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Senf #3: Wissen

Ist es viel oder wenig, dreißig Bücher in einem Jahr zu lesen? Spielt die Qualität der Bücher eine Rolle? Wie ist das mit der Art des Stoffes, ist eine 400-seitige Graphic Novel ähnlich viel wert wie ein Sachbuch? Wann zählt ein Buch als gelesen, mit dem letzten Satz oder sobald man genug davon hat? Muss man Romane zu Ende lesen?

Bücher als Isolierung

Dass ein Buch zunächst einmal Statussymbol ist, das wusste ich bereits als Kind. Nichts hatte unser Haushalt so viel wie Bücher, wahrscheinlich streckenweise nicht einmal Geld. Mehrere tausend Bände umfasst allein die zuletzt in den 1990ern aktualisierte Inventurliste der Bücherregale meiner Eltern, seither kommen rund 50 pro Jahr hinzu. Lange Zeit wurde in den Listen beispielsweise auch vermerkt, wem man welches Buch ausgeliehen hatte, nur um die Sammlung jederzeit wieder vollständig zu haben. Die "Sammlung", das sind unter anderem mehrere Regale Insel- und Reclam-Bücher, Lexika, Bildbände, Biografien, Kunsthistorie, deutsche Klassiker und auch wirklich ausschließlich deutsche Klassiker, gut, vielleicht einige französische dazwischen. Die Bücher sind in der Liste nicht nur nach AutorIn und Titel sortierbar, sondern auch nach Verlag, ISBN, Erscheinungsjahr und Genre.

Die Bücherfluten so umfassend , dass viele der Anbauwände in drei Reihen bestückt sind. Sie bilden eine Art Mauer. Das ergibt im Winter eine gute Isolierungsschicht. Allerdings habe ich mich lange gefragt, wo diese Bücher waren, als wir bis zum Jahr 2000 noch mit Kachelofen heizten, denn die großen Anbauwände kamen erst danach, aber meine Eltern schwören, dass ein Großteil der Bücher sie seit Studienzeiten begleitet. Ob das stimmt, weiß ich nicht, ebenso wie die Erzählung, sie hätten ja wohl das allermeiste davon gelesen, während sie seit ich sie kenne rund zwei Bücher im Jahr lasen. Von meinen Großeltern stammen sie nicht. Die Eltern meines Vaters hatten lediglich ein paar Heimatromane und Kriegserzählungen im Regal stehen, meine Großmutter mütterlicherseits ein paar Romanzen und eine Menge Musikliteratur. Nichts davon ist in den Regalen meiner Eltern gelandet, die Büchermasse war immer da und droht noch heute einen zu erschlagen, wenn man einen der Bände versucht herauszuziehen.

Bücher als Spielzeug

Ich bin mit einem merkwürdigen Verhältnis zu Büchern aufgewachsen. Einerseits war die Wohnung bis zur Altbaudecke voll mit Büchern, andererseits hatte ich selbst vielleicht fünf oder sechs, eines davon eine große illustrierte Kinderbibel, die ich eigentlich gar nicht haben sollte, wir waren schließlich im Osten und meine Eltern direkt nach ihrer Jugend aus der Kirche ausgetreten. Irgendein Verwandter hatte sie mitgebracht und sie war ziemlich gut. Ansonsten hatte man versucht, mich für diese dünnen Disney-Bücher, die auf zwanzig Seiten einen Film zusammenfassten, zu begeistern. Da ich schon recht früh Lesen und Schreiben lernte, eher aus Langeweile heraus, mir aber größenbedingt lange nur die untersten Regale meiner Eltern zur Verfügung standen, wo sich dicke Wälzer des langweiligst möglichen Stoffes, von fiktional verromantisierten Biografien bis zu den Manns befanden, musste ich bald auf einen Bibliothekszweig ausweichen.

Dort gab es dann den guten Shit. Hohlbein, Gänsehaut und Peter S. Beagles “Die Sonate des Einhorns”, das im Gegensatz zum Letzten Einhorn tatsächlich für Kinder geschrieben war. Außerdem Anne Rice und Barbara Hambly. Das war also so ungefähr der Rahmen, in dem ich mich bewegte, bis Bücher wieder eine ganze Pubertät lang unwichtig wurden. Anderes Spielzeug existierte zwar, aber wenn man bereits ab dem vierten Lebensjahr mit Depressionen lebt, entwickelt man nie die Freude, die man vielleicht für einen Teddy oder ein Traktoren-Quartett aufbringen müsste. Pokémon fand ich ganz gut, aber war dann auch schon zu alt um je etwas in der Richtung zu bekommen, geschweige denn Elektronikspielzeug oder einen PC in greifbarer Nähe zu haben. 

Was ich wirklich sehr zuverlässig las waren Zeitschriften rund um Tiere und Haustiere, die eine Freundin meiner Mutter einmal im Jahr bei Besuchen aus Berlin mitbrachte. Wir sind hier bereits in den 90ern, es war also nicht notwendig, Zeitungen extra zu importieren. Aber Zeitschriften waren teuer und Geld sparten meine Eltern exklusiv für Urlaube an. Also bekam ich die gesammelten Zeitungen des Jahres, wenn Petra damit durch war, meistens irgendwann im Dezember.

