Senf #8: Depression II
Dieser Text ist Teil 2 meines Dreiteilers über meine eigene Depression, mit der ich seit frühester Kindheit lebe. Wenn du Teil 1 nicht gelesen hast, kannst du das HIER (Öffnet in neuem Fenster) nachholen. Die Depressions-Texte sind für alle kostenfrei gestellt. Aber wenn du sie magst, kannst du mich mit einem Abo für alle anderen Texte unterstützen.
Vorwort
Bevor ich ein bisschen aus meiner Kindheit erzähle, möchte ich ein paar Worte zu meinen Eltern loswerden. Viele meiner Erinnerungen an Kindheit und Jugend mit Depression sind zum einen von der Erkrankung eingefärbt, zum anderen basieren sie darauf, dass meine Eltern, heute Mitte 70, mit der Pädagogik der 50er und 60er aufgewachsen sind. Eine meiner Großmütter, die meine Kindheit mitgestaltete, war selbst gelernte Kindergärtnerin und hatte Erziehungsmethoden der 30er bis 50er voll aufgesogen. Dazu gehörte auch die völlig falsche Annahme, dass Kinder sich gegen Entscheidungen ihrer Eltern stellen, um "Grenzen auszutesten” wie ein Haustier. Es konnte also beispielsweise nicht an tatsächlichem Unwohlsein liegen, wenn ich als Kind nicht zur Schule wollte, sondern musste ein Machttest sein. Wer würde den wohl gewinnen, der 6-Jährige mit Bauchschmerzen oder die 40-jährigen Eltern.
Meine Eltern haben zahlreiche Bücher über “moderne” Erziehung gelesen und als ich gerade 10, 11 Jahre alt war, war es beispielsweise kurzzeitig Mode, allen jungen Menschen Borderline zu diagnostizieren und danach handelten sie dann, wie es ihnen das Buch riet. Depressionen hingegen kamen in keinem der Bücher vor und auch nicht im Bewusstsein meiner Eltern. Das änderte sich, als gute FreundInnen ihrerseits sich unangekündigt das Leben nahmen und andere lange ausfielen. Je mehr Druck durch Arbeit, Ehestreitigkeiten oder einfach eigene Traumata im Leben ihrer FreundInnen dazu kam, desto mehr wurde auch die Depression sichtbar. Ich stelle das dem Text vorweg, weil der Eindruck entstehen könnte, meine Eltern haben die Erkrankung bewusst ignoriert oder nicht ernst genommen. Stattdessen hatten sie, kurz gesagt, selbst keine Ahnung, was sie da machen und waren mit ihrem eigenen Arbeitsleben, 4 Uhr 30 aufstehen, 18 Uhr heimkommen, komplett überfordert. Wahrscheinlich waren viele Entscheidungen genau das, was sie für gut, gesund und richtig hielten. Kein Grund also, sich über sie aufzuregen.
Foto: Ich mit Kätzchen auf einem Bauernhof
Feuerwanzen
Eine der frühesten Erinnerungen meiner Kindheit sieht so aus. Meine Eltern treiben mich, wie immer, wenn gutes Wetter ist, auf den Innenhof unseres Mehrfamilienhauses. Ich setze mich auf die unterste der drei Steinstufen, die zur Wiese hoch führen. Ich bin zu klein, um die Stufen mit den Beinen hochzukommen, aber erklettern kann ich sie. In den Ritzen der Steine wuseln Feuerwanzen umher. Ich weiß nur, dass ich sie nicht anfassen soll und schaue ihnen darum nur zu. Es vergehen einige Stunden, in denen ich einfach da sitze und die Käfer anschaue. Dann werde ich hoch gerufen, weil Essenszeit ist. Wieder einmal “Rausgehen und frische Luft schnappen” abgesessen.
