendeiner anderen Arbeit nachgehen müssen, denn die Gagen, die ich als Autorin bekomme, reichen aktuell nicht für die Bezahlung einer regelmäßigen Miete.
Wir sind ein typischer Aufstiegshaushalt, meine Mutter ist arm aufgewachsen und ich habe in meiner frühen Kindheit auch Armut erlebt. Allerdings liegt es für mich sehr weit zurück, ich erinnere mich wenig daran. Meine Großeltern kamen als sogenannte Gastarbeiter*innen nach Deutschland, meine Oma putzte und manchmal nahm sie ihre Töchter mit zur Arbeit, die mitarbeiteten. Auch meine Mutter. Dass sich die Situation innerhalb so kurzer Zeit geändert hat, sodass meine Mutter jetzt eine Eigentumswohnung hat, in der ich mietfrei leben darf und so als Autorin arbeiten kann, werden die kommenden Generationen nicht erleben. Die Zeiten sind vorbei, Kapitalismus funktioniert nicht länger. Warum erzähle ich jetzt meine eigene Geschichte? Darum:
Ich hatte vor ein paar Monaten eine Anfrage aus einer deutschen hippen Großstadt bekommen.
Ich habe darauf geantwortet, dass ich mich melde, wenn ich irgendwann einen Termin in der betreffenden Stadt habe. Und traf vor kurzem eine Terminvereinbarung für ebenjene Stadt und meldete mich bei der Person wie versprochen. Als ich dann aber nach den Rahmenbedingungen wie Honorar, Fahrt- und Übernachtungskosten fragte, bekam ich die untere Nachricht. Meine Antwort ist das mit dem blauen Hintergrund, die könnt ihr auf dem Screenshot ebenso lesen.
Das haben wir davon, dass die Arbeit als Leidenschaft und Tugend betrachtet wird, der man angeblich freiwillig nachgehen möchten muss. So sehr freiwillig, dass man dafür nicht einmal bezahlt werden möchte, selbst wenn die Arbeit für Reiche erledigt wird. Mann muss für die Gelegenheit, Arbeit zu erledigen, dankbar sein. Du sollst niemals verraten, dass unter- oder unbezahlt zu arbeiten dich erniedrigt, entmenschlicht und an deiner Menschenwürde verletzt. Sonst kannst du mit solchen Reaktionen rechnen. Auch hier ist meine Antwort die mit dem blauen Hintergrund:
Warum habe ich oben meine Familiengeschichte geschildert, könnt ihr euch jetzt vielleicht vorstellen. Dieser Kreis aus reichen weißen Frauen ist nicht im selben Bundesland, aber wenn er es wäre, bestünde die Wahrscheinlichkeit, dass meine Oma bei deren Oma, meine Mutter bei deren Mutter, die Toiletten geschrubbt hätte. Und ich soll bei ihnen antanzen und die patriarchalen Toiletten schrubben – damit sie sich an dem gemütlichen Abend mit Weißwein im Altbau-Wohnzimmer richtig wohlfühlen können, weil sie uns Kanaken zu sich nach Hause einladen und uns zuhören – nicht unterbezahlt wie es meine Oma und Mutter mal gemacht haben, sondern gänzlich unbezahlt, komplett unentgeltlich. Denn offensichtlich machten das auch schon andere und die haben sogar was dabei gelernt, also eigentlich kann ich ja nur davon profitieren. Und wenn ich unbedingt Geld haben möchte, hier, ein 20-Euro-Schein. Später könne ich dann auch noch bei ihr schlafen. Wie großzügig.
Sag mal Deutschland, geht’s noch? GEHT ES NOCH?
Also ich bekomme nicht selten unsinnige Anfragen, die kommen aber am häufigsten von Öffentlich-Rechtlichen für unnötige Youtube-Formate, für die ich mich auf Diskussionen einlassen muss, die mein Existenzrecht (oder das von anderen mehrfach marginalisierten Gruppen) zur Debatte öffnen. An Anfragen, die für mich nicht infrage kommen, fehlt es nicht. Und trotzdem wurde ich bisher noch nie so respektlos behandelt – okay, die Personen sind ja auch keine Profis, kann man jetzt vielleicht denken. Aber sie sind Menschen. Und wenn sie jemand so behandeln sollte wie sie mich behandelten, wüssten sie sofort, wie sie das einzuordnen haben.
Arbeit ist Arbeit. Arbeit ist keine Tugend, sondern eine Notwendigkeit, inzwischen ein Zwang. Falls du dich für weitere meiner Gedanken über unsere Arbeitskultur interessiert, kannst du mein Buch “Weißen Feminismus canceln” bestellen (Öffnet in neuem Fenster). Da widme ich dem Thema ein ganzes Kapitel.
Meine Arbeit kannst du gerne auch mit einer Mitgliedschaft für ab 3 Euro im Monat auf Patreon (Öffnet in neuem Fenster) oder Steady (Öffnet in neuem Fenster) unterstützen. Danke!
Bis August liebe Grüße
Sibel Schick