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Senf #2: Liebe

Diese Woche geht es um flauschige Tiere, Mücken und Blauwale. Vor allem jedoch geht es um meinen neuen Pullover, er ist sehr warm. 

Jede Möglichkeit, einen positiven Moment zu erzeugen, muss dieser Tage unbedingt wahrgenommen werden, daran glaube ich fest. Darum habe ich mir just diese Woche einen neuen, sehr warmen Wollpullover aus Irland bestellt, handgemacht, 100 Prozent "New Wool", also unbehandelte Wolle die das erste Mal gesponnen wurde. Was ich erwartet hatte, war ein warmer Pullover, was ich bekam war eine Schafherde. Nicht ein, nicht zwei, nicht fünf Schafe sondern der Geruch einer ganzen Herde strömt aus jeder Faser dieses Pullovers. Jedes Mal wenn ich ihn anfasse, riecht meine Hand nach Schaf. Das ist eigentlich ziemlich gut.

Angenehme Tiere

Schafe sind eines der Tiere, auf deren Niedlichkeit sich, zumindest von weitem und ohne sich näher um sie kümmern zu müssen, wahrscheinlich die meisten Menschen weltweit einigen können. Anders sieht es mit Ziegen aus. Der Unterschied ist greifbar, besser gesagt ertastbar. Ziegen haben auch eine Art Fell, aber Schafe haben Wolle, so viel weiche weiche Wolle. Wenn man Schafe jedoch auf einer Koppel streichelt, stellt man fest, die Wolle ist von sich aus gar nicht soooo weich. Eher mittlere Weiche. Nicht so kratzig wie eine Ziege, aber eher fleischig fettig rau. 

Ansonsten ist es praktisch das gleiche Tier, aber eines ist süß und das andere nicht. Das entspricht zwar nicht meiner Erfahrung mit Ziegen, sehr wohl aber der von Kindern die im Streichelzoo die Wahl zwischen ihnen und wirklich allen anderen Tieren haben. In einem Tierpark saß ich vor einiger Zeit mit einer hochschwangeren Ziege auf meinen Füßen liegend, die mir bis zur Bank gefolgt war, damit wir da ein bisschen chillen können, sie mit aus meiner Wasserflasche trinkt und wir einfach eine gute Zeit haben. Ich wurde kurzerhand zum Botschafter aller Ziegen auserkoren als mich eine Mutter ansprach, ob ihr Kind die Ziege mal streicheln dürfe. Sie habe gerade unangenehme Erfahrungen mit einem Bock gemacht, der sie umwerfen wollte. Klar, meinte ich, ich glaub die Ziege hat die Ruhe weg. Die Ziege hatte die Ruhe weg. Ein kleiner Ziegenfan mehr auf der Welt, macht 5 Euro für das Streicheln meiner Ziege.

Foto: Einfach gut - Ziegen.

Aber was ist mit Rehen? Ja, Senf, was soll mit Rehen sein? Rehe sind, so meine Wildpark-Erfahrung, der absolute Hit für Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Ein Reh das sich streicheln lässt? Machst du Witze, ein Wildtier, das sich streicheln lässt? Natürlich will das jeder streicheln. Ein Hirsch dem man ans Geweih fassen kann? Ein Mufflon das den Kopf freiwillig durchs Gitter steckt? Wer als Kind nicht der festen Überzeugung war, eine telepathische Verbindung zu jedem einzelnen Reh des Parks aufbauen zu können und sie hervorragend zu verstehen, werfe die erste Hand voll Futter. Gleichzeitig sind Rehe natürlich nicht weich. Genau wie Esel und viele Pferde genau so rau wie eine Ziege sind. Aber irgendwas ist anders. 