Es hat mich viele Jahre meines erwachsenen Lebens gekostet, mir selbst anzutrainieren, dem Rausgehen etwas Gutes abzugewinnen. Als Kind war dieses alleine auf dem Hof sitzen, so monoton, dass ich oft gar nicht mitbekam, wenn man mich rief, weil ich komplett im Wand oder Wiese anstarren Tunnel war. Dabei mochte ich Natur. Wenn wir in die Pilze fuhren, hatte ich eine Menge Spaß daran, den Wald zu erkunden. Nur das alleine draußen sitzen war belastend. Drinnen zu sitzen war allerdings nicht besser. Mein Kinderzimmer war nicht sonderlich kindgerecht. Zwar hatten meine Eltern die Wände mit bunten Figuren aus DDR-Cartoons bemalt, aber außer einem ehemaligen Klappbett mit Holz-Rausfallschutz, das nun dauerhaft aufgeklappt war, einem Holzschreibtisch und Bürostuhl, den irgendwer aussortiert hatte und einem grauen Funktionsteppich gab es nichts. In meinem 8 Quadratmeter Kinderzimmer standen 3 große Kleiderschränke meiner Eltern, über denen sie noch Stauraum ausgebaut und mit einem Vorhang verdeckt hatten, in dem zum Beispiel Koffer und Kisten lagerten. Unter meinem Bett war ebenfalls kein Platz, da lagerten Kisten mit Informationen zu fernen Ländern, die meine Eltern gern bereisen wollten, jede Kiste ein Land. Die Hefte und Infos sammelten sie beispielsweise auf der Touristikmesse. Heute haben sie fast alle diese Länder bereist, aber damals, Anfang der 90er, war die Mauer erst seit einigen Jahren offen. Wir fuhren noch meist nach Ungarn oder Polen in den Urlaub, aber auch in den Harz oder die Dübener Heide. Das Geld floss zunächst in einen neuen Wagen, endlich weg vom Trabi und hin zum Mazda, und dann erst in die ersten großen Reisen.
Ich besaß ein paar kleine Plastiktierchen, die ich auf dem grauen Teppich gegeneinander antreten ließ und lernte dann noch vor der Einschulung lesen, um wenigstens irgendetwas tun zu können in diesem dunklen, in meiner Wahrnehmung staubig vollgestopften Raum, dessen schwere Altbautür sich nicht abschließen ließ, meine Eltern hatten “zur Sicherheit” das Schloss ausgebaut, mit einem Bett das bis zum Erwachsensein reichen sollte und mir deswegen riesig schien. Erst mit 9, 10 Jahren ging mir auf, dass Gleichaltrige zwar oft ebenfalls keine tollen Kinderzimmer voll Spielzeug hatten, das hatten überhaupt nur 3, 4 Kinder in meiner Klasse, aber da trotzdem irgendwie spielten. Sie malten Dinge aus oder lasen Comics, bauten Puppenhäuser auf, spielten mit Lego oder hatten bereits einen PC. Was sie nicht machten, war, wie ich mit dem Rücken an die Schrankwand gelehnt stundenlang einfach nur auf dem Boden sitzen und Bettkante und Wand anstarren. Das machte ich nicht nur zu Hause, sondern auch, wenn ich bei FreundInnen zu Besuch war. Ich glaube, meine Freundin N. war die einzige, mit der ich immer mal auch draußen im Viertel was unternahm, abbruchreife Häuser besichtigen, Dinge kaputt machen, auf Mülltonnen klettern. Sonst sahen Besuche für mich so aus, dass ich irgendwem zuschaute, wie er an seiner Spielkonsole saß oder allein irgendwas spielte. Ich saß in der Ecke, schaute zu und das reichte mir an Aktivität.
