Die neuen Kadenzen sind da
Beethoven: Violinkonzert mit neuen Kadenzen von Jörg Widmann
Die heutige Ausgabe der Schleichwege wird präsentiert von note 1 music (Öffnet in neuem Fenster). note 1 vertreibt nicht nur ein breites Spektrum noch so nischiger Klassik, sondern produziert mit eigenen Labels auch Aufnahmen von Musik, die man nicht überall hören kann. Das heutige Stück ist Bestandteil des Katalog von note 1. Auf meinen Text hat der Sponsor keinen Einfluss.
In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich Musik vor, die du vielleicht noch nicht kennst. Und ich liefere das Schuhwerk für deinen eigenen Schleichweg dazu. Das sind Vorschläge und Hinweise, mit denen du die Musik besser verstehen und damit mehr genießen kannst. Aber solche Texte machen Arbeit und kosten Zeit. Daher bitte ich dich: Unterstütze meine Arbeit mit einer Mitgliedschaft (Öffnet in neuem Fenster) (für 5 Euro im Monat) oder einem Sponsoring (Öffnet in neuem Fenster)(für 250 Euro im Monat). Als Sponsor erreicht deine Botschaft über tausend freundliche, neugierige und feinsinnige Menschen.
Der Klarinettist, Komponist und Dirigent Jörg Widmann (Foto: Marco Borggreve)
Meist am Ende des letzten Satzes eines Konzerts, aber auf jeden Fall kurz vor dem Schluss eines Satzes, setzt das Orchester zu einem letzten dramatischen Aufschwung an, die Musik treibt eindeutig einem zwingenden Ende entgegen. Aber dann, im Moment größtmöglicher Spannung, wird der dahin rasende symphonische Schnellzug angehalten, aber nicht rumpelnd und quietschend, sondern instantan. Tatsächlich erscheint die Physik ausgehebelt, die Naturgesetze machtlos, die musikalische Welt von einer Sekunde auf die nächste wie eingefroren.
In dieser abrupten Stille beginnt die Kadenz. Die Solistin hat die Bühne für sich alleine. Die Kadenz ist ein irrealer Ort, an dem die Zeit stillsteht und Freiheit herrscht. Keine Noten schreiben vor, was zu spielen ist. Die Musikerin ist frei. Aber Freiheit verdient, durch Prinzipien geregelt zu werden, sonst ist es keine Freiheit, sondern Anarchie. Und das Prinzip der Kadenz lautet: Der Solist verbeugt sich vor dem musikalischen Material.
Es wird in der vorangegangenen Musik ein oder zwei prägnante Themen (Melodien) gegeben haben, die immer wieder vorkamen. Meist gibt es zwei verschiedene davon, die sich wie im Drama bekämpfen, aber sich zumindest irgendwie miteinander befassen. Diese musikalischen Ideen greift der Musizierende in der Kadenz auf und improvisiert über sie. Er bringt seine eigenen Ideen ein, aber mit Rücksicht auf die Ideen des Werks, das ihm diese Gelegenheit überhaupt erst eingeräumt hat. Aber vor allem ist die Kadenz der Ort der freien Improvisation.
Das war er zumindest bis Anfang des 19. Jahrhunderts. Mit Beethoven änderte sich das: Er selbst improvisierte zwar, schrieb aber für andere Solisten, nicht zuletzt für die der Nachwelt, Kadenzen nieder. (Mehr dazu im Blog des Henle-Musikverlags (Öffnet in neuem Fenster).) Die niedergeschriebenen Kadenzen wurden der Standard und wer heute in ein Konzert geht, wird wohl eher keine improvisierte Kadenz hören. Im Gegenteil: Es haben sich Standardkadenzen etabliert.
Es entbehrt nicht der Ironie, dass sich die Kadenz, dieser schwerelose Ort virtuoser Freiheit, zu einer verregelten musikalischen Standardsituation verhärtet hat, in der die immer gleiche Musik gespielt wird. Was der Kadenz historisch passiert ist, ist das Ergebnis einer musikalischen Professionalisierung, die Homogenität, technische Perfektion und Erwartbarkeit des Ergebnisses dem Risiko einer Improvisation vorzieht. Ja, besser man spielt eine bekannte auswendig gelernte, starke Kadenz als eine schwache selbst improvisierte. Und doch: Immer die gleiche Musik da zu spielen, wo man immer neue hätte hören können – das ist doch auch ein bisschen fad.