Zu große Tiere

Es gibt ein großes Missverständnis, das sich durch die kommunikative Geschichte unserer Gesellschaft zieht und lautet: Wer Tiere liebt, muss alle Tiere lieben. Menschen entschuldigen sich, wenn sie eine bestimmte Tierart nicht mögen. Wie kann man beispielsweise Pferde nicht mögen? Die Kultur lebt es uns doch vor, Mädchen reiten gern auf Pferden, Cowboys reiten gern auf Pferden, Pferde ziehen Wagen, Pferde ziehen Maschinen, Pferde sind unsere Freunde. Aber Pferde sind eben auch viele hundert Kilogramm schwere, besonders große Tiere, genau wie Rinder. Die Pferdeshow “Apassionata” arbeitet unter anderem mit Shire Horses, einer Rasse mit über 2 Metern Schulterhöhe. Wer nach der Show vor den Pferden steht, schaut in rund 3 Meter Höhe auf und auf riesige Hufe, die jeden erwachsenen Fuß mit einem Gewicht von über einer Tonne zerquetschen könnten. Wer kann es Menschen verdenken, die das ein wenig zu viel finden?

Foto: 650 Kilo schwer und durch lange Hörner potentiell tödlich - Schottische Hochlandrinder.

Ich persönlich habe eine Abneigung gegen Wale. Es ist nicht so, dass ich nicht anerkennen würde, dass es sich um schützenswerte Riesen handelt, die intelligent kommunizieren und eine eigene Kultur der Wanderungen und des Kulturaustausches (Öffnet in neuem Fenster) pflegen. Ich möchte einfach nicht in der Nähe eines Pottwals sein, dessen bevorzeugte Beute, Architeuthis dux, 5mal so groß wie ich ist. Ich möchte auch nicht mit einem Blauwal tauchen, der mich ohne mit der Wimper zu zucken mit der Flosse in den Abgrund befördern und es nur so halb merken würde. Tatsächlich habe ich seit meiner Kindheit aus mir völlig unbekannten Gründen eine Phobie vor Orcas entwickelt und Probleme an Stränden zu sein, aus der völlig irrationalen Angst heraus, ein Orca könnte aus dem Wasser geschossen kommen. Denn so jagen Orcas Robben. Dass die Phobie eigentlich Quatsch ist, das weiß jeder, der eine mit sich herumschleppt.

Zu kleine Tiere

Unter den Phobien besonders häufig ist die Angst vor Spinnen (Öffnet in neuem Fenster). Je nach Studie haben bis zu 15 Prozent aller Menschen eine Abneigung, Angst und Ekel und deutlich mehr mindestens vorsichtigen Respekt vor Spinnen. Ich hätte einen Grund, ich bin gegen Spinnentiere allergisch. Dass Spinnen in Deutschland nicht beißen, stimmt nicht, die Angabe dass sie die Haut nicht durchdringen können sagt lediglich aus, dass der Biss immer in der obersten Hautschicht verbleibt und Gift und Flüssigkeiten nicht in die Blutgefäße eindringen können. Für meine Allergie reicht das. Die wenigsten Menschen würden sagen, dass sich ihre Liebe für Tiere auf Spinnen erstreckt. Klar, man kann sie beispielsweise religiös als Teil der Schöpfung betrachten oder ihnen aus dem Weg gehen. Aber lieben?

Vor rund einem Jahr habe ich mir das erste Mal seit meiner Kindheit eine echte Kamera gekauft. Zunächst Handys und Webcams, dann Smartphones und Laptop-Kameras haben die Kamera so effizient im Alltag ersetzt, dass ich nicht ahnte, dass der Kauf mehr bewirken würde als vielleicht hin und wieder eine Drossel zu fotografieren, Krähen zu porträtieren oder im Zoo bessere Fotos zu schießen. Aber es kam ganz anders, denn statt mich den großen Tieren zuzuwenden, entdeckte ich plötzlich die kleinsten unter ihnen.