Foto: Perlhühner bei einem Picknick im Park in Südafrika
Safari
Das Reisen wurde für meine Eltern zu einem fundamentalen Baustein ihrer Identität. Ihr gesamtes Geld aus zwei Vollzeiteinkommen floss in die Reisen selbst, die gesamte Freizeit in die Planung selbiger. Nichts durfte dem Zufall überlassen sein. Beispielhaft dafür waren die beiden großen Südafrika-Rundreisen, die jeweils die gesamten sechs Wochen Sommerferien dauerten. Jede Tagesetappe der Rundreise bestand aus mindestens 6 Stunden Autofahrt. Am Ende des Tages würden wir auf einem Zeltplatz landen, der Monate im Voraus gebucht worden war. Es war seit Anfang des Jahres völlig klar, wo wir am 5. August 12 Uhr sein würden, idealerweise in dem Diner oder der Kleinstadt, die als Verpflegungsstop eingeplant waren. Ich habe nahezu keine Erinnerungen an diese großen Reisen, egal ob Island, Südafrika, Namibia, Tunesien oder eines der vielen anderen Rundfahrtenziele, weil für mich die Welt überall gleich aussah. Die Welt, das war das stoffbespannte Dach eines Mietwagens irgendwo auf dem Globus und ein blauer, gelber, weißer, grauer Himmel der vorbeizog. Es war ein bisschen wie wenn man GeoGuessr spielt. Nach einigen Runden stellt man fest, dass die ländlichen Regionen überall auf der Welt gleich öde sind. Ein gut ausgebauter Freeway, an den Seiten Büsche und Bäume, vielleicht ein paar Gräser und hier und da mal ein Streuner. Wer nie in Südafrika war, glaubt vielleicht wie ich vor den Reisen, dass Zebras, Gazellen und Elefanten irgendwie das Landschaftsbild prägen. Tatsächlich waren die großen Säugetiere allerdings schon vor über 20 Jahren eingezäunt in Reservaten und Nationalparks, weil sie sonst der Wilderei zum Opfer fallen würden. Außerhalb dieser Reservate gibt es keine Löwen, Elefanten, Giraffen, Zebras und Gnus und den Eingang zum Reservat markieren hohe Zäune, Eingangstore und ein Checkpoint, an dem man Eintritt entrichtet, um Tiere sehen zu können.
Stattdessen war Südafrika für mich eine Ansiedlung von Großstädten wie Johannesburg und Pretoria und namenlosen Kleinstädten mit Burger-Takeaways und schlecht bestückten Supermärkten. In Lesotho gab es in einem Supermarkt nur Reis und leere Regale,dafür aber einen weißen Plantagenbesitzer und Altnazi der das Hotelresort leitete und meinen Eltern stolz sein Haus zeigte, in Eswatini nur Landschaft und Reisewarnungen, das Auto nicht zu verlassen, woran sich meine Eltern natürlich hielten. Beide große Rundreisen waren dominiert von Misstrauen gegenüber schwarzen Menschen und einem deutlichen Mangel an interessanten Tieren.
Und jetzt wird die ein oder andere LeserIn sich fragen, was das denn noch mit meinen Depressionen zu tun hat. Es gibt viele verschiedene Arten, eine Reise und ein Land zu erleben. Man kann nach Island fahren und sich über Moose, Vulkane, Berge und bunte Häuschen freuen. Oder man kann als depressives Kind in Island mit den Eltern wandern und jeden einzelnen Moment davon als grau, unwirklich und anstrengend empfinden. Meine Depression ist als Antriebsstörung definiert. Das bedeutet, dass ich einerseits kognitiv meine Umwelt anders wahrnehme, nämlich düster, unfreundlich, hoffnungslos und leer. Zum anderen hat die Antriebsstörung einen physischen Effekt auf meinen Körper. Erst mit viel Durchhaltevermögen und Training wurde es mir vor einigen Jahren wieder möglich, ein paar Kilometer zu wandern. Durch die Depression tun mir meine Beine schnell weh, als wäre ich stark mehrgewichtig. Ich werde durch die kleinste Anstrengung müde und liege ich einmal im Bett, dann liege ich im Bett. Lange. Mein Rekord waren 9 Monate am Stück, aber dazu kommen wir noch. Erst einmal möchte ich diese Reisen unter dem Gesichtspunkt betrachtet sehen, dass ich als Kind nicht wusste, dass nur ich die Realität um mich so wahrnehme.
