Senf #5: Höflichkeit
Seit rund drei Jahren entscheiden fremde Menschen in unregelmäßigen Abständen darüber, ob ich auch abseits der Gesetzgebung für meinen eigenen und den Schutz vulnerabler Personen eine Mund-Nasen-Maske trage und weisen mich darauf hin, dass sie es unhöflich finden, mein Gesicht nicht sehen zu können. Aber das kenne ich schon aus anderen Debatten. Über Unhöflichkeit und “Manieren”.
Kolonialgeschichte
Als das viktorianisch imperialistische England im frühen 19. Jahrhundert begann, seine Sitten und Bräuche rund um korrektes Verhalten in die Welt zu exportieren und Menschen, die nie einen Fuß auf britischen Boden setzen würden, dazu zu erziehen, gute britische Staatsbürger zu werden, ahnte wahrscheinlich nicht einmal die Queen selbst, dass dieser neue Konservatismus 300 Jahre lang überleben würde. Länder wie Ägypten, Sudan, Malaysia, Indien, Pakistan und Jamaica waren nicht nur britisch besetzt oder eine der 57 britischen Kolonien, sondern wurden auch konsequent umerzogen. Wer unter britischer Besatzung freundlich behandelt werden wollte, musste sich britisch kleiden und verhalten. Dazu gehörte es beispielsweise, lange, den ganzen Körper bedeckende Kleidungsstücke und Gesichtsschleier wenn man zum christlichen Gottesdienst ging oder Kopfbedeckung wenn man als Frau ledig war zu tragen, aber auch, mit Messer und Gabel zu essen, aus angemessen Gläsern zu trinken und in einer monogamen, heterosexuellen Beziehung zu leben. Verdrängt wurden dafür beispielsweise Sprachen, traditionelle Arten zu kochen und zu essen, aber auch die Art wie sich Familien und Stämme zuvor gebildet hatten. Unter britischer Besatzung war es nicht sittlich, in einem lockeren Verband zu leben und ohne Heirat sexuelle Kontakte oder gar Kinder zu haben. Alles was der Queen theoretisch nicht gefallen hätte, wurde verdrängt. Queen Victoria hat übrigens in ihrer gesamten Lebenszeit nie Europa verlassen, nicht mal für eine kurze Reise. Sie war ein grauenhaftes Phantom, das omnipräsent über jedem noch so kleinen Dorf schwebte, der Boogeyman der einen holt, wenn man als Frau seinen Kopf nicht artig bedeckt.
Neben allen anderen Verbrechen der Kolonialherrschaft hatte das einen so einschneidenden Effekt in die Geschichte und Tradition von Ländern überall auf der Erde, dass Menschen wortwörtlich vergaßen, wie sie zuvor gelebt hatten. In den letzten Jahrzehnten haben WissenschaftlerInnen versucht, diese Zeit aufzuarbeiten, indigene Sprachen wiederzuentdecken, geraubte Kunst in einen Kontext zu stellen, der Menschen ihre eigene Geschichte wieder zugänglich machte. So beschreibt Thomas Bauer in “Die Kultur der Ambiguität” beispielsweise einen Islam, der die viktorianischen Sitten so sehr verinnerlicht hat, dass er selbst daran glaubt, dass Homophobie, Kopftücher und konservative Familienbilder aus der muslimischen Tradition stammten. Tatsächlich diskutierten stattdessen Gelehrte seit Religionsstifter Mohammed ausführlich die gesamte Bandbreite eines modernen, offenen Sexlebens (Öffnet in neuem Fenster) und kannten natürlich auch uneheliche Beziehungen, Konsent und ungewollte Schwangerschaften. Das Thema hätte Queen Victoria selbst eventuell sogar interessiert, wenn sie Zeit für philosophische Bildung gehabt hätte, denn sie wurde als eine Art royale Gebärmaschine genutzt, die nacheinander neun Kinder zur Welt bringen musste und danach depressiv das Haus nicht mehr verließ.
Bild: Queen Victoria absolut begeistert mit all ihren Kindern und Verwandten, Matthew White Ridley, 1877, Public Domain
Knigge
Aus der gleichen Zeit wie die Regeln zur Lebensführung nach Victorias Weltbild stammte auch das Buch “Über den Umgang mit Menschen” von Adolph Knigge, euch als “Knigge” bekannt. Natürlich weiß heute, außer der sehr großen, bizarren Branche der BenimmlehrerInnen ("Knigge-TrainerInnen", "Royal etiquette training" usw.) niemand mehr, was da eigentlich drinne steht. Knigge lebte zur exakten Zeit, in der auch Victorias Eltern ihre Umgangsregeln erlernten, vor rund 300 Jahren. Man hat nur so ein diffuses Gefühl, dass dieses und jenes Verhalten etwas sein könnte, das Knigge gefallen würde, einem Mann der 1796 im Alter von 44 Jahren starb und dieses, offenbar der westlichen Welt so wichtiges Werk, im Alter von 34 Jahren schrieb, es erschien als er 36 Jahre alt war. Entgegen der Vorstellung vieler starben Menschen damals nicht automatisch mit Ende 30, das niedrige Durchschnittsalter war vielmehr in der extrem hohen Säuglingssterblichkeit durch mangelnde medizinische Versorgung begründet. So starb Knigge z.B. mutmaßlich an Gallensteinen. Knigge war für seine Zeit weder alt noch besonders weise, wenn auch gut vernetzt und belesen. Er war ein Mittdreißiger mit Vorstellungen, wie sich, besonders junge Frauen, zu benehmen hatten.
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Ja, hab ich grad über. (Öffnet in neuem Fenster)
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