Senf #7: Nicht wichtige Personen
Was wenn deine gesamte Onlinepräsenz auf einer falschen Selbstwahrnehmung aufbaut? Wie Facebook, Twitter und andere soziale Netzwerke aus uns allen Personen des öffentlichen Lebens machen und wie wir diesen Job kündigen können.
Foto: Er kennt seit 2007 jede prominente Person
Wie, du kennst meinen Channel nicht?
Schon mal auf einer Party gewesen, auf der ihr ein paar Leute lose über Social Media kanntet? Das ist doch der X von Twitter und hier die Y, die ist in meiner Facebook-Bubble. Oder wenn ihr älter oder rechts seid in eurer Telegram- oder WhatsApp-Gruppe zwischen hunderten anderen. Auf jeden Fall kennt man da ein paar Leute und vielleicht kommt man mit denen sogar ins Gespräch. Und dann muss man feststellen, dass die gleichen Leute zu denen man eine Verbindung aufgebaut hat über die Jahre einen nur so halb einordnen können. Ja, Namen schon mal gehört, aber was machst du noch mal? Warte mal, warte mal. Du kennst meinen Channel nicht? Aber ich hab doch 12.000 FollowerInnen, jede*r kennt meine Sachen. Der eine witzige Tweet vor Jahren? Der über die Pizzas (Öffnet in neuem Fenster)? Jaha, das war meiner, hehe. Was ich mache? Nee also nix mit Pizza hehe, ja war schön sich mal in echt zu sehen.
Je nach Beschaffenheit des eigenen Egos geht man dann davon aus, dass das Gegenüber sich schon noch erinnern wird später. Weil jede*r einen kennt. Oder man zweifelt an seiner gesamten Existenz, denn oft ist es längst nicht mehr das Onlineleben sondern das gesamte Leben, das einem auf Publikum ausgerichtet scheint. Und dieses Publikum wird nicht nur unterhalten, erleuchtet und mit News in Echtzeit versorgt, sondern es hört auch zu, liest mit, guckt den Stream und drückt auf Reactions. Innerhalb der eigenen Bubble fühlt man sich nicht nur so, man ist ein kleiner Star. Ein Mini-VIP, im Marketingbereich oft auch Micro-Influencer genannt weil man selbst zwar ein Publikum hat, aber nicht die Plattform einer echten InfluencerIn. Stattdessen sind es immer die gleichen hundert Leute, die Tweets faven und auf Videos kommentieren, aber es fühlt sich stabil an. Irgendwie nach mehr.
Prominent platziert
Was diese Wahrnehmung der Situation mit dem eigenen Verhalten macht, ist ganz individuell. Einige nehmen mit dem ersten “viralen” Tweet die Berufung zum Erklärbär sofort an und machen dann zehn Jahre lang nichts anderes mehr, als Hottakes zu aktuellen Themen zu posten. Die sind zwar meist völliger Quatsch, undurchdacht, auf Halbwissen basierend oder völlig fachfremd falsch, aber die Likes bilden das nicht ab. So wird man ganz schnell zum Experten für Pflegethemen, Biologie, Fotografie oder Literatur, ohne je auch nur ein Buch zu einem der Themen zu lesen. Ab einem gewissen Punkt schreibt man die Bücher ohne jegliche Recherche dann einfach selbst, der Podcast den man beim Spazierengehen gehört hat, in dem echte BiologInnen sich über Biodiversität unterhalten haben, reicht aus. Man übernimmt das Gehörte, fühlt sich so, als hätte man das selbst herausgefunden und erklärt es Dritten.
Das funktioniert mit wirklich jedem Thema hervorragend. Ich schreibe diesen Text beispielsweise völlig ohne Ansehen von Studien zum Verhalten von Personen auf Social Media. Ich nutze den Quatsch seit 18 Jahren und verlasse mich auf Gespräche und Beobachtungen an mir und anderen, die sich für Stars halten oder als Stars wahrgenommen werden von sehr kleinen Personengruppen, die viel aussehen. Aber ehrlicherweise kann es völliger Unsinn sein, wovon ich aber nichts mitbekomme, weil ich die Kommentare einfach nicht lesen muss. Das ist ja das Schöne an Social Media 2023, dass man überall Filter und Blocks reinpacken kann. Einmal kritisiert, zack geblockt und dann kann die Person auch nicht mehr unter dem nächsten sachlich falschen Tweet von mir kommentieren, dass ich das falsch verstanden hab im Podcast. Wobei auch da natürlich die Frage ist, ob wenigstens die ExpertIn im Podcast Ahnung von dem Thema hatte oder irgendwo in einem abgedunkelten Zimmer eine ExpertIn für mein Thema sitzt und weint, weil diese eine Information die ich verbreite sich immer weiter in der öffentlichen Meinung verfestigt und die eigentliche Wissenschaft dahinter niemanden interessiert.
