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Frieden und Fragmente (2)

In der vergangenen Woche ging es um den Umgang Nazideutschlands mit jüdischen Friedhöfen im „Altreich“ wie in den besetzten und einverleibten Territorien. Hervorstechend ist der Friedhof von Thessaloniki, einer der größten seiner Art, den die griechischen Behörden schon lange in Bauland umwandeln lassen, ehe es durch die deutschen Besatzer dann gewaltsam umgesetzt werden konnte. Der ganze Text findet sich hier (Öffnet in neuem Fenster).

Das britische Verbot der weiteren Grabschändungen durch Abbau wurde nicht beachtet, zu verlockend war die Möglichkeit, gratis an hochwertige Marmorplatten zu kommen. Als der Verantwortliche für die Restauration der örtlichen Kirche Hagios Demetrios darauf angesprochen wurde, dass im Hof zahlreiche jüdische Grabsteine als Baumaterial lägen, verwies er darauf, dass die jüdische Gemeinde der Stadt vergeblich gebeten worden sei, sich selbst darum zu kümmern sie wegzuräumen – kaum ein Jahr nach Ende des Holocaust, in dem 95% der jüdischen Bevölkerung Thessalonikis ermordet worden war. Formaljuristisch konnte sich die griechische Verwaltung absichern: Für die Fläche galt noch ein altes Privileg aus der ottomanischen Herrschaftszeit, das den jüdischen Gemeinden die Hoheit über das Gelände solange zusicherte, wie sie es aktiv benutzten. Der Holocaust beendete vorerst diese aktive Nutzung, und das war den Behörden Grund genug, den Friedhof endgültig zu vernichten. Auf dem Gelände wurde die Universität errichtet, ein weiträumiger Campus. Aber im Gegensatz zu den Zeugnissen der NS-Verbrechen im öffentlichen Raum in Deutschland wurde die Vergangenheit nicht unsichtbar gemacht.

In der bald etablierten Erzählung waren die Deutschen die Verantwortlichen für dieses Vorgehen gewesen, die nichtjüdische Bevölkerung der Stadt auch nur ein Opfer der Besatzung. Diesen Erklärungen schloss sich lange auch die Geschichtswissenschaft an, erst in den letzten Jahren hat die Forschung sich Quellen erschlossen, die belegen, dass den Deutschen der Friedhof weitgehend egal gewesen war und es Teile der lokalen Bevölkerung waren, die dessen Ausradierung vorantrieben. Hierzu gehören zum Beispiel Hinweise auf eine christliche Delegation, die sich bei den Besatzern dafür bedankte, „diese Angelegenheit endgültig abgeschlossen“ zu haben. Dazu gehörte auch ein den Juden angebotener Ausweichfriedhof vor den Toren der Stadt, der unmittelbar nach der Deportation der Juden von Thessaloniki in die Konzentrationslager zu Ackerland umgewandelt wurde.

Verantwortung dafür wurde nicht übernommen, und so konnte noch Jahrzehnte jeder der es wollte an der Universität sehen, was dort früher gewesen war: Grabsteinfragmente waren leicht zu finden, auch Gebeine waren nicht selten. Die amerikanischen Historiker Carla Hesse und Thomas Laqueur fanden in der Festschrift einer lokalen Schule ein Foto von Schülerinnen im Teenageralter, die fröhlich mit Schädeln und Beinknochen fürs Foto posierten. Die Bildunterschrift, 1997 gedruckt, lautete:

„Die heutigen Hamlets mit Totenköpfen in der Hand, die auf den von den Deutschen zerstörten jüdischen Friedhöfen gefunden wurden.“

Erst 2014 bekannte sich die Universität zu dem Erbe ihres Bodens: Sie errichtete auf Betreiben progressiver lokaler Kräfte eine Gedenkstätte, deren Inschrift aber wieder NS-Deutschland die Alleinschuld an diesem Verbrechen gab, etwas, was Hesse und Laqueur außergewöhnlich deutlich als „Nonsens“ bezeichnen. Die Universitätsgeschichte auf der offiziellen Homepage schweigt sich über die Herkunft des Hochschulbodens ebenso aus wie der griechische Wikipedia-Artikel.