Foto: Geil, Tierzeitschriften.

Bücher als Beruf

Meine Eltern wollten immer, dass ich Schriftsteller werde. Tatsächlich trafen ab 2008 die ersten kleineren Preise für meine Arbeit ein, die ich ab dem 16ten Lebensjahr gewissenhaft erledigt hatte. Wer war ich, in Frage zu stellen, ob meine Texte gut genug für eine Karriere in der Literaturlandschaft sein würden, wenn die ganze Familie mich darin bestätigte. Was meine Eltern mir damals allerdings verschwiegen hatten, ganz am Anfang und noch vor den ersten Lesungen, war, dass sie Literatur nicht wirklich als einen Beruf ansahen. Viel mehr eine Art Hausfrauen-Hobby. Schließlich hatten SchriftstellerIn X und Y ja auch einen Beruf gelernt oder standen morgens um 4 auf, um ihre deutschen Klassiker zu verfassen und dann den Tag über “richtig zu arbeiten”. Auf einigen frühen Lesungen hatte ich ausreichend Zeit, mit KollegInnen zu frühstücken, da nicht einmal die drei Voranmeldungen erschienen, geschweige denn meine Eltern, auf anderen tauchten meine Eltern auf um sich mittendrin bei einigen hundert ZuhörerInnen laut zu entschuldigen, dass sie jetzt aber wirklich los müssen zu einer anderen, wichtigeren Veranstaltung. 

Mit der notwendigen Erledigung meines offenbar von Gott zuerkannten Berufes einher ging auch, dass ich selbst viel lesen - sollte. Ich hätte gesollt, so sagte man mir zumindest. SchriftstellerInnen müssen, so hatte ich es gelernt, erst einmal ausreichend stilistisches Wissen um die Werke der bereits verstorbenen Konkurrenz anhäufen, bis sie sich an ihr eigenes Buch trauen dürfen. Was eine SchriftstellerIn darf und was nicht, das diktieren seit jeher VerlegerInnen und KollegInnen, eventuell noch das eigene Gewissen, aber gerade in jungen Jahren in keinster Weise die eigenen Wünsche.

Die logische Konsequenz daraus war in den frühen 00er-Jahren ein Literaturblog um zu zeigen, seht her, ich lese. Und tatsächlich musste ich dafür lesen. Lange Zeit waren die Bücher, die ich für den Blog besprach, das einzige, was ich las und sie nahmen die Abende komplett in Beschlag. Und was für eine Scheiße ich teilweise gelesen habe, nur weil sie neu und angesagt war und Leute darüber aber keinesfalls darin würden lesen wollen. Gleichzeitig kaufte ich massenhaft Bücher an, sowohl von Privatleuten als auch aus Antiquariaten. In Bestzeiten hatte ich auf rund 40 Quadratmeter Wohnung 12 große Bücherregale stehen und die waren voll. Gesammelt wurde, woran ich theoretisch Interesse haben wollte: Biografien, deutsche Klassiker, Horror. Was ich davon las, waren King und Crichton. 

Foto: Das Regal mit den guten Sachen

Bücher als Ruhekissen

Und irgendwann konnte ich nicht mehr. Nachdem ich über 120 Seiten an zwei Tagen runtergeschrieben hatte, um noch schnell ein Exposé auf eine Deadline einzureichen und ein paar Kapitel beilegen zu können, mich nicht mal mehr an mein Geschriebenes erinnerte und, wie der Alkoholismus es seit einigen Jahren diktiert hatte, zwischen leeren Whiskey-Flaschen saß mit meinem Stapel doppelt ausgedruckter Arbeit, blieb ich einfach im Bett. Um genau zu sein, blieb ich dort fast neun Monate, kam gerade so drum herum, nach Aufbrauchen aller Ersparnisse, meine Wohnung zu verlieren und stellte mich der Therapie der Depression, die ich an diesem Punkt fast zwanzig Jahre lang ausgesessen hatte.

Irgendwann um diesen Zeitraum entdeckte ich Bücher neu und zwar in Form von Hörbüchern, nicht Hörspielen, sondern ungekürzten Romanen und Sachbüchern. Rund 50 Stunden dauert es beispielsweise, Kings “The Stand” zu hören. In der Zeit kann man beispielsweise wandern, spielen, gärtnern, putzen oder in der Sonne liegen. Hörbücher sind da gnadenlos. Aber im Gegensatz zum Lesen hatte ich plötzlich durch das Hören wieder Spaß an dem, was ich freiwillig lesen wollte. Und während ich mich noch ungefähr zwei Jahre lang regelmäßig schlecht dabei fühlte zu sagen, ich habe folgendes gelesen, wenn ich es doch in Wirklichkeit “nur” gehört hatte, blieb ich schließlich einfach dabei. Eine Angewohnheit jedoch blieb und das war das Listenführen, was ich gelesen hatte. Ich wechselte den Job, stampfte die Websites ein, ließ die furchtbaren Messen und Veranstaltungen endlich hinter mir und - hatte plötzlich die Zeit dafür, Bücher zu mögen.

