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Senf #6: Depression I

Dies ist ein Text über Depression, Angststörungen und alles was damit einhergeht. Dem möchte ich vorweg stellen, dass ich ausschließlich aus subjektiver Sicht schreibe. Nichts in diesem Text ist mit Quellen belegt. Das liegt daran, dass das hier mein eigener kleiner Newsletter ist, keine wissenschaftliche oder journalistisch saubere Publikation. Ich verwende daher auch umgangssprachlich bekannte Worte, beispielsweise für konkrete Krankheitsbilder. 

Der Text besteht aus mehreren Teilen, die ich ausnahmsweise für alle kostenfrei machen werde. Bitte meldet euch, wenn euch als AbonnentIn das stört, dann gibt es natürlich den Monatsbeitrag zurück. Ich denke nur, dass die Texte eventuell anderen helfen können, mit ihrer Depression besser zu leben im Wissen, dass sie nicht alleine sind oder als nicht betroffene Menschen einen besseren Einblick in die Krankheit zu erhalten. 

Foto: Irgendwas mit Schatten seiner selbst

Ich lebe seit mindestens 30 Jahren mit Depressionen. Warum ich das nicht so genau weiß? Weil ich erst ungefähr mit dem 6. Lebensjahr verstanden habe, dass es nicht allen so geht wie mir. Nichts in den Fotoalben meiner Kindheit spiegelt diese Krankheit wieder. Nahezu alle Fotos, die von mir bis zu meinem 19. Lebensjahr existieren zeigen mich gut gelaunt. Ich selbst erinnere mich an keinen einzigen gut gelaunten Moment meines Lebens. Nicht in meiner Kindheit, Jugend und nicht letzte Woche. 

Texte über Depression

Texte über Krankheiten anderer Menschen sind immer ein bisschen langweilig. Sie erzeugen entweder Mitleid oder absolute Gleichgültigkeit. Es ist zwar möglich, sich danach irgendwie informiert zu fühlen aber wahrscheinlicher ist ein stumpfes “Gefällt mir” und, dass die Person von der man gelesen hat später anekdotisch in anderen Gesprächen einfließt. Der Kurt Krömer, der hat ja zum Beispiel auch Depressionen. Hast du gehört? Auch Sam hat Depressionen, man glaubt es gar nicht. Es gibt auch nur 3 Möglichkeiten, auf einen solchen Text zu reagieren. Nicken und denken “Ja, ich auch”, kommentieren “Ach das tut mir leid” oder Herzchen posten. Und natürlich weiß man, das ist lieb gemeint, aber Herzchen unter Posts über die eigene Krankheit sind immer irgendwie belastend. Allerdings gibt es auch keine Alternative zur Krankheit. Es gibt keine Heilung einer Depression. Nein wirklich nicht, auch nicht das woran ihr denkt. Weder Meditation, Ketamin, Gras, noch irgendwelche Traumatherapien und Selbsthilfegruppen heilen eine Depression. Es gibt Möglichkeiten, Depressionen mit Medikamenten ein wenig in ihrer Wirkung auf den Körper einzuschränken und es gibt Wege, sich selbst damit zu arrangieren. Ein Hilfsangebot Dritter ist also völlig ausgeschlossen, kein GoFundMe wird einen Arztbesuch bei einer SpezialistIn im Ausland ermöglichen, die ein Heilmittel kennt. 

Bücher über Depression sind in der Theorie eine gute Idee. Menschen die eigene Krankheit erklären, damit sie mit anderen Depressiven in ihrem Leben besser umgehen. Jawoll. Aber - erreichen Bücher das? Ich habe, das gebe ich gern zu, noch nie eines der Bücher Prominenter über ihre Depression ganz gelesen. Ich habe quer reingelesen und sie zurück ins Regal gestellt. Doch eines fällt auf und das ist, dass keiner dieser Menschen mit Konto im Minus daheim sitzt, arbeitsunfähig und auf sich gestellt. Das ist, weil sie Prominente sind. Weil sie auf Arbeit gehen und mindestens lange genug funktionsfähig waren, um ein Buch zu schreiben, von dessen Tantiemen, Lesungen usw. die noch lange etwas haben und zwar vor allem Geld. Dadurch ist freilich ihre Depression nicht geheilt, aber Geld ist ein extrem wichtiger Faktor bei allen psychischen Krankheiten. 