Auf jedem Foto einer Blüte, auf jedem Bild eines Blattes, ob in der Wohnung, auf dem Balkon, im Garten oder unterwegs saßen sie. Winzige Insekten, kleine Spinnen die sich von ihnen ernährten, Eier und Kokons. Rein intellektuell wissen wir alle, dass es Menschen gibt, die ihre gesamte wissenschaftliche Laufbahn damit verbringen, einen dieser Winzlinge um die Welt zu verfolgen, ihr Leben zu studieren und ein kleines Individuum zu sehen. Wenn man diese Menschen dann auf iNaturalist trifft, wie sie debattieren, ob das, was man ohne Kamera als Fruchtfliege wahrnehmen würde, Biene oder Wespe ist und man selbst ganz nah rein zoomt, um die Farbverläufe auf den kleinen Körpern, die von weitem nur schwarz scheinen, abzugleichen, dann sieht man mehr. Dann sieht man da eine ganze Welt, die in der Regel nicht geliebt wird.

Foto: Für andere Hummeln schädlich, für uns gut - die Kuckuckshummel. 

Genau richtige Tiere

Eines der bekanntesten Bilder der Tierliebe sind Jain-Mönche, die vor sich den Weg kehren. Es ist eine starke Vereinfachung einer sehr komplexen Religion, die sich mit der Wahrnehmung von stofflichen und nichtstofflichen Dingen beschäftigt, aber vereinfacht gesagt glauben AnhängerInnen des Jainismus, dass nicht nur das Töten eines Tieres oder Misshandlung eines Haustieres ihrer Seele schaden, sondern jedwede Art von Schaden gegen einen lebenden Organismus, Mensch, Tier, Pflanze, Schwamm oder Pilz. Sie schlagen nicht nach Mücken, schnippen keine Kippen in den Fluss und vergiften keine Tauben. Das Fegen des Weges vor jedem Schritt ist für sie eine Möglichkeit, winzige Organismen, die ohne starke Vergrößerung nicht sichtbar sind, vorsichtig beiseite zu schieben um nicht auf sie zu treten. 

Wir wissen mit robustem Forschungs-Unterbau heute, dass Pflanzen die Welt wahrnehmen, einen selbstbestimmten Lebenszyklus haben, sich besser an die Umwelt anpassen als Tiere und Pilze und, nach Aussage einiger WissenschaftlerInnen sogar eine Art Schlaf praktizieren. (Buchempfehlung: “Planta Sapiens” auf Amazon ansehen (Öffnet in neuem Fenster)) Wie diese Wahrnehmung für die Pflanze aussieht, ob sie tatsächlich “sieht”, ob sie träumt, was sie fühlt, das wissen weder wir noch die Jain-Mönche. Wir wissen aber, dass viele Insekten und Meerestiere kein Gehirn benötigen, weil ihr ganzer Körper ein Nervennetz aufweist, das der Struktur nach ähnlich unseres Gehirns funktionieren dürfte. Wir wissen, dass Insekten und Pflanzen eine enge Beziehung pflegen. So öffnen beispielsweise viele Blüten ihren Pollensack nur, wenn sie von einer Hummel durchgeschüttelt werden und erkennen, wenn es sich nicht um eine Hummel sondern einen Schädling, Wind oder Anrempeln handelt. 

Aber trotzdem werden die meisten Menschen nie ihre Liebe für Stechmücken entdecken. Warum eigentlich nicht? Als jemand, der Hummeln und solitäre Bienen sehr mag, Honigbienen weniger, kann ich sagen, es ist möglich diese kleinen Insekten vorsichtig zu streicheln und sie finden das oft ganz gut. Warum sollte es also nicht möglich sein, eine Mücke im Schlafzimmer einfach zu akzeptieren, nicht nach ihr zu schlagen und eine freundschaftliche Beziehung aufzubauen? Ein Gegenargument könnte die Rolle als Krankheitsüberträger sein, aber das ist eine bequeme Ausrede. Katzenbisse enden für HalterInnen fast immer im Krankenhaus, da ihr Speichel so mit Bakterien überladen ist, dass selbst kleine Hautverletzungen zu Blutvergiftung und Nekrosen führen. Milliarden Menschen lieben ihre Katzen so sehr, dass sie mit ihnen Bett und Wasserglas teilen.

