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Die Serie "Stranger Things" ist für mich eine der süßesten Serien, die es gibt. Vor allem dieses Jahr beim Rewatch musste ich ganz häufig "Süüüüüß!" rufen und mich an vieler Stelle über die sehr jungen Protagonist*innen freuen.

"Stranger Things" zu schauen ist aber teilweise auch etwas schwierig, vor allem wenn man sich ungern ansieht, wie Kinder leiden. Bei der zweiten Staffel zum Beispiel, litt ich so sehr mit Will, dass ich ausnahmslos in jeder Folge für ihn mindestens ein paar Tränen geweint habe.

Es gibt viele Lesarten für die Popkultur und auch "Stranger Things" bietet viel Stoff. Die Serie wurde bisher zurecht wegen toxischer Männlichkeit, Sexismus und Rassismus kritisiert. Ich finde allerdings, dass in der vierten Staffel großes Potenzial steckt, auch wenn man gewisse Dinge kritisch betrachten könnte (wann kann man es schon nicht?). Heute möchte ich über Max Mayfield und ihren Storyline in der vierten Staffel nachdenken.

Wenn du "Stranger Things", insbesondere die vierte Staffel, noch nicht gesehen hast: Ab hier gibt es Spoiler.

Screenshot aus der großartigen Szene, die den Kate Bush Song "Running Up That Hill" aus 1985 dieses Jahr erneut in die Charts brachte. Wichtiger Popkultur-Moment – nicht nur der Song, sondern auch dessen Inhalt wird thematisch in die Szene eingebaut. Staffel 4, Folge 4 "Dear Billy", Schlussszene. GIF aus Tumblr. (Öffnet in neuem Fenster)

Max, gespielt von Sadie Sink, kennen wir seit ihrer Einführung in der zweiten Staffel. Max lebt mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und seinem Sohn Billy zusammen. Ihr Stiefbruder Billy, einige Jahre älter als Max, ist gewalttätig, quält und mobbt Max und sorgt permanent für Anspannung und Stress.

Billy wird in der dritten Staffel von "Mind Flayer" besessen und gestreuert. Wenn er Eleven dem Mind Flayer ausliefern will, kann El auf seine Gedanken und Erinnerungen zugreifen und erreicht Billy durch den Mind Flayer durch. Im letzten Moment macht Billy das Richtige: Er leistet Widerstand gegen den Mind Flayer und wird dafür getötet.

Max muss in der vierten Staffel aufarbeiten, dass sie Zeugin von Billys brutaler Tötung wurde. Vor allem muss sie sich damit herumschlagen, sich so lange gewünscht zu haben, dass Billy tot wäre – und er jetzt wirklich tot ist. Max ist überwältigt von Schuldgefühlen und zutiefst traumatisiert, was sie anfällig für einen Angriff durch Vecna macht. Vecna tötet nämlich zuerst einmal traumatisierte Jugendliche. Genauso kommt es auch – Max zeigt Symptome, dass sie von Vecna gejagt wird.

Max glaubt, Vecna entkommen zu können, wenn sie ein letztes Mal mit Billy sprechen und ihm ihre Gefühle und Gedanken erklären könnte. Sie schreibt Billy einen Brief und liest ihn an seinem Grab laut vor. In diesem vulnerablen Moment wird Max von Vecna angegriffen. Kurz bevor sie getötet worden wäre, kann sie Dank Kate Bushs Song "Running Up That Hill" fliehen.

Womit Max zu kämpfen hat ist also nicht nur das Trauma, zusehen zu müssen, während Billy getötet wurde, sondern auch der Kampf, den sie gegen sich selbst führt: Billy opferte sein Leben für Max, El und andere – wo gehört jetzt seine jahrelange Gewalt gegen Max und andere hin? War Billy gestorben, weil Max sich das so lange und so hart gewünscht hatte? Wie sollte sie sich jetzt fühlen – traurig oder erleichtert? Funktionieren Schuld- und Erleichterungsgefühle gleichzeitig? Ist es richtig, Erleichterung zu empfinden, wenn der Abuser in deinem Leben endlich stirbt und du ihm los bist? Oder macht dich das zu einem schlechten Menschen? Dieser innere Kampf bedeutet das Ende der Welt für Max, ihre Apokalypse, ihr Untergang. Und sie muss es schaffen sich aus diesem Loch rauszuholen, wenn sie überleben will.

Es ist nicht selten, dass Menschen, insbesondere junge Menschen oder Frauen, von Familienmitgliedern misshandelt und Gewalt ausgesetzt werden – Abuser sind am häufigsten Vertrauenspersonen der Betroffenen. Der Tod von Täter*innen kann daher widersprüchliche Gefühle in Betroffenen auslösen.