Wer ein paar Milliarden auf dem Konto und eine schwere Schizophrenie hat, wird nie auf der Straße landen und später von der Polizei erschossen werden, weil er nackt mit einem Messer in einem Hinterhof auftaucht. Wer manische Phasen auslebt und reich und berühmt ist, gibt Geld aus, hat aber danach noch welches. Er wird nicht obdachlos und verschuldet sich um zig zehntausende Dollar oder Euro, weil er in der manischen Phase sicher war, dass die Millionen jeden Moment reinkommen beim Glücksspiel oder durch die “hervorragende” Investition in die eigene Karriere als Popstar, SchauspielerIn oder SängerIn. Alles was Prominenten mit psychischen Erkrankungen droht ist entweder eine körperliche Selbstverletzung, die natürlich schwer wiegt aber dank privater Versicherung auch gut therapiert wird oder ein Imageverlust in der Öffentlichkeit, der jedoch sofort wettgemacht wird, wenn das Buch über die Krankheit erscheint und sich die Medien entschuldigen. Bei einem depressiven Menschen, der arbeitslos im Bett oder besoffen in seinem Bad liegt, entschuldigt sich niemand. Es gibt auch für Menschen deren depressive Angehörige sich das Leben nehmen keine Hilfsfonds in ihrem Namen, um wenigstens das Leid ein wenig umzulagern und die Trauer zum Guten zu nutzen. Menschen und deren Angehörige mit psychischen Erkrankungen, die nicht prominent sind, sind komplett allein gelassen von Wohnumfeld, Krankenkasse, Jobcenter und zu großen Teilen auch ihren ÄrztInnen.

Und das fehlt mir, wenn ich ein Buch über Depressionen bei Prominenten aufschlage. Ich weiß, dass diese Leute funktionieren, weil sie sie gerade mit ihrem Buch touren. Ich weiß, dass ich nicht funktioniere und mit ihnen nichts gemein habe, schon gar nicht Geld.

Arten der Depression

Sicher habt ihr schon einmal gelesen, dass jede Depression anders ist. Aber versteht ihr auch, was das heißt? Das heißt, dass ich mich mit meinen besten FreundInnen über deren Ausprägung einer Depression unterhalten kann und genau so ungläubig zuhöre wie ihr. Das heißt, dass mir nahestehende Menschen etwas aus ihrem depressiven Alltag erzählen können, das in meinem Leben noch nie vorgekommen ist. Der größte Spagat ist für mich der zwischen meiner Depression, die in meiner Krankenakte als Antriebsstörung definiert ist und suizidalen Depressionen. In meinem gesamten Leben habe ich nicht über Suizid oder Selbstverletzung nachgedacht. Ich habe, das habe ich über die Jahre gelernt, mich zwar passiv verletzt durchs bewusst in Gefahrensituationen begeben, Suchtverhalten voll ausleben und Selbstsabotage. Aber ich habe noch nie darüber nachgedacht, dass es mich vielleicht gar nicht braucht auf der Welt. Und es ist für mein Hirn nicht greifbar, wie diese Gedanken entstehen. So wie andere mir sagen, du hast doch alles, du hast nen Garten, ne nette Wohnung, Katze, FreundInnen, kannst kochen, zeichnen, schreiben und wirst dafür bezahlt, so sage ich das wiederum anderen, die Suizidgedanken teilen. Du hast doch alles. Und mich hast du doch auch. 