Während meine Eltern also zwei ganze Wochen der Südafrika Rundreise für Nationalparks geplant hatten, bei denen ich hätte Tiere sehen können, rollte ich mich auf dem Rücksitz zusammen und schlief. Ich schlief mich durch Savannen und Berge, Besuche an riesigen Wasserfällen und Canyons, ich schlief in Großstädten und Kleinstädten und wenn ich mal wach war, knüpfte ich Kontakte zu anderen Kindern, die mir aber sofort wieder weggenommen wurden, weil man ja nicht wisse, ob die uns nur ausrauben wollen. Das ist aber nicht die Reise, die meine Eltern erlebt haben. Über 20 Fotoalben füllt jeder dieser langen Urlaube, das sind natürlich nur die Highlights. Für meine Eltern gab es traumhafte Landschaften, einzigartige Naturräume, Löwen, die im Schatten des Autos schlafen und Elefanten, die vor uns Wagen angreifen. Für meine Eltern gab es Sing- und Tanzvorführungen für TouristInnen und Wandmalereien in alten Höhlen. Für mich gab es später Fotos davon.
Foto: Dromedare in Tunesien
Sehen
Ich vergleiche meine Wahrnehmung der Depression gern damit, wie ich herausfand, dass ich eine Brille brauche. Als Kleinkind bin ich ständig gestolpert. Ich bin im Kindergarten Treppen hinauf gefallen, hab mich nicht auf Klettergerüste getraut und bin gegen Wände gelaufen. Viel zu spät kam irgendjemand schließlich auf die Idee, zu prüfen, ob ich eventuell nicht “richtig” sehe. Zur Einschulung gab es dann eine Brille und die plötzliche Erkenntnis meinerseits, dass ich nicht zu ungeschickt zum Laufen war, sondern schlicht nicht sah, wenn vor mir auch nur ein größerer Stein lag. Mit minus 4 Dioptrien, heute minus 6, sieht man nicht so viel. Aber was man sieht, sind zum Beispiel Bücher, die man sich dicht vor die Nase hält.
Ähnlich ist es mit der Depression. Wenn man als Kind den ganzen Tag nur schlafen möchte, jeden Schritt nach draußen als anstrengend empfindet, wenn man stundenlang die Wand anstarrt und nachts nicht schlafen kann, nicht benennen kann, warum man sich krank fühlt und mit anderen Kindern nicht connected, weil diese in einer bunten, lauten Realität mit Spielzeug und Hobbys leben, dann ahnt man nicht, dass es am eigenen Hirn liegt. Wenn ich heute Kinderfotos von mir sehe, sehe ich da ein Kind, das spielt, klettert, mit den Großeltern Spaß hat und auf Grillpartys den Grill bedienen will. Von außen hat meine Depression nie stattgefunden. Von außen wirkte ich, wie auch bereits ohne Brille, wie jemand, der einfach ein bisschen komisch ist, der schlafen will mitten am Tag, ein sehr schlankes Kind das trotzdem nicht sportlich ist, das bei Spaziergängen schon nach ein paar Schritten nicht mehr will und keinerlei Interesse für Sehenswürdigkeiten im Urlaub zeigt. Von außen war ich jemand, den alle ständig ermunterten, doch auch mal was zu machen und der keine Lust hatte.
Foto: Aus Versehen angelockte Strauße auf einer Farm
Schlaf
Das änderte sich mit Beginn der Pubertät. Als die Hormone richtig kickten, wurde ich auf einmal wach und Menschen und Dinge um mich herum begannen zu existieren. Die erste Beziehung, das erste Mal Alkohol, das erste Mal im Internet ohne Alterscheck Zigaretten bestellen, ja, das ging damals. Leider war ich durch die vorherige Abwesenheit von meinem Leben ein hervorragendes Ziel für Übergriffe aller Art. Das geht nicht nur mir so. Nahezu jede depressive Person, die ich über die Jahre kennengelernt habe, weiß von sexuellem Missbrauch oder körperlicher Misshandlung zu berichten. Depressive sind ein fantastisch einfaches Ziel für die Mehrheitsgesellschaft. Sie wehren sich kaum und sehen sich gern selbst als das Problem. Wer gelernt hat, dass er der Außenseiter ist, nimmt erst mal jeden sozialen Kontakt an, der ihn inkludiert und steigt daraus nicht mehr von alleine aus, egal wie missbräuchlich das Machtgefälle ist. Es gibt verschiedene wissenschaftliche Theorien dazu, was in der Regel zuerst geschieht, die erste schwer depressive Episode oder der erste sexuelle Missbrauch. Und Missbrauchsüberlebende, das Wort Opfer ist überholt, sind zugleich anfällig dafür, wieder und wieder in Missbrauchssituationen zu rutschen, teils das ganze Leben lang. Die Depression bleibt.
