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Der Hotelschlüssel

Ich verstehe, warum Leute das denken. So oft wie er „Scheiße gelaufen!“ ruft, gerade wenn was schief geht. Aber eigentlich ist Darius kein Arschloch. Er ist einfach siebzehn. Er kann nicht anders.

Sein Hoody passt schon seit Wochen nicht mehr über seinen Afro und das macht es irgendwie noch schlimmer. Ich meine, ganz ehrlich – warum glauben Fremde, es wäre okay, direkt da reinzugrabschen? Wir sind doch nicht im Streichelzoo? Darum hat Darius meistens Kopfhörer an und tut, als bekäme er nichts mit. Aber falls irgendwelche Opas ihn doch ansprechen, klappt die Sache mit dem Kaugummi eigentlich immer. Das Wenige, was von ihm dann kommt, bleibt erst so lange an der Zunge kleben, dass sie ihn doch irgendwann einfach in Ruhe lassen.

Auch darum war die Zugfahrt bis dahin so gechillt. Obwohl ich seit Stunden immer wieder suchte: In meiner Jackentasche, nochmal in beiden Hosentaschen, in meinem Geldbeutel. Mein Rucksack hatte ich schon dreimal aus- und wieder eingepackt. Nichts, nichts, nichts. Ich glaube, Darius wusste ganz genau wo den Schlüssel war, aber wenn ich ihm direkt gefragt hätte, wäre es, wie meine Deutschlehrerin so oft sagt, „unnötig eskaliert“.

Wir hatten uns das ganze Wochenende zusammengerissen: die neunstündige Bahnfahrt nach Amsterdam am Freitag; der verpeilte Taxifahrer, der unsere Gruppe beim falschen Hotel absetzte; mein gestohlenes Handy am Samstagmorgen; der unnormal teure Eintritt in den Club am Abend; mein brummender Schädel heute Morgen; die fiesen Witze deswegen beim Frühstück. Die ganze Zeit bin ich stabil geblieben. Die letzten paar Kilometer nach Berlin würde ich auch noch hinkriegen.

Ich schielte meinen Bruder von der Seite her an. Er starrte gelangweilt aus dem Fenster und die Landschaft rollte an uns vorbei. Eine tiefgrüne Wiese nach der nächsten, hier und da einige Bäume und Kühe, ansonsten: Nichts, nichts, nichts. Seine Augen fielen immer wieder zu, aber nur eine oder zwei Sekunden lang. Ja, Darius war jünger als ich, aber gut drei Zentimeter größer. Deswegen dachten alle – obwohl es mein Geburtstag war –, dass er der Volljährige war. Das Amsterdam-Wochenende hätte echt geballert, wenn ich nicht immer der Einzige gewesen, der sich bei den Türstehern hätte ausweisen müssen.

„Scheiße gelaufen!“ hatte dann Darius jedes Mal geflüstert. Ungelogen. Jedes. Mal. Darum freute ich mich gerade, dass seine Beine zu lang waren, um bequem zu sitzen. Sogar mit seinem piefigen Nackenkissen um den Hals gewickelt, konnte er nicht einschlafen. Am liebsten wäre ich auch eingenickt, aber die Sache mit dem Schlüssel nervte hart. Wo war er denn? Ich schaute von Darius weg.

Links gegenüber schlief Lukas. Das was er hinter der Maske mit seiner Kehle hinkriegte, klang wie eine schlecht gespielte Trompete. Und neben ihm hatte Omar es wirklich geschafft, sich auf seinen Sitz zu legen. Er war so eingepackt in Jacken und Schals und Tücher, dass ich ihn kaum sehen konnte. Tiefschlaf. Selbst wenn ich sie hätte wecken können, würden sie nur Scheiße labern.

„Wo ist er denn?“, murmelte ich.

Darius drehte sich zu mir. Sein Blick, irgendwie gleichgültig und vorwurfsvoll zur gleichen Zeit, erinnerte mich an heute Morgen, beim Frühstück. Da hatte er genauso geguckt. Und das war auch das letzte Mal, als ich den Schlüssel gesehen habe. Auf den Tisch. Wie geht so was zwischen dem Aufessen und dem Auschecken verloren? Mein Französischlehrer würde sagen: „C'est incroyable!“

An der Rezeption waren sie nett gewesen, zum Glück. Ich habe es ihnen voll abgekauft, dass es ihnen leid tat, die fünfzig Euro als Bezahlung für einen Ersatzschlüssel von mir nehmen zu müssen. „Sobald Sie ihn finden“, lächelte die Person hinter dem Namensschild M. Merten, „können Sie ihn uns zusenden. Wir erstatten Ihnen selbstverständlich das Geld.“ Ich lächelte mit zusammengebissenen Zähnen zurück und überreichte den Schein.