Das Problem mit Depressionen ist, dass sie eben kein Spektrum sind. Es gibt nicht einen klassischen Verlauf von einer milden depressiven Verstimmung bis hin zu Suizidgedanken. Es ist auch nicht so, dass man mit einer milden Depression geboren wird und Erlebnisse im Laufe des Lebens diese verstärken. Es gibt zahlreiche Forschungsansätze dazu, welche Faktoren zu Depressionen beitragen von vererbter Krankheit über Trauma, beispielweise durch Missbrauch, bis hin zu einer kaputten Hirnchemie. Und all diese Forschungsansätze treffen auf irgendwen zu. Aber die einzelne Depression ist nicht wie die einer anderen Person. Es gibt Dinge, die teilt man mit anderen und es gibt Dinge, die unterscheiden einen komplett von allem, was man je über Depression gehört hat. Es gibt Symptome, die erzählt man einer PsychiaterIn die seit Jahrzehnten mit Menschen mit Depression arbeitet und sie hat noch nie davon gehört. 

Ein Grund dafür ist, dass jede weitere psychische Erkrankung, von denen man theoretisch einen bunten Strauß gleichzeitig haben kann, jede Suchterkrankung und jede anderweitige Einschränkung, die Depression verändern. Es ist möglich, gleichzeitig Depression, Borderline, ADHS und eine Psychose zu haben. In einem solchen Fall verschiebt jede der Erkrankungen die Symptome der anderen Erkrankungen. Die Person zeigt dann Verhaltensmuster, die zu allem ein bisschen gehören und wird zu einem wandelnden Mysterium für alle, die nur aus Laiensicht schon einmal mit einer der Erkrankungen zu tun hatte. “So benimmt sich doch kein Depressiver” ist wohl eine der am meisten mindestens gedachten Phrasen rund um die Depression, auch von anderen Menschen mit Depression. Eben weil sich nichts daran fassen lässt. Weil schon allein das in Worte fassen der Symptome und Gedankengänge die zu dem Krankheitsbild gehören viele Menschen überfordert. Es ist nicht ungewöhnlich, die eigene Depression nicht beschreiben zu können.

Ein anderer Grund ist, dass die Depression jeden Morgen anders aussieht. Es gibt Tage, da existiert sie kaum. Alles klappt, man funktioniert, man ist geheilt, es ist ein Wunder! Und es gibt Wochen, in denen man nicht einmal den Müll runterbringen kann. Mit oder ohne Medikamente, das ist dafür völlig unerheblich. 

Was ist eigentlich Depression?

Depression verändert das Hirn und das in einem so hohen Maße, dass Menschen mit Depression oft Verhaltensweisen einer Demenz aufweisen, ihre Suchtzentren auf voller Power laufen was dann wiederum Alkohol-, Drogenmissbrauch, Spielsucht und vieles mehr begünstigt und in vielen Fällen seit Jahrzehnten kein Sexleben mehr vorhanden ist, weil es für den Körper keinen Anreiz dafür gibt. Die Depression selbst begünstigt auch das Entstehen von körperlichen Krankheiten, vor allem dadurch, dass die Pflege des eigenen Körpers nicht mehr oder unter größter Kraftanstrengung aufrecht erhalten wird. Es ist dabei nicht so, dass es einen selbst nicht stört. Stattdessen steht man unter dem Druck, jetzt endlich zu duschen, sich wenigstens zu waschen, wenigstens nach Hautveränderungen abzutasten oder auch nur zu rasieren - und schafft es einfach nicht. Wochenlang, und das ist eine Sache die tatsächlich viele Menschen mit Depression in meinem Umfeld für sich bestätigen, stehe ich vor der Badewanne und denke, ich sollte jetzt aber wirklich. Ich kann doch nicht jeden Tag nur Katzenwäsche. Das ist doch Quatsch, das Duschen dauert 5 Minuten. Ich muss mich nicht mal ausziehen, ich bin grad erst aufgestanden, es wäre ein Schritt in die Dusche. Aber vielleicht morgen.