Bücher als Druckmittel

Es gibt da eine Sache, die mich seit jeher stört. Sie hat mich damals gewurmt und ist heute so aktuell, dass es weh tut. Einmal im Jahr poste ich irgendwo, was ich so gelesen habe. Einfach für mich. Und einmal im Jahr sehe ich dann Tweets und Posts von Menschen, die sich bei niemandem speziellem entschuldigen, in diesem Jahr nur zwei oder drei Bücher gelesen zu haben. Ich verstehe das. Bücher sind zu einem Lifestyle geworden. Das Geheimnis dieses Lifestyles ist jedoch, dass niemand liest. InfluencerInnen, die Bücher mit Kaffee und getrockneten Blumen arrangieren, um einen “gemütlichen Wintertag” darzustellen, haben oftmals nicht einmal echte Bücher im Studio stehen sondern lediglich Dummies, die besonders hübsch eingeschlagen sind. TiktokerInnen, die Umsatz generieren indem sie in 30 Sekunden 15 Bücher lediglich in die Kamera halten, die aktuell angesagt sind, könnten im Prinzip direkt im Buchhandel filmen, sie müssen die Dinger dafür nicht mit heim nehmen. Menschen, die beruflich Bücher besprechen, lesen die Bücher an. Als ich damals den Blog führte, sagte ich gern dazu, dass ich die Bücher ganz gelesen habe, woraufhin andere BloggerInnen meinten “Dazu hätte ich gar nicht die Zeit”. Ja und das sieht man, wenn man deine Beschreibung des angeblich geliebten Buches mit dem Teaser im Verlagsshop abgleicht.

Natürlich gibt es Menschen, die lesen. Es gibt auch Menschen, die gern und viel lesen. Aber es gibt auch euch, die ihr nach einem langen Arbeitstag heimkommt, die Kinder oder euch selbst versorgt und nicht mal mehr zum Duschen kommt. Es gibt Menschen, die “immer noch” Groschenhefte lesen, weil sie darauf Bock haben. Weil es ihnen was gibt, in der 700. Folge zu lesen, was Monsterjäger, Landärzte und Prinzessinnen so erleben. Es gibt Menschen, die seit dreißig Jahren keinen ganzen Roman gelesen haben, weil sie lieber Serien schauen. Und das ist okay. Es gibt keinen Zwang zu lesen. Ihr könnt und dürft sagen “Ich lese gern.” ohne eine Folgefrage zu beantworten, welche letzten zehn Bücher euch in diesem Jahr begeistert haben. Es ist nicht “dumm” oder “ungebildet”, keine zehn Sachbücher zur Neuen Rechten in Deutschland gelesen zu haben und sich trotzdem an der Diskussion zu politischen Themen zu beteiligen. Ihr müsst Lyrik nicht mögen, ihr müsst mit der Arbeit jedes einzelnen Mitgliedes der Mann-Familie nichts anfangen können und ihr müsst "Bücher, die ja wohl jeder kennt oder was” nicht kennen.

Foto: Dietmar Dath schreibt im Schnitt 70 Bücher im Jahr, hier "Mensch wie Gras wie"

Bücher als Fragenkatalog

Warum sind dir Bücher persönlich wichtig? Warum möchtest du, dass andere wissen, was du gelesen hast? An wie viele Bücher, die du gelesen hast, kannst du dich inhaltlich oder emotional erinnern? Wann ist ein Buch ein gutes Buch? Wie wird ein Buch zu einem Klassiker? Warum gilt es als gebildet, Thomas Mann, Dostojewski oder Schiller zu lesen? Wie viele von Goethes 39 Romanen, Novellen und Dramen hast du gelesen? Und wozu? 

Wie viele Sachbücher braucht es, bis man über ein Thema ausreichend informiert ist? Wie viele Reportagen und Zeitungsartikel braucht es, um ohne Bücher über ein Thema ausreichend informiert zu sein? Über wie viele Themen muss man ausreichend informiert sein, um als gut informiert zu gelten? Wann hast du das letzte Mal jemandem ein Buch empfohlen, das nicht öffentlich gelobt wird? Wann hast du zuletzt ein Buch gekauft, weil es Platz 1 der Bestsellerlisten war? 

Wie viele Bücher nicht-deutscher AutorInnen außerhalb UK/USA hast du gelesen? Wie viele Bücher nicht-deutscher AutorInnen, die in Deutschland leben, hast du gelesen? Wie viele Bücher hättest du lesen können, statt Filme oder Serien zu schauen? Warum glaubst du, es sei wichtiger, zu lesen, als einen Film zu schauen? Warum hast du das Gefühl, du musst selbst ein Buch schreiben? Wie viele Bücher hast du gekauft, weil du den Gedanken mochtest, sie vielleicht zu lesen? Warum fühlt es sich unangenehm an, Bücher zu kaufen und nicht zu lesen? Wer hat dir diese Werte vermittelt und wie kannst du sie wieder verlernen?

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