Es schmerzte, als ich an das Geld dachte. Jetzt fehlte es mir mehr denn je. Die Familie am Nebentisch, gerade vom Speisewagen zurückgekehrt, nippte an heißer Schokolade und Kaffee. Das Kind mampfte fröhlich etwas, das wie ein Blaubeermuffin aussah. Sein Afro war sogar noch größer als der von Darius. Gerade wollte ich Darius davon erzählen, da sah ich, dass sie bereits miteinander Blickkontakt aufgenommen hatten. Darius lächelte! Das erste Mal seit Freitag! Ungelogen!

In Kürze würden wir die nächste Station erreichen. Ich dachte, Lukas wurde von der Lautstärke der Ansage geweckt. Aber als er sich streckte, meinte er nur: „Hmm... was riecht denn so lecker?“

Ich nickte in Richtung des Blaubeermuffins. Lukas schubste Omar wach und fragte mich, ob wir gleich essen gehen wollten. Ich verdrehte meine Augen, denn er wusste genau, dass ich pleite war. Sekunden später aber schaute er in seinem Portemonnaie hinein und grinste.

„Ich hab dich, Mann“, nickte er. Die Stimmung war gerettet. Bis sich seinen Gesichtsausdruck änderte.

„Ach du Scheiße ...“

„Was ist?“, fragte ich.

Ich glaubte meinen Augen kaum, als Lukas mit dem Hotelschlüssel rausruckte.

„Was zur ...?“

 „Sorry, Mann“, flüsterte er und schob ihn über den Tisch zu mir. Um uns herum fingen die Leute an sich die Jacken anzuziehen und Laptops wegzupacken.

„Ich wusste es ...“, nickte Darius.

„Was?!“

Er hätte an meine Stimme merken müssen, dass ich damit keine Frage gestellt hatte.

„... es musste irgendwann schief gehen. Du lässt deine Sachen ja immer einfach so rumliegen, Lukas räumt immer alles weg ...“

Ich starrte den Schlüssel an, damit ich nicht zusehen musste, wie Darius mit den Schultern zückte, und versuchte leise zu reden: „Also, du wusstest, dass Lukas ihn hatte?“

„Ha. Klar!“

Unglaublich. Ich meine, es war ja gut, dass ich ihn wieder hatte, aber trotzdem... Boah! Wahrscheinlich deswegen machte ich wieder den Fehler, den Schlüssel nicht sofort in meine Tasche zu stecken. Ich sah Darius an.

„Aber warum hast du mir das nicht gesagt?“, fragte ich schließlich.

„Aber warum hast du mich denn nicht gefragt?“ war seine Antwort.

Plötzlich hatte ich keine Lust mehr. Auf seiner Besserwisserei, seiner Dickköpfigkeit, seinem rotzigen Ton. Es eskalierte. Incroyable. Omar, der inzwischen richtig wach war, legte seinen Schal auf dem Tisch und ich habe sogar bemerkt, dass den Schlüssel dabei bedeckt wurde, aber ich war ganz woanders. Ich war nur noch sauer. Darius ließ sich davon gar nicht beeindrucken:

„Pass doch endlich auf deine Sachen auf!“

Als der Zug verlangsamte, war ich so geladen, dass Lukas und Omar es echt schwer hatten, mich von ihm wegzuzerren. Wir alle hörten irgendetwas von „Ankunft“ und „Berlin“ und stürzten aus unseren Sitzen heraus. Erst als es zu spät war, merkten wir, dass wir in Berlin-Spandau waren und nicht am Berlin-Hauptbahnhof. Lukas rannte dem Schaffner hinterher, aber nichts da. Ich glaube sogar, dass er uns auslachte, als der ICE vom Bahnsteig abfuhr. Mit dem Hotelschlüssel, der noch auf dem Tisch lag. Das war ja wohl klar.

„Scheiße gelaufen“, brummte Darius.

In dem Moment hätte ich ihn so gerne eins auf die Fresse gegeben. Aber, wie gesagt, eigentlich ist er kein Arschloch. Er ist einfach siebzehn.

~

Eine Kurzgeschichte von Sharon Dodua Otoo

"Der Hotelschlüssel" erschein zunächst in der Zeitschrift "DB Mobil - Das Magazin der Deutschen Bahn" (Rubrik: Das Literarische Fundstück), Februar 2022, S.68

Illustration © Anje Jager

Kategorie Kurzgeschichte

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