Zu seinem einzigen vollendeten Violinkonzert hat Beethoven keine Kadenz notiert. Die Violinisten Joseph Joachim und Fritz Kreisler schrieben die Kadenzen, die wir heute noch üblicherweise im Konzertsaal zu hören bekommen. Es gibt sehr viel seltener gespielte, zum Beispiel von Camille Saint-Saëns und Louis Spohr. Und seit ein paar Monaten gibt es ganz neue Kadenzen, von dem deutschen Klarinettisten und Komponisten Jörg Widmann.
Für die unglaublich gute Geigerin Veronika Eberle schrieb Widmann drei neue Kadenzen, eine für jeden Satz des Beethoven-Violinkonzerts. Und was Widmann da abliefert, ist ausufernd, verspielt, gewitzt – und so gemäßigt modern, dass man es auf Anhieb mit großer Freude hören kann. In den Widmann-Kadenzen verlassen wir kurz den Höhepunkt der Klassik (im engsten Wortsinn) und besteigen eine Zeitmaschine, wenn schon nicht in die Moderne, dann doch in so eine Art Post-Postmoderne, wo die Beethoven-Motivik auch mal für ein paar Sekunden durch eine texanische Squaredance-Nummer geschleift wird (es ist super).
Im Gegensatz zu den allermeisten Kadenzen, die für das Solo-Instrument alleine geschrieben wurden, fügt Widmann der Geige ein Kontrabass, eine Pauke und eine weitere Violine hinzu. Die Pauke spielt eine Schlüsselrolle im Beethoven-Violinkonzert – mit ihren fünf leisen Schlägen beginnt das Konzert und dieses Motiv wird später noch mehrmals aufgegriffen. (Für eine nicht erhaltene Klavierfassung des Violinkonzerts schrieb Beethoven selbst eine Kadenz für Klavier und Pauke.)
Und lang sind diese neuen Kadenzen! Von den vierzehneinhalb Minuten des zweiten Satzes gehen mehr als ein Drittel auf Widmanns Konto, so viel Zeit gönnt er der Kadenz für das Larghetto. Widmanns Musik schafft eine paradoxe Atmosphäre andächtiger Respektlosigkeit. Seine Liebe für diese Musik, die die Jahrhunderte überdauert hat, ist aber jederzeit unüberhörbar – weshalb sich der Moment, wenn Beethoven am Ende der Zeitreise wieder übernimmt, so anfühlt, als wäre man nie weg gewesen.
1. Satz (Kadenz bei 19:56 (Öffnet in neuem Fenster)):
https://www.youtube.com/watch?v=V_3c6AKU6CY (Öffnet in neuem Fenster)2. Satz (Kadenz bei 9:30 (Öffnet in neuem Fenster)):
https://www.youtube.com/watch?v=YcCKGnXaFho (Öffnet in neuem Fenster)3. Satz (Kadenz bei 6:52 (Öffnet in neuem Fenster)):
https://www.youtube.com/watch?v=qWcQxJKwgH0&list=RDYcCKGnXaFho&index=2 (Öffnet in neuem Fenster)Nochmal die Kadenzen in der Übersicht:
im 1. Satz bei 19:56 (Öffnet in neuem Fenster)
im 2. Satz bei 9:30 (Öffnet in neuem Fenster)
im 3. Satz bei 6:52 (Öffnet in neuem Fenster)
Und hier gibt es das ganze Konzert im Streaming (Öffnet in neuem Fenster). Es ist die gleiche Aufnahme wie im YouTube-Video, die Zeitangaben für die Kadenzen stimmen also überein.
Unterstützt die Musiker*innen sowie das eigene Label des London Symphony Orchestra, das erschwingliche Aufnahmen ermöglicht, mit dem Kauf der CD (Öffnet in neuem Fenster). Streaming alleine kann die Produktion eines breiten Repertoires klassischer Musik nicht finanzieren.
Alles Gute aus Berlin
Gabriel
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