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Smooth Criminals

Gavin Bryars: A Man in a Room, Gambling (1992)

In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich regelmäßig nicht so bekannte Musikstücke vor, die ich hörenswert finde – mal sind sie einfach schön, mal  schwierig, aber immer sind sie interessant. Da selbst Klassik-Spezis diese Stücke oft nicht kennen, herrscht Waffengleichheit. Hier ist alles für alle neu! Recherche und Schreiben kosten Zeit, also freue ich mich über deine freiwillige Unterstützung auf Steady (Öffnet in neuem Fenster).

Der englische Komponist Gavin Bryars / Foto: zioWoody, CC BY-NC-ND 2.0 (Öffnet in neuem Fenster), via flickr (Öffnet in neuem Fenster)

Gavin Bryars’ Stück “A Man in a Room, Gambling” handelt von Verführung, von einem Spiel, auf das man sich einlässt, ohne es zu wissen. Es geht um Betrug, aber einen so eleganten Betrug, dass die Betrogenen sich glücklich schätzen können, derart über den Tisch gezogen worden zu sein.

Die Komposition, die die BBC in Auftrag gegeben hat, besteht aus zehn kurzen Stücken für Streichquartett und aufgezeichnete Stimme. Die Stimme gehört dem spanischen Multikünstler Juan Muñoz, der kurze Texte über die korrekte Durchführung von Kartentricks vorträgt. Teile dieser Texte enstammen dem 1902 erschienen Buch “The Expert at the Card Table”, das Pseudonym des kanadischen Autors ist S.W. Erdnase (kein Witz). Seine wahre Identität ist bis heute unbekannt.

Muñoz’ Text ist eine nonchalant vorgetragene, präzise Anleitung zum Betrug. “Shuffle it, deal, and – why not – give yourself an extra card.” Es sind Tricks und Täuschungsmanöver, aber selbst die heißen auf englisch “artifices and subterfuges”, was eher nach Kunsthandwerk als nach Gaunerei klingt. Den Anweisungen für die unseriösen Machenschaften kann man kaum folgen und das ist weder Muñoz’ noch Erdnases Schuld, sondern die des dritten brother in crime, Bryars. Denn eh man sich’s verhört, ist man in seinen betörenden, post-minimalen (also historisch nach der minimal music à la Philip Glass kommenden) musikalischen Phrasen versunken und nimmt nur noch das samtige spanische Idiom von Muñoz wahr, genußvoll ignorierend, welche Frechheiten da vorgetragen werden. Alles smooth criminals.

Ihr könnt euch jetzt das achte der zehn Stücke anhören – und bei Gefallen natürlich auch alle anderen. Das achte endet mit dem schönen Tipp, beim Pokern immer nur nach innen zu lächeln, nie nach außen. Als Bryars-Zuhörer*in lächelt man natürlich doch nach außen, aber da steht ja nicht so viel auf dem Spiel.

Die Fassung von “A Man in a Room, Gambling”, die ich euch heute vorstelle, instrumentierte Bryars selbst für eine größere Besetzung neu, aber auch die Originalversion für Streichquartett ist hörenswert, wenn auch nicht gerade innovativ. Bryars gefällige Komposition ist selbst ein kleine Flunkerei, wenn auch nur auf aufmerksamkeitsökonomischer Ebene. Denn durch die Überlagerung mit den Texten aus dem Trickserhandbuch bekommt eine Musik, die sonst vermutlich wenig Aufmerksamkeit erhalten hätte, ein neues, (nach innen oder außen) lächelndes Publikum.

Der Pokerspezialist Steve Forte behauptet übrigens, S.W. Erdnase sei “weder ein professioneller Falschspieler, noch […] Experte am Kartentisch [gewesen]”. Vielmehr soll er nur vorgetäuscht haben, Falschspieler zu sein. Forte sollte es wissen, er ist Autor eines Standardwerks – für Kartentricks.

https://www.youtube.com/watch?v=YBMztpxW7bE (Öffnet in neuem Fenster)

Hier findest du das Stück bei den Streamingdiensten (Öffnet in neuem Fenster).

Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel

P.S.: Danke, dass du die Schleichwege abonniert hast. Ich freue mich über deine Unterstützung auf Steady (Öffnet in neuem Fenster). Als kleinen Dank erhältst du eine Spotify-Playlist mit einhundert Lieblingsstücken zum Entdecken.

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