Für mich wechselten sich dann meine gesamte Jugend lang die Phasen ab. Ich blieb wochenlang im Bett, ging nicht mehr zur Schule, verbrachte den Tag dann wieder mit Tätern, blieb dann wieder im Bett, ging nicht zur Schule und so weiter. Der Kreislauf wäre von außen zu durchbrechen gewesen, wenn irgendwer mir zugehört hätte, aber diese Dynamik ist ja bekannt. Dabei hatte die Depression gleichzeitig den schützenden Effekt, der ihr von einigen ExpertInnen angerechnet wird. Eine Theorie, warum der Körper in der Depression so runterfährt, ist tatsächlich die, dass er für AngreiferInnen unattraktiv wirken möchte. Ein Opfer, auf das alle einschlagen können und das sich nie wehrt, metaphorisch oder wortwörtlich, ist schnell langweilig. In Studien rund um depressive Tiere, oder das, was man als Depression bei Primaten annimmt, wurde der depressive Artgenosse zunächst angegriffen, dann aber einfach als passiver Aussenseiter in Ruhe gelassen, wenn er nicht auf die Angriffe reagierte.
Ich verließ die Schule mit 14 und leistete stattdessen Sozialstunden ab. Ich weiß bis heute nicht, warum das legal war, aber für jedes verpasste Halbjahr wurden mir, statt meinen Eltern, Bußgelder auferlegt, die ich dann abarbeitete. So war ich unter anderem in Altenheimen mit Leutchen im Rollstuhl unterwegs oder reinigte nach deren Feierabend die Räume für ein Jugendzentrum. Ich half einem Hausmeisterdienst einer Schule aus und dem Reinigungsdienst in einer Kita. Meine Abschlüsse holte ich später als Erwachsener nach, teils auf eigene Kosten, teils durch viel Zeitaufwand. Der Ausstieg aus dem Schulsystem bot mir vor allem die Möglichkeit, viel und intensiv allein zu sein, so wie die Depression es diktierte. Man kann den Hof eines Schulgebäudes im Herbst ganz allein erstaunlich langsam harken, wenn die Sozialstunden-Anzahl noch hoch ist und die Zeit irgendwie vergehen muss.
Die Zeit, in der ich sehr allein war, gab mir dann wiederum die Möglichkeit, ganz entspannt so viel Alkohol zu konsumieren wie ich wollte. Das erste Mal komplett besoffen griffen mich meine Eltern an einer Haltestelle auf, an dem Tag als ich, als allerletzter Versuch, die Schule hätte wechseln sollen. Ich hatte bei Bekannten übernachtet und keine Ahnung, welcher Wochentag war. Offenbar ein Montag, an dem ich die neue Klasse kennenlernen sollte. Mein Vater traf mich durch Zufall an der Haltestelle, fuhr mich in das neue Gymnasium, dort setzte man mich rotzbesoffen in die neue Klasse, ich schlief ein, wurde zum Ende des Tages geweckt und gebeten, nicht wiederzukommen. Mir war damals und ist heute noch völlig egal, wie mich der Rest der Welt damals wahrnahm. Ich hätte in diesem Zustand von niemandem da hin gesetzt werden dürfen. Stattdessen hätte es ein Gespräch über Alkohol geben müssen, das nie kam.
