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Hallo alle,

diesen Newsletter gebe ich seit März 2020 heraus. Seit Anfang an war mir klar, dass ich diesen Raum nicht nur für mich nutzen möchte. Ich will den Platz mit anderen teilen. Das ist für mich praktische Solidarität, und wenn ich das so sage und meine eigene Arbeit lobe klingt das vielleicht nicht ganz cool oder möchtegern heldenhaft, lol, aber genau das müsste eigentlich selbstverständlich sein. Ist es leider nicht. Und es gibt politische Gründe dafür, dass Menschen nicht solidarisch sind. Oder nur solidarisch mit ihrer eigenen Clique sind, was eben nicht solidarisch sein kann, weil Cliquen über Ausschlüsse funktionieren und nicht über Inklusion.

Im September dieses Jahres machte ich zum ersten Mal einen Open Call für Kolumnenideen, für Texte also, die hier in dem Newsletter „Saure Zeiten“ erscheinen sollen. Bis dahin bin immer ich auf Menschen, deren Ideen ich spannend fand, zugegangen. Dabei hatte ich permanent die Sorge, dass ich viele Perspektiven übersehe, weil ich schlicht keinen Zugang zu ihnen hätte. Wir alle leben schließlich in unserer eigenen Bubble. Durch den Open Call hatten andere, die ich eventuell übersehen hätte, die Gelegenheit auf mich zuzukommen. Ich habe viele Mails bekommen und habe mich über jede einzelne gefreut.

Nachdem ich mich im selben Monat erkrankt habe, dauerte es sehr lange, bis ich alle Emails durcharbeiten konnte, aber ich bin endlich fertig. Also, mit den Mails, nicht mit den Texten :) Hiermit möchte ich daher die erfreuliche Nachricht teilen, dass ich ab jetzt anfangen werde, die bisher eingereichten Kolumnen zu veröffentlichen.

Angefangen wird mit einem spannenden Text von Loubna Khaddaj über eine der vielen Erscheinungsformen kapitalistischer Konkurrenzgedanken unter Menschen, die von Rassismus betroffen sind. Diese werden von dem System gegeneinander ausgespielt, damit sie immer im Wettbewerb bleiben für ein Stück von der Torte. Aber was, wenn die Betroffenen dieses ausbeuterischen, gewaltvollen Systems genau diesen Wettbewerb selbst verinnerlichen, es mitspielen und das für sie als Ausrede dient, die eigene Macht gegen andere Betroffene zu missbrauchen? Davon handelt Loubnas Text, den ich sehr erhellend fand. Ich hoffe, dass er euch genauso viele Denkanstöße liefert wie mir.

Saure Zeiten erscheint monatlich und ist kostenlos abrufbar wie abonnierbar. Die Arbeit kostet allerdings Geld und Zeit. Du kannst mich mit 9€/Monat unterstützen. Bei einer Jahresmitgliedschaft bekommst du 10% Rabatt. Als Dankeschön sende ich dir mein Leseheft „Deutschland schaff‘ ich ab. Ein Kartoffelgericht“ mit Widmung.

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Danke und liebe Grüße
Sibel Schick

Was hast du immer in der Tasche dabei?
Die üblichen Sachen wie Portemonnaie, Handy, Schlüssel… und ein Taschenmesser. Eine zeitlang hatte ich immer so eine Minirolle Gaffatape dabei, die hab ich irgendwann verloren, aber das war sehr praktisch für alle möglichen Lebenslagen.

Hast du ein Kleidungsstück, das eine besondere Bedeutung hat?
Einen Pullover, den meine Oma gestrickt hat. Ich würde ihn am liebsten jeden Tag im Winter tragen, aber versuche ihn zu schonen, damit er lange hält. Und eine Fellweste, die mir mein Opa aus Polen mitgebracht hat. Und, ganz neu: Neulich habe ich mit einem Freund über Schals geredet und er hat mir erklärt, dass man unbedingt einen Kaschmirschal haben sollte, und ich war so…: Aha? Hab ich nicht, ich hab nur so billige… und dann hat er mir einen von seinen geschenkt.

Was ist dein Lieblingsduft und warum?
Mittags aufwachen und riechen, dass es Shakshuka gibt. Weil: bestes Frühstück! Und außerdem: im Spätsommer Holundersaft kochen in einem riesigen Topf und dann riecht das ganze Haus danach. Oder meintest du Parfum? Nee keine Werbung hier. Wobei… billiges Waschmittel, so das billigste ausm Discounter, liebe das.