Anders sah es in Hamburg-Ottensen aus: Der dortige Friedhof war 1663 begründet worden, als Ottensen noch ein kleines Dorf unter dänischer Herrschaft war. Beständig kaufte die Gemeinde Land dazu, und als 1897 seine endgültige Form erlangte, war Ottensen kein Dorf mehr, sondern ein Industriestandort und Stadtteil Altonas. Der gewachsene Ort brauchte größere Straßen, und so ging die dortige Gemeinde einen Kompromiss ein: Sie gab jeweils drei Meter Friedhofsfläche an den Rändern zu zwei großen Straßen ab. Weil jüdische Gräber aber Ewigkeitsrecht haben, also im Gegensatz zu anderen Gräbern hierzulande nicht irgendwann abgeräumt und neu verwendet werden, war der Modus ausgefeilter: die Grabsteine wurden flach auf den Boden gelegt, das freigegebene Friedhofsgelände überwölbt und dann darauf die Straße gebaut. Die Gräber blieben so für die Ewigkeit gewidmete Ruhestätten, die allerdings nicht mehr direkt besucht werden konnten.

Das half dem Friedhof allerdings nicht, als die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland übernahmen. Zunächst war der Friedhof, der mittlerweile in unmittelbarer Nähe des wichtigen Bahnhofs Altona lag, noch von älterem Landesrecht geschützt. Das änderte sich, weil aus Hamburg, Altona, Wandsbek und Harburg 1937 „Groß-Hamburg“ wurde, das für den Umbau zur „Führerstadt“ weitreichende städtebauliche Kompetenzen erhielt: Der Polizeipräsident von Hamburg, natürlich ein überzeugter, bereits 1931 in die Partei eingetretener Nazi, konnte nun eigenmächtig Friedhöfe ihrer Zweckbestimmung entziehen. 1941 wurde der jüdische Friedhof Ottensen entwidmet, in seine Mitte ein Hochbunker gebaut, teils unter Verwendung der abgeräumten Grabsteine. Die letzten in Hamburg verbliebenen Mitglieder der jüdischen Gemeinde konnten immerhin einige Steine auf den Friedhof in Ohlsdorf retten, der große Rest von über 8.000 Steinen ging für immer verloren.

Nach dem Krieg forderte die kleine überlebende Gemeinde die Rückgabe des Geländes von der Stadt Hamburg. Die lehnte ab. Fünf Jahre dauerte der Rechtsstreit vor der „Wiedergutmachungskammer“ des Landgerichtes, bis das Gelände wieder übergeben wurde. Zu diesem Zeitpunkt lag das Gelände brach wie viele andere Kriegszerstörungen auch. Gräber waren nicht erhalten, und kaum Jüdinnen und Juden konnten sich vorstellen, länger als nur irgendwie nötig in Deutschland zu bleiben. Daher verkaufte man das Gelände sofort an Hertie, um den Kastenbunker herum wurden ein Ladengeschäft und Parkplätze gebaut. Der jüdische Friedhof war damit Geschichte.

Er wurde allerdings knapp 40 Jahre später wieder ein Thema, als Hertie das Gelände an einen Investor verkaufte, der daraus ein großes Einkaufszentrum mit Tiefgarage und Wohnungen machen wollte. Bedingung der Baugenehmigung war das Einverständnis der liberalen jüdischen Gemeinde Hamburgs, das diese unter Bedingungen erteilte: Bei den Bauarbeiten gefundene Grabplatten und menschliche Überreste mussten sorgfältig geborgen und auf den Friedhof Ohlsdorf gebracht werden, dabei sollte stets ein Umbettungsexperte aus Israel anwesend sein. Die jüdische Gemeinde Hamburgs, die entgegen aller Wahrscheinlichkeit nun doch im Lande geblieben war, hatte einen Kompromiss mit sich selbst für ein Stück Land gefunden, das für sie ohnehin nicht wiederzuerlangen war.

Es gab allerdings auch Vertreter jüdischer Gruppen, die das nicht so sahen: Mit Beginn der Bauarbeiten, nach Abriss der betonierten Hoffläche, war die frühere Widmung des Erdreiches nicht mehr zu übersehen. Immer wieder sahen Anwohner:innen und Neugierige auf der Baustelle Teile von Grabsteinen und -platten sowie menschliche Überreste. Nachdem erste überregionale Medien darüber berichteten, schaltete sich der damalige Präsident des Zentralrats der Juden, Heinz Galinski, ein und kritisierte das Vorgehen. Daraus erwuchs ein Konflikt zwischen der kleinen liberalen Hamburger Gemeinde einerseits, zahlreicher wortgewichtiger orthodoxer Organisationen andererseits. Die Gruppe „Athra Kadisha“, die sich weltweit für den Erhalt jüdischer Grabstätten einsetzt, besetzte die Baustelle aus Protest.

Letztlich einigten sich Bauherr, Stadt und „Athra Kadisha“ auf einen Kompromiss, bei dem die Hamburger Gemeinde nicht mehr gefragt wurde: Umgebettet wurde nicht weiter, sondern wie 1897 überwölbt. Die Tiefgarage wurde entsprechend nicht gebaut, stattdessen (auf Kosten der geplanten Wohnungen) Parkplätze auf dem Dach gebaut, die bis heute bei Google Maps gut sichtbar (Öffnet in neuem Fenster) sind.