Suchterkrankungen unter Depressiven sind sehr häufig und fast automatisch eine Folge der Erkrankung. Der Alkohol schaltet einen Teil der Mechanismen aus, die die Depression in Gang bringt. Man kann plötzlich unter Menschen sein, über Witze lachen, sich unterhalten, eventuell sogar ein Sexleben haben, das durch die Depression auch beeinträchtigt wird. Während nicht-depressive Menschen von Alkohol oft übermütig werden, macht Alkohol aus depressiven Menschen oft umgängliche, etwas extrovertierte Personen, die sich hervorragend in die Gesellschaft einfinden. Zumindest so lange, bis die Droge die Organe angreift, die Gesundheit schwer schädigt oder für die für Alkoholiker typische Demenz ähnlichen Aussetzer sorgt, wenn Hirnzellen irreparabel absterben. Den Alkoholismus habe ich dann nach rund fünfzehn Jahren größtenteils und mit einigen Rückfällen mit Ende 20 hinter mir gelassen, als ich mit vielen tausend Euro Schulden nach 9 Monaten mit Depression im Bett aufwachte und beschloss, mit jemandem über die Grunderkrankung zu sprechen.
Foto: Zebras im Krüger Nationalpark
Hilfe
Depressionen sind nichts seltenes. Es handelt sich hier nicht um eine Erkrankung, die 1er von 100 Millionen Menschen hat und die ExpertInnen begeistert und überfordert. Bis zu 20 Prozent aller Menschen erleben in ihrem Leben mindestens eine echte depressive Episode, bis zu 350 Millionen Menschen weltweit sind nach Schätzungen schwer depressiv. Obwohl jede Depression anders ist und bis heute nicht völlig klar ist, welche Haupttreiber im Gehirn oder in den Organen den Anstoß zur Untätigkeit, grundlosen Traurigkeit oder suizidalen Tendenzen gibt, ist das Grundbild der Erkrankung gut bekannt. Die Hilfe, die ich fand, war eine Therapeutin, die zwar in ihrem Umgang mit mir nie sonderlich kompetent war, aber die richtige Wahl traf, zunächst mit einer hohen Dosis Serotonin-Wiederaufnahmehemmern medikamentös gegen die Müdigkeit vorzugehen.
Die einfache Erklärung für die Wirksamkeit der Medikamente ist die: Euer Körper produziert Serotonin, das euch dabei hilft, wach, aufmerksam und meist ausgeglichen halbwegs guten Mutes zu sein. Bei einem gestörten Gleichgewicht des Hormons wird das Serotonin “verbraucht” und dann “leer” wieder aufgenommen. Der Körper denkt, er kann das Hormon noch mal nutzen, es ist aber wie eine leere Caprisonne. Wenn er das paar mal macht und kein neues Serotonin nachproduziert, fehlt euch der Antrieb. Wenn das Serotonin aus der Zelle ausgeschlossen wird, muss er mehr davon produzieren, um den Verbrauch des Hormons zu decken und der Spiegel steigt, die Laune wird - kurzzeitig - besser. Das ist wirklich extrem verkürzt und stimmt so auch nicht ganz, man ist sich zum Beispiel gar nicht mehr sicher, ob Serotonin direkt mit der Depression zu tun hat und eine Veränderung der anderen Hormone zeigt ähnliche Effekte, aber es ist ein schönes Bild um zu erklären, warum diese Medikamente kurzfristig eingenommen eine positive Wirkung haben können. Dazu kommt das Gefühl, dass die ÄrztIn die Erkrankung ernst nimmt. Zwar zeigen bei den meisten PatientInnen Antidepressiva langfristig eingenommen keine besseren Effekte als ein Placebo, aber in der absoluten Krisensituation ist das Placebo ein Lebensretter, bildlich gesprochen oder auch tatsächlich. Dazu kamen in den ersten zwei Jahren Medikamente um nachts schlafen zu können und dadurch tagsüber ausgeschlafener zu sein und Antipsychotika weil der Alkohol das Hirn immer wieder zu neuen psychotischen Episoden angetrieben hatte und der Entzug das erst einmal nicht stoppte.