Keine Opfer?

Von Loubna Khaddaj

„Wir sind hier in Deutschland“, diesen Satz habe ich schon oft gehört. Es ist auch gleich, wann, wo und von wem er mir gesagt wird. Er klingt immer von oben herab, zurechtweisend, verständnislos. Keine Sorge – ich weiß, wo wir sind. Das System und die Strukturen verdeutlichen mir meinen Standort und meine Position darin immer wieder. Allerdings bekommt dieser Satz nach den Bundestagswahlen noch einen viel bitteren Beigeschmack, er ist dann eine Art aggressive Drohung, wenn mensch bedenkt, welche Parteien vermehrt an Zuwachs bekommen.

Vor kurzem erlebte ich eine schwierige und für mich neue Situation. Ich unterhielt mich mit einem sehr guten Bekannten. Wir kennen uns seit sehr vielen Jahren, unsere Familien kennen sich. Wir beide haben einen sogenannten „Migrationshintergrund“, soll bedeuten, dass wir beide Rassismuserfahrungen machen. Die relativ ruhige Unterhaltung änderte sich schlagartig als wir anfingen, über die damals noch kommenden Bundestagswahlen zu sprechen. Mein Bekannter sagte, dass er die AfD wählen würde. Seiner Meinung nach habe Deutschland schon genug Menschen aufgenommen. Er wisse auch gar nicht, ob diese Menschen wirklich Schutz bräuchten oder sich hier nur ein „bequemeres“ Leben erhofften. Das hat er ernst gemeint. Ich war total schockiert. Es folgte eine heftige Diskussion, die mich lange beschäftigt hat. Viele Fragen kamen mir in den Sinn: Wie kann es sein, dass Menschen ihre eigenen Rassismuserfahrungen verdrängen und genauso wie weiße Menschen argumentieren? Warum spielen wir BIPOC* uns gegenseitig aus und was könnte dahinter stecken?

Dieser Text wird keine genauen Antworten auf meine Fragen geben. Es ist eher ein Versuch, über die Strukturen nachzudenken, die dieses Verhalten begünstigen oder eventuell sogar fördern. Zum einen ist es meiner Meinung nach eine Art Bewältigungsstrategie, welche sich in zwei Kategorien einteilen lässt: Das Streben nach Anerkennung und Verdrängung. In der Hoffnung endlich in das „deutsche Wir“ aufgenommen zu werden, lernen wir früh, uns anzupassen. Wir wollen zeigen, dass wir „integriert“ sind, was auch immer das heißen mag. So distanzieren wir uns dann von „all den anderen“, die sich ja nicht mal bemühen, die Sprache etc. zu lernen. Das führt dazu, dass wir verdrängen, was uns alles widerfährt bzw. spielen es herunter. So nach dem Motto: „So schlimm ist es mir nie ergangen“ oder „ich muss mich halt mehr anstrengen.“ Denn wir sind keine Opfer.

Zum anderen spielt hier auch eine Form des Klassismus eine Rolle, die auch der betroffenen Person die Schuld gibt, anstatt das System zu hinterfragen. Wie oft wird uns gesagt, dass jede Person hier die gleichen Chancen hätte und alles erreichen könne, nur wenn der Wille da ist? Schließlich lebt der Klassismus u.a. von der Idee der „Aufsteiger*innen“, die es trotz aller Schwierigkeiten doch geschafft hätten aus ihrem „Elend“ herauszukommen. Es sei also möglich, wenn mensch nur will. Aha!

Rassismus und Klassismus werden internalisiert, und sie beeinflussen einander. Es ist schließlich im Sinne des Systems, uns gegeneinander auszuspielen. So wird das Gefühl vermittelt, dass es „normal“ sei, um Privilegien zu kämpfen bzw. sie erst „verdient werden“ müssten. Damit es gerechtfertigt erscheint, dass es Benachteiligungen gibt. Das lässt das Gefühl entstehen, dass alle Opfer, die ich aufbringen muss, legitim seien, wenn ich nur dazugehören will – nur so verdiene ich es. Manche anderen müssen auch Opfer aufbringen für ihre Privilegien. Es wird eine Art „IN Group“ und „OUT Group“ geformt: Diese Gruppen sind variabel und ändern sich schnell. Mal gehöre ich zu dem weißen deutschen Wir und mal nicht. Diese Unsicherheit führt dazu, dass ich ständig davon bedroht bin ausgeschlossen zu werden, dazugehören will und mich beweisen muss. Ein ständiges Absichern und Abwägen.