Gute und schlechte Tiere

(In den nächsten 2 Absätzen geht es um tote Tiere.)

Was ist denn nun mit den Ziegen vom Anfang? Ziegenfleisch ist eines der meistgegessenen Fleischarten der Welt, denn Ziegen kommen fast überall klar. Ob in der Wüste oder der Taiga, wer eine Herde Ziegen hat, hat Milch, Fleisch und Felle, aus denen sich Zelte, Kleidung, Matten und vieles mehr herstellen lassen. Im mittleren Klima leisten Kühe das gleiche, überall wo es im Sommer nicht zu heiß ist, geht es außerdem Schweinen gut. Im Jahr 2020 wurden in Deutschland 670 Millionen Hühner geschlachtet (destatis), 43 Millionen Legehennen versorgten uns, völlig ungesehen in dunklen Fabrikhallen, mit Eiern. Diese Gewöhnung an ein bestimmtes Nutztier ist eben auch ein gutes Mittel, die Tierart selbst nicht mehr zu sehen. Auch viele VeganerInnen werden sich nicht davon frei machen können, ein Huhn oder einen kahlen Truthahnhals weniger gern anzufassen als einen gesprächigen Papagei, der - wenig überraschend - in seinen Heimatländern auch gegessen wird.

Seit mit der Entwicklung von Autos und Fahrrädern Pferde aus unserem Stadtbild verschwunden sind, sind sie vielen Menschen zwar lieber, aber liegen gleichzeitig als Bratwurst im Supermarkt. Eselsalami heißt nicht nur so, Rehrücken ist teuer und stark nachgefragt, Karpfen und teure Kois im Prinzip der gleiche Fisch. Wespen bestäuben 960 verschiedene Pflanzenarten, aber Bienen interessieren sich nicht für die offene Flasche Bier. Auch die Rechnung, dass alles was Augen hat für Menschen einen Wiedererkennungswert hat, geht für Tiere wie Schnecken oder Muscheln nicht auf. Jakobsmuschel haben zweihundert Augen (Öffnet in neuem Fenster) und landen trotzdem unbesehen auf dem Teller. Der älteste  lebende Schwamm (Öffnet in neuem Fenster) könnte über 1.500 Jahre alt sein, so vorsichtige Schätzungen, aber Naturschwämme werden als nachwachsende Ressource behandelt. (Nicht verwechseln: Dein Luffa-Schwamm ist pflanzlich, war allerdings auch einmal ein Teil eines Lebewesens) Es gibt real keine Organismen, die uns näher stehen als andere, keine bösen Ratten in der Kanalisation (mindestens 1 Ratte pro StadtbewohnerIn laut Klärwerken) und guten Ratten auf der Schulter. 

Foto: Pilze sind potentielle Freunde, die sich nur nicht äußern können.

Was treibt uns also dazu, uns in Kommentarspalten zu entschuldigen, dass wir Hunde nicht mögen, Spinnen nicht mögen, Bienen nicht mögen? Warum müssen wir uns immer wieder vergewissern, dass wir das gleiche mögen oder nicht mögen? "Du magst Pferde nicht, spinnst du? Die ganze Bubble liebt Pferde, deine Eltern lieben Pferde, ein Pferd hat dir das Leben gerettet, deine Existenz verdankst du Pferden!" Wir suchen uns nicht aus, was wir lieben. Ich bin mir ganz sicher, dass ich die Schafe, von denen die Wolle für meinen Pullover stammt, nicht lieben würde. Aber zeig mir gern noch ein paar Fotos von Walliser Schwarznasenschaf (Öffnet in neuem Fenster)en, denn sie sind hervorragende Tiere. 

Die Entscheidung, ein anderes Lebewesen zu lieben ist nicht moralisch sondern emotional und als solche nicht begründbar. Aber auch ohne diese Liebe kann es sinnvoll sein, Interesse an unansehnlichen, unempfänglichen und einem selbst nicht nahestehenden Organismen zu zeigen. 

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