Die wichtigen Fragen des Lebens
Aaron Copland: Konzert für Klarinette und Streichorchester (1948)
In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich regelmäßig nicht so bekannte Musikstücke vor, die ich hörenswert finde – mal sind sie einfach schön, mal schwierig, aber immer sind sie interessant. Da selbst Klassik-Spezis diese Stücke oft nicht kennen, herrscht Waffengleichheit. Hier ist alles für alle neu! Recherche und Schreiben kosten Zeit, also freue ich mich über deine freiwillige Unterstützung auf Steady (Öffnet in neuem Fenster).
Mein Großvater väterlicherseits starb mit über hundert Jahren. Noch kurz vor seinem Tod war er ein Muster an Fitness; jahrelanges Anstehen nach saurer Sahne in sowjetischen Wintern und ein lakonischer Witz waren seiner ohnehin robusten Konstitution offenbar nicht abträglich. Noch hoch in seinen Neunzigern wieselte er meinem Vater bei Spaziergängen durch den tiefen Westen Berlins davon.
Beinahe jedes Jahr zu seinem Geburtstag im April kam er aus Moskau zu Besuch nach Deutschland. Er war in einer Hütte mit nur einem Raum aufgewachsen. Mit der sowjetischen Revolution erhielt seine Familie eine Scholle Land und ein paar Tiere. Lesen musste er im Schein einer angezündeten Birkenrinde, denn es gab nicht mal Öllampen. Es ist unvorstellbar, dass dieses Leben gerade mal zwei Generationen her ist. Später unterrichtete er Englisch in der Roten Armee, aber wenn er zu Besuch nach Deutschland kam, sprach er mit uns Kindern, da wir kein Russisch und noch kein Englisch konnten und er kaum Deutsch, Jiddisch.
Jiddisch mit deutschsprachigen Kindern zu sprechen, ist ein Geschenk für alle Beteiligten. Die Sprache ist ein Abzweig vom Mittelhochdeutschen und klingt für heutige Ohren vor allem drollig und sehr, sehr sympathisch. Statt “Die Frau ist ausgerutscht” sagte Opa: Di froy hat zikh aoysgeglitsht. Bei völlig alltäglichen Sätzen lagen wir am Boden vor Lachen.
Als ich älter wurde, begann Opa, mir jedes Jahr, wenn er zum Geburtstagsbesuch kam, die gleichen Fragen zu stellen, bezüglich der großen Dinge des Lebens. Wir würden beim gemeinsamen Abendessen sitzen, er würde das Besteck beiseite legen, sich ostentativ räuspern und fragen:
– Zag mir ven vestu zeyn a milyoner?Ven vestu habn a veyb?
(Sag mir, wann wirst du Millionär sein? Wann wirst du eine Frau haben?)
Auf Jiddisch klingen diese Fragen nur zu einem Viertel nach Erwartungsdruck. Der größere Teil ist schmunzelnde Zuversicht. Immerhin ist die Frage nicht ob, sondern nur noch wann.
Auf die erste Frage konnte ich wahrheitsgemäß antworten, daran zu arbeiten. Immerhin hatte ich in relativ jungen Jahren mit zwei Schulfreunden eine Softwarefirma gegründet und aus der Presse weiß man ja, dass Jugendliche, die irgendwas mit Computer machen, später Bill Gates oder Steve Jobs sind. Die Frage nach dem veyb ist vertrackter. Während ich anfangs noch die Top-Ausrede vieler closeted junger Erwachsener verwenden konnte, gerade einfach keine Zeit für eine Freundin zu haben, wurde dieser offensichtliche Unsinn mir irgendwann nicht nur peinlich, sondern auch ein bisschen unwürdig gegenüber einem bald Hundertjährigen.
Ich kündigte also meinen Eltern an, Opa beim nächsten Geburtstagsbesuch zu eröffnen, dass das mit dem veyb so nicht eintreten wird. Mein Vater war dagegen. Er sorgte sich um das psychische Wohlergehen seines Vaters bzw. er fürchtete schlicht, Opa bekäme einen Herzinfarkt. Meine Mutter hielt das für Unsinn. Dem Mann wird nichts Menschliches fremd sein. Man kann ihm alles sagen, wenn er es nicht eh schon weiß. Ich war nicht umzustimmen, mein Vater aber auch nicht, also rief er in Moskau an, um Opa zu bitten, beim nächsten Besuch auf die Frage zu verzichten.
Don’t ask, don’t tell war jahrzehntelang die Politik des US-Militärs im Umgang mit homo- und bisexuellen Menschen in der Armee. Wir fragen nicht, du sagst nichts. Dieses verdruckste Gewese um die sexuelle Identität von Menschen soll vermeiden, andere direkt anlügen zu müssen. Das Thema soll gemieden, umgangen, totgeschwiegen werden. So wird eine Scheinmoral performt. Diese Seinsweise erwartet von Nicht-Heterosexuellen, ständig eine kalkulierte Distanz zu sich selbst wahren zu müssen, um nicht durchzudrehen. Nicht alle Menschen kommen damit zurecht. Niemand sollte damit zurecht kommen müssen.
Aaron Copland, in Brooklyn in eine konservative jüdische Familie aus Litauen geboren, wurde einer der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Dass er schwul war, verheimlichte er nicht, aber er thematisierte es auch nicht. Außer vielleicht in seiner Musik. In Howard Pollacks Copland-Biografie heißt es: Als ein befreundeter Komponist meinte, der melancholische, bittersüße erste Satz von Coplands Klarinettenkonzert habe doch etwas mit seiner Homosexualität oder wenigstens einer Jugend als loner zu tun, antwortete er nur: “Da könntest du recht haben.”
Als Opa im folgenden April zu Besuch kam und wir zum Abendessen in der Wohnung in Halensee zusammenkamen, herrschte gespannte Erwartung. Opa hatte Appetit und aß tüchtig. Ich nicht so. Niemand wusste, was jetzt kommt; ob überhaupt etwas kommt. Dann räusperte Opa sich ostentativ, denn es war offenbar doch wieder Zeit für die großen Fragen des Lebens. Er legte das Besteck beiseite und fragte:
– Zag mir vi vegn nanotetshnologi?
(Sag mir, wie steht es um die Nanotechnologie?)
Es war ein befreiendes Gelächter, das am Tisch ausbrach. Keiner hatte auch nur den Schimmer vom Hauch einer Ahnung, wie es wohl um die Nanotechnologie stehen könnte. Opa wird sich gedacht haben: Wenn ihr keine Antwort geben wollt, dann frage ich eben etwas, worauf ihr keine Antwort geben könnt. Und so wie Opa selbst gelacht hat, war ich mir sicher, dass meine Mutter Recht hatte.
https://www.youtube.com/watch?v=9GnJBLwOjFo (Öffnet in neuem Fenster)Hier findest du Coplands Klarinettenkonzert bei den Streamingdiensten (Öffnet in neuem Fenster).
Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel
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