Da soll mich nochmal jemand daran erinnern, dass wir hier in Deutschland sind.

Loubna Khaddaj (Öffnet in neuem Fenster) ist 36 Jahre alt und lebt in Bremen. Sie hat Kultur- und Erziehungswissenschaften an der Universität Bremen studiert. Beruflich leitet sie eine stationäre Jugendhilfeeinrichtung. Sie beschäftigt sich mit sozialer Ungleichheit, Rassismus und anderen Diskriminierungsformen. Auf Instagram postet Loubna unter @igloubna1 (Öffnet in neuem Fenster).

* BIPOC: Black Indigenous People of Color. Sammelbegriff, politische Selbstbezeichnung jener Menschen, die Rassismus ausgesetzt werden bzw. eine marginalisierte Perspektive haben.

Deine Straße – Güzin Kar

„Andere in deinem Alter bekommen Fahrräder oder Puppenstuben. Du hast eine Straße, nur weil du tot bist.”

Das US-amerikanische Magazin THE NEWYORKER hat den Kurzfilm der Schweizer Drehbuchautorin und Regisseurin Güzin Kar (Öffnet in neuem Fenster) gekauft und zeigt ihn kostenlos auf seiner Website (Öffnet in neuem Fenster). Der Film handelt von dem neonazistischen Mordanschlag in Solingen 1993 und der Saime-Genç-Straße.

Support Your Sisters not Your Cisters – FaulenzA. Mit Illustrationen von Yori Gagarim (Öffnet in neuem Fenster)

„Wenn du arm bist, hast du weniger Chancen auf Passing, und wenn du kein Passing hast, hast du weniger Chancen auf eine gute Arbeit.”

Rapperin und Autorin Faulenza (Öffnet in neuem Fenster) erklärt in fünf Kapiteln wie die Diskriminierung von Trans*Weiblichkeiten funktioniert und wie diese zur Erscheinung tritt. In einem letzten sechsten Kapitel finden wir klare Lösungsansätze. Die Sprache ist sehr zugänglich. Keine verschachtelten Sätze, und Begriffe werden erklärt.

144 Seiten, 10 Euro. Erhältlich bei Edition Assemblage (Öffnet in neuem Fenster).

Newsletter von Hêlîn Dirik

Abonniert den intersektional feministischen Deng-Newsletter: https://deng.mailchimpsites.com (Öffnet in neuem Fenster)

Newsletter von Thị Minh Huyền Nguyễn

Abonniert ebenso den Newsletter Gold to Green: https://www.instagram.com/goldtogreen/ (Öffnet in neuem Fenster)

Netflix-Special von Nicole Byer

„Truly, I think JKKKK Rowling was sitting in that coffee shop, taking a break from writing and hating Trans people. It's a full time job. And she was perusing the internet and she was just like, ohhh, the KKK, oh that seems awful but also whimsical!"

Nicole Byer hat einen neuen Netflix Comedy Special: BBW (Black Beautiful Weirdo). Und es ist wunderbar! Wer Netflix hat, soll unbedingt schauen.

Beyond the Gender Binary – Alok Vaid-Menon

„The thing about shame is that it eats you until it fully consumes you. Then you cannot tell the difference between their shame and your own – between a body and an apology.”

Der texanische Republikaner Matt Krause möchte Alok Vaid-Menons Buch in texanischen Schulen verbieten, auch The New York Times berichtete (Öffnet in neuem Fenster). „As a trans person who grew up in Texan public education this is personal for me”, schreibt Alok im Newsletter (Öffnet in neuem Fenster). „As a young person (…) I was made to feel like I was the problem, not society’s reductive gender norms. I wrote this book because I wanted people to experience possibility, not policing. As a beacon of hope in a world that can be so cruel.”

Jetzt ersteigert Alok, um Bücher an LGBTIQ+-Organisationen und Bibliotheken zu schenken. Wenn du das Buch kaufen möchtest, kannst du es bei der Buchhandlung deines Vertrauens bestellen.

Forsa - mor ve ötesi (Single)

https://open.spotify.com/track/0hItWVe3JLff1yDdfJaIRq?si=37c2f2c060cb4623 (Öffnet in neuem Fenster)

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Sibel Schick

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