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Als auf Twitter in einem Fachgebiet halbwegs aktiver und mit Reichweite ausgestatteter Mensch bekommt man über kurz oder lang Anfragen von Medien zu allen möglichen Themen. In dieser Woche landete eine Mail mit dem Betreff „Expertenanfrage“ in meinem Postfach, das Thema lag mir allerdings so fern, dass ich inhaltlich kaum mehr hätte beitragen können als das, was bei Wikipedia und Google Books zu finden ist. Also Absage.

Aber es brachte mich zum Nachdenken, weil ich selten als „Experte“ bezeichnet werde, obwohl es vermutlich ein paar Gebiete gibt, auf denen diese Beschreibung auf mich zutrifft: Da gibt es die harten, zertifizierten Themen, bei denen ich staatlich legitimierte Zeugnisse oder Bescheinigungen über mein Expertentum habe (ich würde dazu mein Masterarbeit zählen und mein Dissertationsprojekt), und die „weichen“ Themen, in denen ich mir eine Reputation als kompetenter Ansprechpartner erarbeitet habe.

Aber will ich überhaupt „Experte“ sein? Der Begriff ist, so mein erster Eindruck, ziemlich beliebig geworden. Er entwickelte sich als Abgrenzung zum Ideal des Universalgelehrten, der bis ins 19. Jahrhundert rein tatsächlich zumindest einen verstehenden Überblick über die gesamte Kenntnis der Wissenschaft seiner Welt behielt. Dass das schon um 1900 nicht mehr zu schaffen war, ist offensichtlich und auch der Ent-Aristokratisierung des Denkgeschäfts zu verdanken. „Experte“, später auch „Expertin“ war also, wer nicht alles gut, aber Einiges exzellent verstand und nicht nur wusste.

Gerade seit der Pandemie hat sich das rapide gewandelt: analog zum Gutachter nach einem Autounfall konnte man sich je nach gewünschtem Ergebnis den Experten, später sogar die Expertin, bestellen, die man wollte. So kam Streeck an die Jobs in NRW, so kam Drosten zum NDR (nein, damit ist keine inhaltliche Wertung verbunden).

In der Geschichtswissenschaft ist das nicht anders, wie wir beim Rechtsstreit der Hohenzollern um die Rückgabe der von ihren Vorfahren in mühevoller demokratischer Handarbeit errichteten, gemauerten, gemalten, und anderweitig hergestellten Werte gesehen haben: der hochrenommierte Christopher Clark schrieb ein Gutachten für die Familie mit Abschaffungsadelshintergrund, von dem er später nichts mehr wissen wollte; der auch renommierte Wolfram Pyta hingegen lieferte ein Gutachten, das in der Fachwelt immer noch für Kopfschütteln sorgt aufgrund seiner nicht erstsemesteradäquaten Argumentationsstruktur. Will man so ein Experte sein, bei dem schon vor der ersten Fußnote klar ist, wohin die Reise geht?

Aber immerhin muss man, um ein solcher zu werden, mit einem Thema verbunden werden. Das ist heute leichter als noch vor ein paar Jahren, als wir zwar ein Volk von „80 Millionen Bundestrainern“ (nie: Bundestrainerinnen) waren, aber niemand uns ernsthaft um taktische Ratschläge gefragt hätte. Zunehmend reicht es aus, über die drei Produktionsmittel „Zeit“, „Thema“ und „Twitteraccount“ zu verfügen, um über kurz oder lang als Expert:in auf dem Radar deutscher Multiplikatorenmedien aufzutauchen: ob Pandemie, US-Politik oder Ukrainekrieg, mit ausgiebigem Wikipedia-Wissen und einer gut sortierten Timeline tatsächlicher Fachleute lässt sich genug eigener Output generieren, dass man so gerade die Schwelle vom Hochstaplertum zum wohlformulierenden Besserinformierten überspringen kann. Expert:innen dieser Art fungieren dann weniger als Impulsgeber für einen Diskurs oder gar Grundlagenforschende, sondern als Kurator:in für Information und Einordnung anderer, in manchen Fällen gleichzeitig als Dolmetschende, wenn die Zitierten in Fremdsprachen publizieren.

Das Problem an dieser Art von „Expertise“ ist, dass sie wie Joschka Fischers Soufflé (Öffnet in neuem Fenster) in sich zusammenfällt, wenn man nach Stimmen von außerhalb der Soziosphären fragt, aus denen sich das Kuratierte speist. Ein solcher Blickwechsel lässt sich nämlich nur mit substanzieller eigener Expertise überhaupt herstellen, und das kostet wiederum das Produktionsmittel „Zeit“, und zwar in einem derartigen Ausmaß, dass man nur in ein, vielleicht zwei Themengebieten als normalsterblicher Mensch Substanz anlesen, erfahren und (am wichtigsten) konstruktiv intellektuell verarbeiten kann.

Umso problematischer ist daher der Umgang unserer klassischen Multiplikatoren (Massenmedien, Verlage, um nur die Einschlägigen zu nennen) auf der Suche nach den Universalexpert:innen des 21. Jahrhunderts: Sie werden nicht danach ausgewählt dass sie Konstruktives zu sagen haben, sondern Wahrnehmbares, und wer Sätze sagen kann die im Kopf bleiben, kann das, ein chronisches Defizit an Selbstzweifel vorausgesetzt, auch zu jedem Thema.

Und damit sind wir bei Ulrike Guérot, die über die oben erwähnten staatlichen Legitimationen zur Expertin (Bonner Magister, Münsteraner Dissertation, Professur) im Übermaß verfügt und über eine Menge zugeschriebener Kompetenz mit Veröffentlichungen zu verschiedenen Themen und Gehör in vielen Kreisen ohnehin. Guérot und ihr Bonner Kollege, der Philosoph Markus Gabriel, gefallen sich offenbar in der Rolle als Public Intellectuals, die zu wirklich jedem Thema etwas zu sagen haben. Bei Gabriel ist das oft ärgerlich, weil von wenig Sachkenntnis getrübt, bei Guérot wurde es zuletzt gefährlich (Öffnet in neuem Fenster), als sie ihren Weg zu einer besseren Post-Covid-Gesellschaft skizzierte:

„Zuerst räumen wir auf, jeder in seinem Land. Wir überantworten die Verantwortlichen dem Internationalen Strafgerichtshof, sollte sich herausstellen, dass es nicht die Fledermaus war, sondern doch ein Labor, das uns das Virus beschert hat, wie der dänische Sonderbeauftragte der UNO kürzlich leakte. Wir bitten die USA, sich um Anthony Fauci und Bill Gates zu kümmern. […].

Wir ernennen neue Verfassungsrichter, die wieder das Recht und die Freiheit verteidigen, anstatt uns zu sagen, dass Not kein Gebot kennt. Wir entlassen alle Mitglieder des Ethikrates […] Wir bezahlen unser Krankenhaus- und Pflegepersonal wie Manager. Wir bringen die zum Schweigen, die uns sagen wollen, dass das nicht geht, denn wir haben in der Krise gelernt, das alles geht, wenn man nur will.“

Es haben schon andere gesagt, aber man muss das immer wieder betonen: Die Professorin der Universität Bonn ergeht sich hier in politischen Säuberungsfantasien, in denen sich um Gesundheitsexperten „gekümmert“ wird, Verfassungsrichter:innen ausgetauscht werden und Menschen, die eine Gegenmeinung zur Autorin vertreten, „zum Schweigen gebracht“ werden. Leute, die solche politischen Forderungen formulieren, sind üblicherweise ein Fall für den Verfassungsschutz. Hier reicht es für eine üppig dotierte Denkbeamtenstelle an einer Volluniversität.

Aber um Frau Guérot soll es hier eigentlich gar nicht gehen. Sondern, alter Kulturwissenschaftlertrick, um die Frage, wie solche Expert:innen in unserem Informationsverbreitungssystem immer wieder Raum bekommen, obwohl sie so leicht zu dekonstruieren wären. Erst am vergangenen Samstag bekam Guérot wieder die Chance, im Deutschlandfunk Kultur weitgehend unwidersprochen ihr Halbwissen zur von ihr sogenannten „Brain of Function“-Forschung (sic!), das ganze Geraune der längst widerlegten Telegram-Kanäle und Facebook-Kommentarspalten, auszubreiten, um ihr neues Buch zu vermarkten. Im Spiegel (Öffnet in neuem Fenster)bekam sie ein Rührstück über Bedrohungen gedruckt, die leider jeder Mensch mit mehr als 3.000 Twitterfollowern kennt, ohne daraus eine inhaltliche Legitimation der eigenen Position abzuleiten.

Es scheint also eine ungeheure Attraktionskraft auf Redaktionen zu geben, Personen wie Guérot oder Gabriel Sendezeit und Druckerschwärze zu überlassen. Sie bieten nämlich zwei Dinge, die als Rohstoff der Aufmerksamkeitsindustrie wertvoll und, wenn man auf Qualität achtet, schwierig zu gewinnen sind: die offizielle Autorität einer Professur und den Willen, eine andere Meinung zu vertreten. Beides ist erst einmal gut: Man kann eigene Argumente nur schärfen, wenn man die andere Seite gehört hat. Seit ungefähr 10 Jahren gehört es zum kaum hinterfragten Konsens, dass Medien zu oft eine Seite vertreten. Ja, die Ironie ist nicht von der Hand zu weisen. Ich halte diesen Konsens für falsch, so lange rechte Demagogen wie Peter Hahne noch jede Anstandslosigkeit gegenüber Minderheiten als die gute alte verlorene Zeit verkaufen dürfen, aber das nur am Rande.

Was beim Versuch von Medien, ihre angebliche Einförmigkeit aufzubrechen, oft verloren geht ist die Erkenntnis, dass auch die andere Meinung gute Argumente haben und belegpflichtig sein muss. Eine andere Meinung als „der Mainstream“ zu haben ist kein Wert an sich, das Argument ist es. Man kann das beim Politologen Johannes Varwick sehen, den ich für naiv und grundsätzlich falsch liegend halte, der aber in der Lage ist, eine scharf geführte Debatte (Öffnet in neuem Fenster) zu Erkenntnisgewinn hinzuführen. Guérot hat diese Argumente (ebenso wie Gabriel) nicht, was leicht zu dekonstruieren wäre, wenn man sie beispielsweise fragen würde, was „Brain of Function“ sein soll. Oder was sie glaubt, was der dänische UNO-Beobachter „geleakt“ habe – da wurden nämlich von „Querdenker“-Gruppen Unwahrheiten als Titelzeile verbreitet, während Peter Embarek tatsächlich berichtet hatte, dass eine der von ihm als möglich eingestuften Hypothesen sei, dass sich ein Labormitarbeiter bei der Probensammlung bei einer Fledermaus angesteckt hätte. Oder ob Frau Guérot eigentlich weiß, was ein „Leak“ ist, ein Interview mit dem meistgesehen dänischen Fernsehsender TV 2 (auf das sie sich bezieht) ist jedenfalls keiner.

All das ist bislang in Interviews nicht geschehen, mutmaßlich, weil man es sich mit diesem quotenbringenden Talking Head nicht verscherzen möchte. Der Bluff, das Vortäuschen der vollumfänglichen Expertise, wird damit einfach weitergegeben: Wir wissen, dass der Kaiser nackt ist, aber wenn wir übertragen, als habe er die prächtigsten Gewänder an, werden die Leute einschalten. Und irgendwann titelt Die Zeit vielleicht „Oder soll man ihn anziehen?“.

Ich habe mir eigentlich vorgenommen, in diesem Newsletter unerbittlich konstruktiv zu sein, allein mir fehlt die Lösung für dieses Dilemma. Zuschriften an die Medien mit der Bitte, nur wirkliche Fachleute für die Themen zu befragen oder wenigstens scharf nachzuhaken werden vermutlich nicht zu einem Kulturwandel in der Aufmerksamkeitsökonomie führen. Ein erster, kleiner Schritt, den wir uns alle hinter die Ohren schreiben können, dürfte aber sein, selbst abzusagen, wenn wir wissen, dass andere kompetenter sind. Auch wenn man sich gerne selbst im Radio hört.

Ich habe nach den Erfahrungen der letzten Woche das Erscheinen dieses Newsletters auf den Dienstagmittag verlegt und hoffe, das kommt allen so gelegen, die ihn lesen.

Was sonst noch war:

Am Sonntag bin ich endlich dazu gekommen, in den letzten Ausgaben des Merkur (Zeitschrift, nicht Münchner) nachzulesen. Besonders gefallen hat mir der Artikel, der aus einer kritischen Betrachtung des Werkes von Günter Wallraff einen größeren Bogen zu linkem Journalismus schlägt. Er ist als Gratisartikel online verfügbar, aber das Abonnement der ganzen Zeitschrift sei hiermit empfohlen: https://www.merkur-zeitschrift.de/2022/01/25/ein-vielgehasster-mann-guenter-wallraffs-maskeraden/ (Öffnet in neuem Fenster)

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