Wissenschafts-Entertainment einmal beiseite gelassen funktioniert das natürlich auch einfach mit nichtssagenden Beiträgen. Nichts ist auf Facebook beliebter als Sprüche- und Nostalgieseiten. Da wird ein Hefeteig zum rustikalen Geheimrezept von Uroma verklärt und mit Kommentaren geteilt, dass heute niemand mehr wisse, wie man das macht. Oder noch viel einfacher “Bier und Bockwurst 5 Mark - Was kriegt man dafür heute noch?” Ja nix du Vogel, die Mark gibt es nicht mehr und das war damals schon ziemlich teuer, da hat sich dein Büdchenbesitzer die Taschen voll gemacht und du nostalgischer Hornochse hast es nicht gemerkt. Aber das steht natürlich in den Kommentaren nicht. Einige tausend Kommentare mit “Scheiß Euro” “Alles wechen die Amis und ihrer NWO” und “Ich kann von meiner Rente nämlich nicht leben” mit Thailand-Urlaub im Profilfoto sind keine Seltenheit. Die Person hinter einer solchen Seite ist selten ein Privatmensch. Diese Sprücheseiten werden von Agenturen, oft im Ausland, betrieben. Die mit der Bockwurst und dem Bier hatte im Impressum eine Adresse aus Vietnam und tägliche Werbeplatzierungen. Naja, aber du, also Günter oder Horst oder wie auch immer du heißt, du bekommst halt kein Geld dafür, wenn du diesen Beitrag mit einem wütenden Kommentar teilst und dafür noch mal 3.000 Likes bekommst.
Was verdienst du damit?
Das ist so eine der Fragen, die eigentlich in einer idealen Gesellschaft, in der sich alle frei entfalten können und die*der Kompetenteste den Zuschlag für Großprojekte, Professuren oder Buchverträge erhält, nicht notwendig wären. Da wir aber in dieser Utopie nicht leben und Menschen stattdessen ihr zigtes Buch veröffentlichen, weil sie vor Jahren mal einen witzigen Tweet geschrieben aber sich dann eben auch über bereits Prominente zum Ziel geschleimt haben, muss die Frage immer mitschwingen, wenn wir zum kleinen VIP werden. Denn längst nicht alles das heute bezahlt aussieht, ist auch bezahlt. InfluencerInnen, YoutuberInnen, StreamerInnen und viele andere, die sich online überall einbringen, erhalten in den ersten Jahren ihrer Tätigkeit keinen Cent dafür. Da werden beispielsweise teure Markenprodukte vom eigenen Geld gekauft und reviewed, damit die Marke aufmerksam wird. Die allerdümmsten behalten sie dann auch, statt sie im Rahmen der Rückgabefrist zurückzusenden. Viele manövrieren sich tief in die Schulden, bevor sie feststellen, dass ihre Berühmtheit, rein auf Likes und Views basierend, sich nicht auszahlt, weil es vielleicht von ihrer Sorte schon zu viele Leute gibt, weil ihre Nische überbesetzt ist oder den Firmen irgendeine politische Äußerung zwischen den Selfies nicht gefallen hat.
Ein guter Indikator dafür um herauszufinden, ob man eine VIP oder eine nicht so wichtige Person für das jeweilige Netzwerk ist, ist also ein Blick auf die Einnahmen. Es gibt Menschen, die sich seit Jahren so obsessiv an Themen abarbeiten, dass man glaubt, da müssten doch irgendwie Einnahmen dahinter stehen. Und zwar nicht nur auf der Seite der NutzerInnen, die vernünftige, belegte Dinge posten. Auch bei den Trollen gibt es hunderte von Accounts, die ihren Uhrzeiten nach, wann sie auf FB und Twitter kommentieren, eigentlich keinem echten Job nachgehen können. So angenehm die Erklärung der russischen Trollfabriken da auch erscheint, Personen wie der, völlig zu Unrecht, eine zeitlang überall interviewte Uwe O. (Öffnet in neuem Fenster) setzen sich tatsächlich morgens mit Laptop oder Handy nach dem Frühstück auf die Couch und verfassen dort den volksverhetzenden Dreck in Akkordarbeit. Am Ende des Tages blicken sie zufrieden auf ihr Machwerk zurück - bis dann irgendwann Post von der Staatsanwaltschaft kommt. Sie verdienen damit keinen Cent.
Auch politisch unangenehme AkteurInnen, die von Demos streamen oder Leuten mit Aktivismus auf die Nerven gehen, verdienen dadurch so wenig Geld, dass einige von ihnen letztlich nicht wegen Verhetzung oder Beleidigung einfahren, sondern weil sie ihre Rechnungen nicht mehr zahlen können oder wollen. Ein Freund meinerseits, der sich als besonders bekannter VIP fühlt, aber tatsächlich nur ein paar Leuten online bekannt ist, sitzt tief in den Schulden. Da er allerdings auch ein völliger Trottel ist, hat er mehrmals Clips für Coronaleugner und AfDler gedreht in der naiven Hoffnung, die würden ihm dafür Geld geben. Einen Döner gab’s mal von der AfD und bei den Leugnern hin und wieder ein Bier.
Der Blick auf die eigenen Finanzen kann also helfen, nicht herauszufinden wie bekannt man selbst ist, sondern vor allem, ob die eigene als Arbeit empfundene Tätigkeit anderen etwas wert ist. Es hilft nicht, einige zehntausende FollowerInnen zu verzeichnen und viele Likes zu erhalten, wenn niemand einen dafür bezahlt, Werbekunden vom Auftritt abgeschreckt sind oder am Ende sogar die Hausvermietung kündigt, weil das Geklingel von Fans und Hatern die anderen MieterInnen stört.
Sorry, aber hier geht's nur mit Abo weiter. Gibt es aber schon für paar Euro im Monat.
Ja, hab ich grad über. (Öffnet in neuem Fenster)
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