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Die Leute wollen einen echten Cramer!

Johann Baptist Cramer: Klavierkonzert Nr. 8 (1825)

In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich regelmäßig nicht so bekannte Musikstücke vor, die ich hörenswert finde – mal sind sie einfach schön, mal  schwierig, aber immer sind sie interessant. Da selbst Klassik-Spezis diese Stücke oft nicht kennen, herrscht Waffengleichheit. Hier ist alles für alle neu! Recherche und Schreiben kosten Zeit, also freue ich mich über deine freiwillige Unterstützung auf Steady (Öffnet in neuem Fenster).

Als Künstler*in Geld verdienen zu müssen, ist schlimm genug; Geld verdienen zu wollen, geht hingegen gar nicht. Das ist zumindest das romantische Bild vom Kunstschaffenden, mit dem ich groß geworden bin, und ich glaube, ich bin damit nicht alleine. Es scheint, dass das Idealbild des hungernden Künstlers ein spezifisch deutsches Ding ist, anderswo sieht die Welt nämlich ganz anders aus (sie sieht auch hierzulande in Wirklichkeit ganz anders aus, aber wir reden ja von einem Idealbild).

In den USA, aber auch in Großbritannien ist es überhaupt keine Frage, dass ein Mensch, der Kunst macht, etwas zu verkaufen hat: Gemälde, Gedichte, Klavierkonzerte. Oder eben – Klaviere. So hat es nämlich Johann Baptist Cramer angestellt, dessen originelle Klavierkompositionen nur noch von seinem Business sense getoppt werden.

Cramer wurde 1771 in Mannheim geboren, kam aber schon als Dreijähriger mit seinen Eltern nach London, man kann ihn also mit Fug und Recht als Engländer bezeichnen. Er bekam Kompositionsunterricht bei Hélène de Montgeroult am Pariser Konservatorium, wurde ein anerkannter Pianist (die Queen war Fan) und dann war er auch noch mit Beethoven befreundet. Cramer war ein Star.

Aber interessanter als das finde ich seinen Geschäftssinn. So benamste er Beethovens 5. Klavierkonzert. Wegen ihm heißt das Stück in der englischsprachigen Welt Emperor Concerto, also ”Kaiserkonzert”. Cramer wusste, was er tat. Er fand ein Bild für die Musik, die er als ”heroisch” empfand – einen Kaiser, irgendeinen. Keiner weiß, wer gemeint ist, es ist auch völlig egal, der Zweck war erfüllt. Emperor kann man sich leichter merken als ”5. Klavierkonzert” und diese Brandingstrategie aus dem ganz frühen neunzehnten Jahrhundert funktioniert bis heute.

Aber sowas macht ein Cramer natürlich nebenbei, als Freundschaftsdienst. Sein eigentliches Geschäftsmodell hat er sich bei seinem anderen Lehrer, dem italienischen Komponisten Muzio Clementi abgeschaut, der seit den 1790ern Klaviere bauen und Musik verlegen ließ – von einem Unternehmen, seinem. 1824 gründete Cramer mit Geschäftspartnern Cramer, Addison & Beale. Das Unternehmen könnte man einen kleinen Medienkonzern nennen. Es verlegte Noten und baute Klaviere. Die Synergieeffekte waren beachtlich, vor allem im Marketing, und vor allem, weil der Chef ja auch noch Komponist war. So schrieb und verlegte Cramer einfache Klavierstücke, damit auch Anfänger*innen ”einen echten Cramer” auf ihrem Cramer-Piano spielen konnten. Und für die Profis (und sich selbst) komponierte er halsbrecherisch schwere Konzerte, die jeden Auftritt wieder zu Werbung für seine Klaviere machten. Ein echter Cramer, verlegt bei Cramer, gespielt auf einem Cramer, vom echten Cramer. What's not to like!

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Und wie klingt so ein echter Cramer? Originell, überraschend, eingängig klingt er. Hört mal in den letzten Satz seines 8. Klavierkonzerts rein. Er beginnt mit Pizzicati (also mit dem Finger gezupften statt mit dem Bogen gestrichenen Saiten) in den Streichern, auch einige Blasinstrumente kommen kurz zu Wort, bevor bei 0:18 das Klavier einsetzt und bescheiden das eben schon vom Orchester vorgestellte Thema wiederholt. Es klingt einfach, aber nur damit die virtuosen Passagen später (ab 1:48) umso effektvoller herausragen. 

Bemerkenswert finde ich auch das etwas zu lange, aber daher interessante, Streicher-Decrescendo (Fade-out) bei 1:27 (und in der Wiederholung bei 5:51).

Bei 4:24 wiederholt Cramer den Anfang des Satzes, wieder Pizzicati, aber diesmal dürfen andere Blasinstrumente die Fanfare anstimmen. So weit, so bekannt – bis er bei 6:11 völlig ohne Vorwarnung die Tonart wechselt, absolut schamlos, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, dort irgendwie halbwegs elegant hinzumodulieren. Aber es geht so zügig weiter, dass man keine Zeit hat, darüber nachzudenken, was das jetzt bitteschön war.

Nach diesem wenig galanten Move zeigt Cramer zum Schluss des Konzerts, dass er doch ein feiner Kerl ist: Nicht dem Klavier gehört das Schlusswort, sondern dem Orchester allein. Ohne nachgezählt zu haben, behaupte ich, dass die allermeisten Klavierkonzerte vorbei sind, wenn das Klavier die letzte Note gespielt hat, zusammen mit dem Orchester natürlich. Nicht so bei Cramers 8. Klavierkonzert. Nachdem bei 9:34 der Klavierpart zu Ende ist, und zwar begleitet vom Orchester, spielt dieses noch eine geschlagene halbe Minute weiter, bis das Konzert endet. Das ist so ungewöhnlich wie es geschmackvoll ist, weil es dramatische (und billige) Showeffekte der Person am Klavier zum Finale ausschließt und das Orchester nicht zum bloßen Begleiter degradiert. Sympathisch!

Hört euch den letzten Satz von Johann Baptist Cramers 8. Klavierkonzert an:

https://www.youtube.com/watch?v=ZhwvPqsqq0Q (Öffnet in neuem Fenster)

Hier findest du das Stück bei den Streamingdiensten (Öffnet in neuem Fenster).

Schöne Grüße
Gabriel

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Kategorie Klassik

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