Aufprall mit Ansage
Christine Southworth: Super Collider (2010)
In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich regelmäßig nicht so bekannte Musikstücke vor, die ich hörenswert finde – mal sind sie einfach schön, mal schwierig, aber immer sind sie interessant. Da selbst Klassik-Spezis diese Stücke oft nicht kennen, herrscht Waffengleichheit. Hier ist alles für alle neu! Recherche und Schreiben kosten Zeit, also freue ich mich über deine freiwillige Unterstützung auf Steady (Öffnet in neuem Fenster).
Der Large Hadron Collider in seinem fast 27 Kilometer langen Tunnel / © Maximilien Brice, CERN / LHC Tunnel (Öffnet in neuem Fenster) / CC BY-SA 4.0 CC BY-SA (Öffnet in neuem Fenster) (Ausschnitt)
Wer Musik komponiert, die von Höchstgeschwindigkeiten inspiriert ist, befindet sich in guter Gesellschaft. 1923 vertonte Arthur Honegger die Fahrt mit einer Dampflok (“Pacific 231”), 1986 stieg John Adams musikalisch in einen Sportwagen (“Short Ride in a Fast Machine”), aber gegen die Musik, die ich heute vorstellen will, ist das alles Pipifax.
Die Inspiration zu Christine Southworths Stück “Super Collider” ist die größte in der Menschheitsgeschichte jemals gebaute Maschine: der fast 27 Kilometer lange Large Hadron Collider (LHC) in einem ringförmigen Tunnel unterhalb der französischsprachigen Schweiz und Frankreichs. In diesem Teilchenbeschleuniger werden Protonen oder Bleikerne bei nahezu Lichtgeschwindigkeit zur Kollision gebracht. Damit soll herausgefunden werden, ob unsere – teilchenphysikalische – Vorstellung von der Welt stimmt oder nicht.
Die schiere Größe der Anlage, die absurde Geschwindigkeit der Teilchen, die Monumentalität der zu klärenden Fragen – dieses Riesenexperiment gab der Fantasie der 1978 geborenen Christine Southworth Zunder. Ein Aufprall mit Ansage findet sich auch in ihrem Stück für Streichquartett und elektronisch verfremdetes Gamelan-Ensemble.
Gamelan heißen unterschiedlich zusammengesetzte Ensembles in der Musik Indonesiens. Oft kommen Bronzegongs, Metallophone (Xylophone mit Metallstäben) und Kendang-Trommeln zum Einsatz. Die ältesten Belege für die Existenz von Gamelan-Ensembles stammen aus dem achten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Streichquartette hingegen sind neumodisches Zeug – es gibt sie erst seit dem achtzehnten Jahrhundert. Sie bestehen aus zwei Geigen, einer Bratsche und einem Cello und sind die beliebteste Kammermusikbesetzung.
In Southworths Musik kollidieren nun diese beiden Musiktraditionen, aber nicht nur das: Das gesamte Gamelan-Ensemble ist mit einem Computer über eine Elektronik verbunden, die Alex Rigopulos, der Erfinder der Videospielreihe “Guitar Hero”, entwickelt hat. Dieses “Gamelan Elektrika” genannte Setup besteht aus einem Macbook und den daran angeschlossenen Gamelan-Instrumenten. Die Person am Laptop kann dann den Klang des gesamten Ensembles zusammen verändern anstatt nur den einzelner Instrumente. Das mag trivial klingen, offenbart aber eine völlig andere Herangehensweise als beim klassischen Synthesizer, der aus dem Klavier und der einen Person, die es üblicherweise bedient, hervorgegangen ist. Bei der Gamelan Elektrika ist der Computer quasi ein neues Instrument, das aber von mehreren Menschen gleichzeitig gespielt wird.
Wie hört sich denn nun diese Musik an? Sie beginnt mit dem metallischen Klang der Gamelan-Bronzegongs und -zimbeln, der aber sofort merkwürdig mechanisch abgeschnitten klingt. Man ahnt gleich, dass das keine unbehandelten akustischen Instrumente sind. Später steigt dann das Streichquartett ein, das gegen den klassischen Strich gebürstet wird. Es präsentiert nicht melodische Ideen, die nach bestimmten Regeln variiert und verarbeitet werden (wie in klassischen Streichquartetten), sondern es produziert erst einen arabisch anmutenden Sound, nur um kurz danach als basslastige Rhythmus-Kombo zum Einsatz zu kommen: Es ist ein mit Höchstgeschwindigkeit auf das elektrifizierte Gamelan-Ensemble gepralltes Streichquartett.
Southworths Musik wird manchmal als “post-minimalistisch”bezeichnet, weil sie zwar Elemente der sehr repetitiven Minimal Music aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwendet (ihr Popstar ist Philip Glass), aber dann passiert da noch sehr viel mehr. Ein bisschen sehr viel mehr und so viel Ungewohntes mehr, dass man diese Musik nicht nebenbei hören kann. Viele werden sie wohl gar nicht hören wollen. Aber das muss uns auf den Schleichwegen nicht kümmern – du brauchst keinen Teilchenbeschleuniger, um ein neues Bild auf die Welt zu bekommen, Christine Southworths Musik reicht vielleicht schon aus:
https://www.youtube.com/watch?v=T0UeFfF3GvY (Öffnet in neuem Fenster)Und hier geht es zum Streaming (Öffnet in neuem Fenster).
Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel
P.S.: Besonderer Dank geht an Christian Möller (Öffnet in neuem Fenster), der mich auf dieses Stück aufmerksam machte.
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