Antidepressiva haben viele krasse Nebenwirkungen, die Menschen mit Depressionen oft davon abhalten, sie einnehmen zu wollen. Für Männer scheint der Verlust des Sexualtriebes besonders schlimm zu sein, aber auch Kreislaufprobleme, Kopfschmerzen, extremer Durst, Konzentrationsschwierigkeiten und viele andere Nebenwirkungen erschweren den Griff zum Medikament. Das sorgt dafür, dass jeder Depressive, sobald er FreundInnen und Familie offen von der Krankheit erzählt, zunächst “hilfreiche” Tipps wie “Frische Luft, gesundes Essen und mehr unter Menschen gehen” erhält. Ich war allerdings kurz vor meiner schwersten Episode rund um die Uhr unter Menschen, aktiv und draußen, das erforderte mein damaliger Job. Nach der Episode war ich danach nicht mehr in der Lage. Ich sage Menschen, die mich nach der Wahrnehmung der 9 Monate im Bett, in denen der Pizzaservice meine Pizza einfach mit Schlüssel in die Wohnung brachte, gern, dass wenn ich ein Haustier in dieser Zeit gehabt hätte, dieses Tier nicht überlebt hätte weil ich nicht gewusst hätte, dass es existiert. Die 9 Monate fühlten sich an wie 2 Wochen und plötzlich drohte die Hausverwaltung mit Rauswurf, die Konten waren um tausende Euro im Minus und ich wog eine Menge mehr als vorher. Durch die Antidepressiva nahm ich dann weitere 40 Kilo in kürzester Zeit zu, Aus 75 Kilo wurden insgesamt rund 140.
Würde ich die Medikamente trotzdem wieder nehmen? Natürlich. Ich bin mir absolut sicher, ohne die Medikamente wäre ich heute tot. Ich wiege mittlerweile glücklicherweise keine 140 Kilo mehr und nehme statt 40mg nur 5mg des Serotonin-Wiederaufnahmehemmers täglich ein. Die anderen Psychopharmaka sind jetzt, 12 Jahre später, nicht mehr notwendig. Aber die Depression bleibt. Es gibt keine Heilung von Depressionen. Jede Person, die behauptet, ihre Depression geheilt zu haben, möglicherweise sogar allein durch Ernährungsumstellung und Yoga, lügt - oder hat eine leichte depressive Verstimmung für eine Depression gehalten. Das kann man Menschen nicht einmal übel nehmen, solange sie kein Kapital daraus schlagen. Die Erkrankung Depression ist für Außenstehende kaum zu begreifen. Die echte Depression wird bei einer Einstufung durch die Krankenkassen mit einem Behinderungsgrad von 30 bis 100 Punkten, je nach Intensität der Einschränkungen, bewertet. Eine starke Depression kann lebenslang arbeitsunfähig machen oder den Umzug in eine geschlossene Pflegeeinrichtung bedeuten. Während gesunde Ernährung, soziale Kontakte und ein stabiles Lebensumfeld nahezu jede Erkrankung erträglicher machen, werden sie nie dazu führen, dass diese vererbbare, durch Trauma erwerbbare und völlig willkürlich zuschlagende Erkrankung komplett verschwindet. Ich kann damit aktuell leben, auch weil ich in Deutschland die Möglichkeit habe, auf Sozialhilfen und medizinische Unterstützung zurückzugreifen. Für andere endet diese Krankheit tödlich.
In Teil 3 meines Depressionstextes werde ich stärker auf die Außenwirkung und Reaktion anderer auf Depressionen eingehen. Bitte beachtet, dass ich bewusst den Text frei von Quellen und Querverweisen lasse und medizinische Fakten nur knapp zusammenfasse. Ich spreche außerdem ausschließlich über meine Depression, nichts davon muss auf euch und andere Menschen mit Depression zutreffen.
Danke fürs Lesen und mit der Erkrankung beschäftigen.