Zum Hauptinhalt springen

Das ist zu einfach

Moritz Moszkowski: Klavierkonzert in E-Dur, op. 59 (1898)

Kurz nach 9/11 erwähnte R., einer meiner besten Freunde, dass “die Juden” ja vor den Anschlägen gewarnt worden und deshalb am 11. September 2001 nicht zur Arbeit in den Twin Towers erschienen wären. Ich war so perplex, nicht nur ob der Monstrosität der Behauptung, sondern wegen der Beiläufigkeit, mit der sie abgeliefert wurde, dass sich augenblicklich mein Herzschlag beschleunigte.

Einer meiner besten Freunde glaubte also ernsthaft, dass eine jüdische Verschwörung hinter den Anschlägen mit tausenden Toten steckte. Und er hielt diese Story für offenbar für derart plausibel, dass er sie mir nicht mal als unfassbaren Skandal präsentieren, sondern in einem Nebensatz kundtun konnte, so wie man sagt, dass es ja nächste Woche leider durchregnen wird. Und zudem hielt er es offenbar für völlig in Ordnung, diese Information mit jemandem zu teilen, dessen Vater als Jude aus der Sowjetunion geflohen, in Israel Asyl erhalten hat und dort sieben Jahre gelebt hat.

Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte mit dem, was Jahre später als debunking in meinen aktiven Wortschatz übergehen sollte. Ich versuchte es mit einer extrem simplen Strategie. Ich sagte: Schau dir doch bitte die Namen der Opfer an, die Liste sei doch garantiert voller jüdischer Namen wie Rosenbaum oder Rosenblatt. Tatsächlich ließ sich das damals schon schnell durch Onlinerecherche bestätigen und zu meiner größten Überraschung war R. überzeugt. Die “naheliegende” Folgeverschwörung, die Opferlisten seien gefälscht, kam nicht auf.

In Atom Egoyans Film “Exotica” von 1994 gibt es folgenden Dialog:

“Why did you believe him?”
“I made a choice.”

Menschen entscheiden sich, was und wem sie glauben wollen. Tatsachen, Fakten, wissenschaftliche Erkenntnisse sind nur Begleitmusik solcher Entscheidungen. Ihre Überzeugungen machen Menschen an Personen fest. Und die Menge der Personen, von denen man hört und denen man sich entscheiden kann, zu glauben, ist mit dem Erfolg von sozialen Medien und Suchmaschinen explodiert. Ich werde jemanden finden, dem ich glauben will, egal was ich glaube.

2011 habe ich mal jemanden gedatet, an dem alles toll war, bis er anfing, von Chemtrails zu reden. Ich weiß nicht, wie viele Verschwörungstheoretiker den Klassiker heute noch glauben, die Regierung brächte über Verkehrsflugzeuge absichtlich irgendwelche Chemikalien in die Atmosphäre ein, die Einfluss auf das Wetter, unsere Gedanken oder die Fruchtbarkeit haben. Ich antwortete meinem Date, es müssten so viele Leute in diese Geschichte eingeweiht sein, das käme doch sofort raus. Er meinte, ich würde da “zu einfach” denken und machte ein wissendes Gesicht.

Seit diesem Treffen war es für mich also denkbar, Menschen zu kennen, die ganz normal wirken und die die ungeheuerlichsten Sachen glauben.

Ab ungefähr 2015 steigerte sich die Frequenz, mit der Facebook- und richtige Freunde Sachen sagen, die ich als so hanebüchen empfinde, dass ich nicht weiß, was ich tun soll. Anfangs habe ich noch diskutiert, meist mit ostentativer Gelassenheit, um die Macht der Argumente in aller Ruhe ihre Arbeit machen zu lassen. Das war mit wenigen Ausnahmen völlig wirkungslos. Diese Leute hatten sich entschieden, was sie glauben wollten – und wem.

Wenn man diesen Leuten dann etablierte, seriöse Ausarbeitungen zu den Themen empfiehlt, wird Etabliertheit und Seriosität als Beleg für die Unglaubwürdigkeit der Quellen umgedeutet. Die stecken doch alle unter einer Decke, zentral gesteuert, gleichgeschaltet. Wer so etwas glaubt, dem sei nicht zu helfen. Verschwörungsgläubige verweisen auf komplexe Interessensverstrickungen, wenn man eine schlichte Erklärung, zum Beispiel für Kondensstreifen, anbietet: “Das ist zu einfach.”