Diese Widersprüche können für jene Menschen, die noch nie in der Situation waren, zuerst einmal unverständlich sein. Man kann denken, dass man sich doch freuen könnte, wenn Täter*innen sterben und die Betroffene endlich in Sicherheit ist. Allerdings werden wir unser gesamtes Leben lang konditioniert, nach einem Tod zu trauern. Wenn wir schon nicht trauern, so dürfen wir uns auch nicht über den Tod eines Menschen freuen oder andere positiven Gefühle empfinden – vor allem wenn der Täter der eigene Bruder oder Vater oder ein anderes Familienmitglied ist. Das verhindert, dass Betroffene von Gewalt und Misshandlungen Erleichterung empfinden können, und führt dazu, dass sie sich unmoralisch vorkommen, wenn sie Erleichterung oder Freude empfinden.

Zudem soll der Tod von Täter*innen aufgrund besonderer Täter*innen-Opfer-Dynamiken nicht gleich Freude oder Erleichterung auslösen müssen. "Like a superhero is never without a nemesis to fight, an abuser can feel integral to your identity. Once that threat is suddenly removed, instead of feeling relieved you might feel lost, empty, angry, and in disbelief", schreibt eine anonyme Überlebende auf der Website der NGO "Reign Collective" (Öffnet in neuem Fenster), gegründet von und für Betroffene sexueller Ausbeutung der Kinder. Die Person fährt fort:

"Death humanised my abuser in a way my own mind never could and I was forced to see him as a fallible, mortal human, requiring me to reframe everything he had put me through. (...) The bonds formed in trauma are terribly hard to break. We work hard to overcome this conditioning and learn the abuse was not our fault but the death of the abuser can push our minds back to that old state and we feel responsible for the loss of life."

Auch Max Mayfield fühlt sich verantwortlich für Billys Tod. In ihrem Brief an ihm schreibt sie: "I play that moment back in my head all the time. And sometimes I imagine myself running to you, pulling you away. I imagine that if I had, that you would still be here. And everything would be right again."

Das ist natürlich Unsinn. Billy wurde von einem Monster mit übermenschlichen Fähigkeiten getötet. Hätte sie versucht Billy zu retten, wären sie beide gestorben. Dennoch hat sie das Gefühl, dass sie dann eine zweite Chance für ein besseres Miteinander hätten: "I imagine that we could’ve become friends. Good friends, like a real brother and sister. And I know that’s stupid. You hated me. I hated you. But I thought that maybe we could try again."

Screenshot

Nicht nur nach dem Tod von Täter*innen häuslicher Gewalt oder Misshandlungen an Kindern tabuisieren wir, dass offen und ehrlich über die Verbrechen des verstorbenen Menschen gesprochen wird. Nicht nur dann lehnen wir es gewaltvoll ab, Betroffenen zuzuhören. Wir tabuisieren, dass ein Mensch, der tot ist, überhaupt kritisch erwähnt wird. Zum Beispiel: Als der Modedesigner Karl Lagerfeld gestorben ist, wurden Menschen, die auf seine Misogynie und seinen Hass auf arme Menschen hinwiesen, auf Social Media gemaßregelt. Ich kann beim besten Willen das Bedürfnis, nach dem Tod eines Menschen so zu tun als ob er fehlerfrei und absolut unschuldig gewesen wäre, was kein Mensch ja ist, nicht verstehen. Warum wird es vor allem von Betroffenen erwartet zu verzeihen und zu vergessen und zu schweigen, nur weil Täter*in starb?

Der Umgang mit Gewalt bleibt ein komplexes Thema. Wie wir als Gesellschaft mit dem Tod umgehen, verhindert unter Umständen die Aufarbeitung, die Herstellung von Gerechtigkeit und die Heilung von Betroffenen. Das heißt indem wir so tun als würden wir die Würde eines verstorbenen Menschen schützen, schaden wir Lebenden. Ich wünsche mir, dass wir einen Umgang mit dem Tod finden, sodass unsere "Werte" Betroffene nicht erneut betroffen machen. Ich wünsche mir Aufarbeitung für Betroffene, unabhängig davon, ob die Täter*innen leben oder tot sind. Und, sofern dies überhaupt möglich ist, wünsche ich Betroffenen Heilung.

Macht's gut und alles Liebe
Sibel Schick

Diese Ausgabe erscheint ohne Kolumne und Empfehlungen wegen Zeitmangel.

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