Was diesen Konflikt so frappierend machte, war seine öffentliche Wirkung: Eigentlich ging es hier um einen Konflikt zwischen einer liberalen und einer orthodoxen Deutung jüdischer Friedhofskultur, um einen inneren Konflikt innerhalb einer Religion. Wahrgenommen wurde er in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit bis hin zur taz (Öffnet in neuem Fenster) als unlogisches Verhalten der als ein Block wahrgenommen Jüdinnen und Juden gegenüber der Mehrheitsgesellschaft, als es um lukratives Bauland ging:

„Erst Ende 1991 vollzog sich ein seltsamer Wandel. Auf einmal erinnerte man sich jüdischerseits wieder an die ursprüngliche Bedeutung des Geländes.“

Entsprechend groß war teilweise die Schadenfreude über den schmerzhaften Konflikt von nichtjüdischer Seite: Hier stritten jüdische Vertreter:innen untereinander, und ausnahmsweise war die deutsche Mehrheitsgesellschaft mal nicht schuld, so eine weit verbreitete Lesart: Die Gemeinde hätte das Gelände ja 1950 nicht verkaufen müssen. Warum sie das getan hatte, war dann schon lange nicht mehr wichtig.

Gleichzeitig machte der Investor des Einkaufszentrums noch eine Art vergiftetes Angebot: er bot an, das Grundstück, das er 1988 für 14 Millionen Mark gekauft hatte, für 50 Millionen an die Gemeinde zu veräußern. Das lag natürlich außerhalb jeder Machbarkeit, aber man demonstrierte halbwegs guten Willen.

Heute erinnert im Einkaufszentrum selbst nur eine Erinnerungstafel an den früheren Friedhof. Sie enthält die Namen aller bekannten Jüdinnen und Juden, die im Erdreich darunter ruhen. Für die Nachwelt sicht- und besuchbar sind nur die geretteten Gräber und Grabteile, die nach Ohlsdorf gebracht wurden. Dort ruhen sie direkt neben dem Ohlsdorfer Hauptfriedhof, auf dem mit Hans Julius Kehrl der Polizeipräsident beerdigt wurde, dessen Anweisung den jüdischen Friedhof zerstörte.

Thessaloniki und Ottensen sind Ausnahmefälle: aus Platzbedarf und Gier nach Grund beäugte Areale, die erst durch Antisemitismus zerstörbar und anzueignen waren. Hier prallten Jahrhunderte von Ressentiments gegen jüdisches Leben auf eine Religionsausübung, die Friedhöfe und Gräber für die Ewigkeit konzipiert hatte. Dass nicht alle Friedhöfe im „Altreich“ zerstört wurden, lag weniger an moralischem Empfinden als an den Prioritäten: Entsprechende Gesetze zu ändern und dabei die Ängste der christlichen Kirchen zu zerstreuen wurde als aufwändig angesehen, zu aufwändig für ein Land im Krieg.

Die jüdischen Friedhöfe kehrten aber auch nach Niederlage und Befreiung nicht in den Modus zurück, in dem sie zuvor betrieben wurden: Die großen und kleinen jüdischen Gemeinden gab es nach 1945 schlicht nicht mehr. So wurden die meisten von ihnen zu inoffiziellen Freilichtmuseen einer Kultur, die Deutschland weitgehend ausgelöscht hatte, mit Grabsteinen, deren Jahresdaten irgendwann um 1940 abrupt abbrechen. In meiner Heimatstadt Wesel ist einer von zwei jüdischen Friedhöfen zwar erhalten, aber nicht zugänglich, weil er von Wohnhäusern umringt ist: an einer Stelle kann man über eine Mauer gucken und die Grabsteine sehen. 

In den letzten Jahrzehnten hat sich der Umgang gebessert, auch weil es wieder größere Gemeinden gibt, aber noch immer kann man die zwischen Unbeholfenheit und Ressentiment oszillierenden Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft auch immer wieder daran ablesen, wenn ein jüdischer Friedhof in der Diskussion ist: Weil er nicht nur an den Nationalsozialismus erinnert, sondern auch zeigt, wie wenig an der „jüdisch-christlichen Kultur“ über viele Jahrhunderte wahr war, weil es die Ablehnung der Juden eben auch unzählige Generationen vor 1933 schon gab. Und weil es daran erinnert, wie wenig wir uns nach 1945 um diese Friedhöfe gekümmert haben, als es kaum jemanden sonst hier gab, der es hätte machen können.

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