What’s in a name?
Lukas Foss: Renaissance-Konzert für Flöte und Orchester (1985)
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Vorschlag für ein kleines Spiel: Schnapp dir eine halbwegs musikinteressierte Person, spiele ihr das folgende Stück vor und frage sie, von wann das ist:
https://www.youtube.com/watch?v=_DAKA8ue2Q4 (Öffnet in neuem Fenster)Hier gibt es das Stück im Streaming (Öffnet in neuem Fenster).
Vielleicht locken Cembalo und Pauken die Testperson auf die Fährte alter Musik. Vielleicht ist sie aber auch irritiert, weil das alles ein bisschen zu schief und krumm, durchgehend einfach zu dissonant klingt.
Verrate noch nicht die korrekte Antwort, sondern gib der Person einen Tipp: Es handelt sich um einen Satz aus dem “Renaissance-Konzert für Flöte und Orchester”. Das würde die Musik irgendwo ins 15. oder 16. Jahrhundert verlegen, wäre die Einteilung der Geschichte in aufeinanderfolgende Epochen, die sich irgendwie voneinander abgrenzen lassen sollen, nicht erst eine Erfindung des 18. und die der Renaissance eine des 19. Jahrhunderts. Die Renaissance hieß nicht Renaissance. Erschwerend kommt hinzu, dass der Satz aus diesem “Renaissance-Konzert” die Bezeichnung “Barock-Zwischenspiel” trägt. Okay, die Musik ist aus den 80ern. Des 20. Jahrhunderts. Natürlich.
Im 21. Jahrhundert fiel Peter Sloterdijk auf, „dass zu jeder Zeit die Unterschiede zwischen den vorgeblich prägenden Merkmalen einer Ära größer waren als die gemeinsamen Züge und die trennenden Größen stärker als die vereinigenden.“ Epochen sind Bullshit (genau so wie Generationen). Diese ausgedachten Labels können nur falsch sein, sie opfern die vielen kleinen Geschichten auf dem Altar der Geschichte. Sie sind nur Namen und was sind schon Namen.
Der junge Lukas Foss (Foto: Library of Congress, Public Domain)
In der Kunst muss man sich nicht an die Epoche halten, in der man angeblich lebt. Einer, der das herausfand, war der Komponist Lukas Foss, geboren 1922 in Berlin. Sein “Renaissance-Konzert” ist eine humorvolle Verbeugung vor den Hunderten Jahren komponierender Riesen, von ihren Schultern aus: “Die meisten Leute denken, dass ein Künstler versucht, originell zu sein, aber Originalität ist das Letzte, was sich im Künstler entwickelt.”
Das Stück gehört zu den meistgespielten des Komponisten, wenn auch vornehmlich in den USA, wohin seine Familie über Paris 1937 emigrierte. In seinem Heimatland kennt das Stück fast niemand. Dabei ist dieses Spätwerk, das er für die Flötistin Carol Wincenc schrieb, im Vergleich zu seinen früheren Sachen zugänglich – und man merkt, wie viel Spaß es den Musiker*innen macht, es zu spielen. Wincenc ist auch die Flötistin in der oben verlinkten Aufnahme. (Vielleicht ist das Stück auch zu zugänglich und dem deutschen Publikum daher suspekt.)
In Philadelphia angekommen, änderte Lukas’ Vater auf Empfehlung der Quäker seinen Familiennamen von Fuchs in Foss. Deshalb ist der Komponist eines Renaissance-Konzerts aus den 1980ern in den USA unter dem Namen Lukas Foss bekannt. Und in dem Land, aus dem seine Familie floh, kennt man ihn weder unter dem alten, noch unter dem neuen Namen. Aber was sind schon Namen.
Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel
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