Meine Depression wurde als Antriebsstörung definiert. Der Antrieb der in meinem Fall fehlt ist nicht der Wille, irgendetwas zu tun, sondern die Möglichkeit, diesen Willen in die Tat umzusetzen. Mein Antrieb fehlt nicht psychisch sondern körperlich. In schwer depressiven Phasen fühlen sich meine Beine an, als wiegen sie 200 Kilo auf jeder Seite und mit 400 Kilo Gewichte lässt es sich schwer aufstehen aber völlig unmöglich einkaufen gehen, in den Garten oder auch nur eine Runde um den Block laufen. Der Drang, es trotzdem zu schaffen ist aber da. Und so gehe ich an einem solchen Tag beispielsweise die ersten zwei Treppen runter mit dem Müllbeutel in der Hand, dann schmerzen die Beine und ich geh wieder hoch und lass es sein. Der Rest des Tages ist jedoch nicht entspannt, ich kann nicht einfach den Müllbeutel an die Türklinke hängen und es dabei bewenden lassen. Stattdessen fährt mein Hirn das ganze Panikprogramm auf, was ich gerade tun sollte. Der Garten wird verfallen, der Müll schimmeln, die Katze verhungern, das Konto ins Minus rutschen und alles nur, weil ich an diesem Morgen nicht alles schaffe, was ich schaffen sollte - und dann ist auch schon Abend.

Und nach dem Abend ist die Woche vorbei und nach der Woche der Monat. Und nach einigen Wochen ebbt die aktuelle Phase ab und ich stehe vor einem Scherbenhaufen aus Mahnungen, Rechnungen, unerledigter Arbeit, unerledigten Steuern, unfertigen Projekten und oft auch dazu gewonnenem Gewicht, denn wer sich gar nicht mehr bewegt und hungrig und allein daheim sitzt, nimmt eben zu. (Auf das Thema der Zunahme durch Antidepressiva gehe ich im nächsten Teil noch ein.) 

So wie mir geht es nicht allen Menschen mit Depression. Viele stehen morgens auf und fahren zur Arbeit. Einige stehen morgens auf und setzen sich in den Flieger um auf wichtigen Konferenzen zu sprechen, arbeiten 16 Stunden am Tag und managen ihre Familie und Beziehung. Aber wieder andere Menschen leben seit Jahren immer und immer wieder viele Monate im Jahr auf einer geschlossenen Station einer spezialisierten Klinik, um überhaupt noch am Leben teilzunehmen. Das einzige das diese verschiedenen Leben verbindet ist, dass irgendetwas in ihrem Hirn, einige WissenschaftlerInnen nehmen eine teilweise Hormonbalance an, andere falsch verknüpfte Hirnareale oder Schutzfunktionen, dass irgendwas in ihrem Körper, in ihrer Wahrnehmung und ihrem Denken anders funktioniert als es könnte. Irgendein Mechanismus sagt “Nein. Du machst jetzt nichts mehr.” und je nach Schweregrad und Ausprägung der Krankheit bedeutet das dann, ein Auto mit 4 Platten irgendwie noch voranzubringen oder mit der Karre einige Wochen oder Monate am Stück, im schlimmsten Fall ohne Besserung dazwischen, auf der Landstraße zu stehen und das Leben an sich vorbeiziehen zu sehen. 

In Teil 2 des Depressions-Textes wird es etwas weniger theoretisch und dafür direkt unnötig persönlich. Ich erzähle, was die Depression bisher mit meinem Leben angestellt hat und ich mit ihr. Teil 3 beschäftigt sich noch einmal mit der Außensicht und formuliert Ideen, wie sich gesellschaftlich und ganz persönlich mit dieser Krankheit umgehen lässt. Auf Wunsch kann ich 2, 3 Lesetipps hinzufügen für alle, die über ihre eigene Depression näher nachdenken und Methoden erlernen möchten, damit umzugehen. 

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