Auch wenn vor populistischen Bewegungen immer gewarnt wird, sie versprächen “einfache Antworten”, so sind die Verschwörungstheorien ihrer Anhänger doch meist ziemlich komplex. Die Zurückweisung der plausibelsten Erklärungen stellt sich bei ihnen als besonders starkes Maß an Aufklärung dar: Sie glauben nicht einfach alles, was ihnen (von der Regierung, den öffentlich-rechtlichen Medien, etc.) präsentiert wird. Dafür glauben sie, was ihnen von denen präsentiert wird, denen sie sich entschieden haben, zu glauben. Die Tatsache, dass diese Leute keine etablierten Plattformen im Rücken haben, gerät ihnen dabei als Beleg für ihre Unterdrückung. Was Verschwörungstheorien weiter bestärkt. 

Verschwörungsgläubige werden sich nicht von ihren Überzeugungen abbringen lassen, wenn ihre (gemeinsame) Abweichung identitätsstiftend geworden ist. Sie würden aufhören, sie selbst zu sein, sie bleiben lieber “skeptisch” aus Bequemlichkeit und aus Angst vor der Beschädigung eines Selbstbilds, das eine Revision nicht zuließe. Es ist die Discount-Version des Skeptizismus, die nur einmal verwendet werden kann und nicht auf sich selbst.

Und damit wären wir bei Moritz Moszkowskis E-Dur-Klavierkonzert von 1898. Niemand weiß, warum es so gut wie nie gespielt wird, obwohl es ein wunderbares Beispiel romantischer Klaviermusik ist. Die oft genannte Begründung, die aber in einen Zirkelschluss mündet: Weil niemand Moszkowski kennt.

Eine interessantere Erklärung: Das Stück ist nicht wahnsinnig schwer zu spielen – im Vergleich zu einem Rachmaninow-Klavierkonzert aus der gleichen Epoche. Wenn ein:e Pianist:in sich schon die Arbeit macht, ein unbekanntes Stück zu lernen und dann nicht mal zeigen kann, was sie oder er alles kann, dann kommt es eben nicht zur Aufführung. Ich habe keine Ahnung, aber wenn die Theorie stimmt, dann wird Moszkowskis E-Dur-Klavierkonzert nicht gespielt, weil es “zu einfach” ist.

Meine Vermutung ist ein bisschen billiger, aber vermutlich nicht falsch: Es gibt keinen Grund. Nicht alles hat einen Grund. Es gibt auch keine Verschwörung. Das Konzert ist grundlos völlig unbekannt.

Ich liebe diese Musik sehr und würde mir wünschen, sie einmal live zu hören. Und dann am besten in einer so frischen Interpretation wie der des Pianisten Joseph Moog, zusammen mit der Deutschen Radio Philharmonie unter Nicholas Milton.

Hört euch eines der schönsten unbekannten Klavierwerke an, die ich kenne (und ich kenne einige). Die von mir favorisierte Aufnahme mit Joseph Moog am Klavier gibt bei den gängigen Streamingdiensten (Öffnet in neuem Fenster) oder hier als vier einzelne Videos bei YouTube. Los geht es mir dem ersten Satz, weiter unten sind auch die restlichen drei Sätze verlinkt:

https://www.youtube.com/watch?v=o8u5uzRTGuI (Öffnet in neuem Fenster)

Zweiter Satz (in dem das Klavier teils von einer Harfe begleitet wird, was auch so gut wie nie passiert):

https://www.youtube.com/watch?v=Z-DokexYToE (Öffnet in neuem Fenster)

Dritter Satz:

https://www.youtube.com/watch?v=rlcHZbL9u68 (Öffnet in neuem Fenster)

Vierter Satz:

https://www.youtube.com/watch?v=HuuQrxBBPFU (Öffnet in neuem Fenster)

Das gesamte Konzert am Stück, in einer für meinen Geschmack etwas zu langsamen Interpretation, dafür kostenlos und mit Noten, gibt es hier auf YouTube (Öffnet in neuem Fenster).

Schöne Grüße aus Berlin!
Gabriel

P.S.: Vielen Dank an alle, die diesen Newsletter unterstützen. Wenn er auch dir ein Paar Euro im Monat wert ist, freue ich mich über deine Unterstützung (Öffnet in neuem Fenster).

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Gabriel Yoran: Schleichwege zur Klassik und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden