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Frieden und Fragmente (1)

Die dieswöchige Ausgabe von „Schicht im Schacht“ ist ungeplant lang geworden. Ich möchte niemandem zumuten, eine fünfstellige Zeichenzahl im E-Mailprogramm zu lesen, daher teile ich den Text auf: Die erste Hälfte diese Woche, die zweite am kommenden Dienstag.

Kürzlich stieß ich in einer lokalen Facebookgruppe auf einen Post eines unzufriedenen Mitbürgers: Der städtische Friedhof sei schön, lediglich der kleine Abschnitt am Rand, in direkter Nähe von IKEA und Autobahnauffahrt, sei überwachsen, ungepflegt, die Grabsteine in keinem guten Zustand. Man solle doch die „hiesige Judengemeinschaft“ einmal dazu bewegen, ihren knapp 750 Quadratmeter großen Friedhof in einen schöneren Zustand zu bringen.

Nun war das vermutlich nicht böse gemeint. Der Verfasser, das stellte sich in der weiteren Diskussion heraus, war kein Muttersprachler und hatte von jüdischem Leben und vor allem jüdischem Sterben keine Vorstellung. Von der Information, dass es hier in Walldorf seit dem 22. Oktober 1940 keine jüdische Gemeinde mehr gibt, war er ganz offensichtlich betroffen. Der Austausch brachte mich aber dazu, noch einmal über die jüdischen Friedhöfe in Deutschland nachzudenken und auf eine Informationssuche zu gehen: Vor nun zehn Jahren hatte ich während der Arbeit an meiner Masterarbeit in einem Aufsatz die Behauptung gelesen, zwischen 1945 und 1949 seien im besetzten Deutschland mehr jüdische Friedhöfe geschändet worden als zwischen 1941 und dem Kriegsende im „Altreich“. Leider finde ich weder den Aufsatz noch sonst einen belastbaren Beleg, außerdem hätte ich ohnehin große methodische Zweifel an der Auswertung solcher Zahlen, weil ein 1948 umgestoßener Grabstein sicher genauer zu den Akten genommen wurde als einer wenige Jahre zuvor. Nehmen wir also zur Sicherheit an, dass die Aussage nicht belegt und belegbar ist.

Aber abgesehen davon sind jüdische Friedhöfe ja tatsächlich eine bemerkenswerte Form von Kulturdenkmälern, deren jeweilige Gegenwart viel über den Zustand des jüdischen Lebens, aber eben auch der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft aussagt. Die allermeisten dieser Friedhöfe haben zwölf Jahre NS-Deutschland überlebt. Ausnahmen gab es natürlich trotzdem, von einer wird später noch die Rede sein. Aber die naheliegende Annahme, dass sich NS-Deutschland die Flächen jüdischer Begräbnisse sofort aneignen und dieses Zeugnis der jüdisch-deutschen Geschichte unsichtbar machen würden, ist eben nicht eingetreten. Das hat viele Gründe, zwei sind entscheidend: Friedhöfe waren rein rechtlich Landessache, von der faktischen Verwaltung her eine lokale Angelegenheit der jeweiligen Stadt. Ein Erlass vom „Führer“ hätte sicherlich zur Folgsamkeit der ausführenden Beamten geführt, da dieser aber ausblieb, wurden die meisten Friedhöfe schlicht nicht weiter beachtet, wenn sie nicht auf besonders begehrtem Land lagen oder man ihre Metallzäune für die Kriegswirtschaft zweckentfremden konnte.

Der Befehl von oben blieb dagegen aus, weil man Widerstand von den christlichen Kirchen erwartete, die sich die Hoheit über ihre Friedhöfe nicht nehmen lassen wollten. Zuletzt war in den 1930er Jahren auch der mittlerweile antisemitischer Dauerpropaganda ausgesetzten „Volksgemeinschaft“ schwer vermittelbar, wozu „Rachetaten“ an bereits toten Juden gut sein sollten. Zu dem Zeitpunkt, an dem so etwas dann vielleicht populär gewesen wäre, war der Krieg wichtiger. Dass die Friedhöfe im „Altreich“ bestehen blieben, war also eher dem Timing geschuldet als einem übergeordneten Respekt vor den Verstorbenen.

In Österreich und den später besetzten und angeeigneten Gebieten sah das anders aus: Hier wurde Verwaltung teils von Grund auf neu und nationalsozialistisch aufgebaut, hier war keine Rücksicht auf Empfindungen der lokalen Bevölkerung notwendig, hier war der Materialbedarf evident und stand über allem anderen. In Wien standen Bauunternehmen für Land und Grabsteine auf der einen Seite Schlange, auf der anderen rissen sich Forschungsinstitute und Museen um die exhumierten menschlichen Überreste, um an ihren „rassekundliche“ Untersuchungen vorzunehmen. 

In Polen wurden mindestens 500 jüdische Friedhöfe geräumt und die Steine als Baumaterial für Straßen und Baracken verwendet, andere für Massenhinrichtungen verwendet, für die Massengräber direkt vor Ort ausgehoben wurden. Nur im Protektorat Böhmen und Mähren blieben die meisten Friedhöfe verschont: Das Jüdische Zentralmuseum in Prag, mittlerweile von der SS betrieben, hatte Interesse an Exponaten für seine Darstellung vom „Jüdischen Leben von der Wiege bis ins Grab“.

Ein besonders prägnantes Beispiel dafür, dass das rücksichtslose Vorgehen der Deutschen mitunter auf bereitwilligen, aber von Skrupel geplagten Antisemitismus vor Ort traf, ist der jüdische Friedhof von Thessaloniki. Die Stadt war ab dem 16. Jahrhundert die einzige der Welt mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit gewesen, noch 1912 waren weit mehr als die Hälfte der Bewohner Jüdinnen und Juden. Entsprechend groß war der Friedhof, 35 Hektar mit schätzungsweise einer halben Million Gräbern. Das Gelände war der griechischen Verwaltung schon lange ein Projekt: 1929 erging Anweisung an die Gemeinden, ein Siebtel des Geländes für städtebauliche Modernisierungen aufzugeben, ein für jüdisches Leben vollkommen unmögliches Unterfangen.

Viele Jahre liefen die Konflikte und Verhandlungen, schließlich einigte man sich 1937 darauf, einen Teil des Friedhofes mittelfristig aufzugeben, um damit den Rest zu retten, den sich die örtlichen Behörden auch schon als Bauland für die angrenzende Universität ausgeguckt hatten. Das wurde aber hinfällig, als die Stadt und das umliegende Land 1941 von der Wehrmacht besetzt wurde. Der Bürgermeister bat die Besatzer darum, eine komplette Räumung des Friedhofs in Gang zu setzen, wenige Wochen später wurde den jüdischen Bewohner:innen der Stadt eine Frist von nur zehn Tagen gesetzt, um Gräber und Gebeine auf einen neuen Friedhof außerhalb der Stadt umzubetten. Schon vor Ablauf dieser ohnehin absurd kurzen Zeit begannen griechische Arbeitstrupps unter deutscher Bewachung damit, den gesamten Friedhof zu zerstören. Noch zwischen den Arbeitern versuchten jüdische Familien, die Gebeine ihrer Angehörigen zu retten und notfalls in der eigenen Wohnung zu lagern. Nicht gerettete Grabsteine wurden zu Steinmetzen gebracht, die die Inschriften abschliffen und das teure Material weiterverkauften. Steine, die nicht mehr dafür in Betracht kamen, wurden zum Ausbau der deutschen Schützengräben verwendet, was später auf einem britischen Foto um die Welt ging:

Der Friedhof war so groß, dass die Abrissarbeiten auch bei der Befreiung Griechenlands zwei Jahre später noch nicht vollständig abgeschlossen waren. Es ergingen unmittelbar Anordnungen der britischen Truppen, den Abbau und die damit verbundenen Grabschändungen zu unterlassen. Kaum jemand hielt sich daran.

Die weitere Geschichte des Friedhofs von Thessaloniki, der deutsche Umgang mit jüdischen Friedhöfen und was das alles mit unserer Gegenwart zu tun hat: Im zweiten Teil. (Öffnet in neuem Fenster)

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