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Fluss und Vergessen

Jahrestage laufen in unserer Gesellschaft mittlerweile meist nach einem vorgefertigten Schema: Wir wissen recht genau, was wann passiert ist, und wir wissen, was davon bis heute Relevanz hat. Irgendwann im Herbst legen Redaktionen, Stiftungen, Bildungsträger und co. Listen von dem an, was sich im nächsten Jahr „rund“ jährt, also irgendwie durch 25 teilbar ist, und arbeiten dann damit – abgestuft nach Aktualität des Themas und „Rundheit“ – 75 Jahre irgendwas mit Ukraine sticht aktuell 100 Jahre irgendwas mit Afrika, so zynisch das ist.

Aber manchmal rutschen uns solche Jahrestage durch, immer und immer wieder, weil eben nicht jedes Thema es in den Fokus der Relevanzentscheidungen schafft. Und so stoße ich manchmal auf Themen, Ereignisse, historische Vorgänge, von denen ich noch nie gehört habe und auch sonst niemand von den Menschen, mit denen ich mich regelmäßig über Geschichte austausche – und die es wert sind, erzählt zu werden.

Vor 104 Jahren (und damit für die Jahrestagsindustrie geradezu wertlos), am 12. April 1919, fand in Dresden eine aufgebrachte Menschenmenge auf dem Theaterplatz vor der Semperoper zusammen. Anlass war eine Sparmaßnahme: Die Reichsregierung unter Philipp Scheidemann hatte verfügt, dass der Sold für im Lazarett liegende Kriegsversehrte sowie das zugehörige Sanitätspersonal zu kürzen seien, wohl um etwa ein Fünftel. Die Demonstrierenden zogen zum Blockhaus am Neustädter Markt, einmal über die Elbe, um dort ihre Forderungen dem sächsischen Fachminister Gustav Neuring zu übergeben.

Neuring war Sozialdemokrat, ehemaliger Gewerkschaftsbeamter und zwischenzeitlich Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates in Dresden. Als er das Amt des Kriegsministers in Dresden übernahm, benannte er es in „Ministerium für Militärangelegenheiten“ um, was eine eher optische, aber deutliche Demilitarisierung des Landes bedeuten sollte. Er war der Sache der Protestierenden gegenüber durchaus aufgeschlossen, aber weitgehend machtlos: eine Anordnung aus Berlin konnte er weder einfach aussetzen, noch hatte Sachsen das Geld, um den Sold eigenhändig auf das Vorniveau zu heben. Dennoch einigte er sich mit der Delegation des Sanitätspersonals schnell, nur mit den Kriegsversehrten schien es nicht so zu klappen: der Aktenlage nach verwies sein Sekretär zwei ihrer Delegierten, die er als Kommunisten identifizierte, aus dem Büro, woraufhin diese zur Demonstration zurückkehrten und Falschinformationen streuten. Das war erfolgreich: Die Menge wurde zum Mob, der das Gebäude stürmte, die überforderten Wachen entwaffnete und Gewehre an sich nahm.

Neuring versuchte noch, die Massen zu beruhigen, wobei unklar ist, ob er selbst das initiierte oder er schon vor die Menschen gezwungen wurde. Es blieb beim Versuch: Der Minister wurde von den Demonstrierenden misshandelt, beschimpft und schließlich über die Brüstung der Friedrich-August-Brücke in die Elbe geworfen – das allein konnte schon tödlich enden, doch Neuring war offenbar fit genug, um trotz aller Verletzungen in Richtung des Ufers zu schwimmen. Kurz bevor er dort ankam, begannen die Bewaffneten unter den dort Wütenden, auf ihn zu schießen, schließlich traf ihn eine Kugel in den Kopf. Neuring ging unter, seine Leiche wurde vier Wochen später in Kötitz, auf halbem Weg nach Meißen, entdeckt.

Ein Lynchmob, der einen Minister ermordet – das ist eine relevante Geschichte, eine, die sich eigentlich im Gedächtnis einer Stadt, eines Landes, in einer demokratischen Kultur festschreiben müsste. Aber es gibt keine Gustav-Neuring-Straße in Dresden, auch nicht in Sachsen, nirgendwo in der Bundesrepublik. Das einzige Denkmal ist sein Grab auf einem Dresdner Urnenhain. Wenn man nach Neuring sucht, findet man einen Artikel vom sächsischen Hauptstaatsarchiv zum 100. Jahrestag, eine Hand voll Zeitungsartikel, ein paar Wortmeldungen von Dresdner:innen aus dem eher konservativen Bereich. Sein Wikipedia-Artikel hat nicht einmal tausend Zeichen. Mehr ist da nicht. Das gesellschaftliche Gedächtnis hat den Lynchmord von Dresden nicht gespeichert, seine Erinnerung verblasst. Warum ist das so?

Das liegt zum einen an den Täter:innen: Das waren, allem Anschein nach, hauptsächlich kommunistische Kriegsversehrte und Arbeiter:innen, größtenteils aus dem Umfeld des Spartakusbundes und damit der KPD. Eine Erinnerung daran war in der DDR natürlich nur schwer vorstellbar, die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin und Autorin Freya Klier – selbst eher konservativ – erzählt, dass bei dem wenigen, was über Neuring in der DDR erzählt wurde, immer Rechtsradikale für seinen Tod verantwortlich gemacht wurden. Aber auch die SPD im Westen machte sich, nach allem was mir bislang unterkam, keine große Mühe, die Erinnerung an ihren Minister wachzuhalten, obwohl das ja in Abgrenzung zu den Kommunisten durchaus sinnvoll gewesen wäre – so war es noch während der Weimarer Republik gewesen, als 1929 der Neuring-Mord als Zeichen der Verkommenheit der Kommunisten interpretiert wurde, denen die Sozialdemokratie niemals trauen könne (Öffnet in neuem Fenster).

Die Lösung ist vermutlich banal: Nach dem Zusammenbruch und im Wiederaufbau wurde Neuring vergessen, weil es zu lange einen eindeutigen Feind der rechts stand gegeben hatte, und als es an der Zeit gewesen wäre, wieder an ihn zu erinnern, gab es zu viele andere Themen von Relevanz. Über Neuring wurde keine „Damnatio memoriae“ verhängt, also keine Tilgung seines Andenkens durch die Nachwelt. Sein Leiden und Tod bargen in der Bundesrepublik schlicht keine Sinnstiftung, durch die sie in die Gegenwart drängten.

Es wäre natürlich an der Zeit, das zu ändern. Nicht, um den ohnehin kaum noch existenten Kommunist:innen von heute einen reinzudrücken oder irgendwo eine öffentliche Stelle im Archivdienst zu schaffen, die seinen Nachlass neu ordnet. Aber man könnte an diese Rohheit erinnern, an die Verführbarkeit von Menschenmassen, daran, wie sehr im Recht man sich fühlen kann, wenn man dem Drang der konstanten Empörung nachgibt. Und man könnte vorsichtig nachspüren über die etwaigen Traditionen, kulturellen Prägungen und gesamtpolitischen Rahmenbedingungen, die eine solche Eskalation erst möglich machten – nicht von einzelnen, nicht von einer radikalen Organisation, sondern von einer Menschenmenge. Dabei müssen wir nicht einmal bemühte anachronistische Parallelen suchen zum Galgen von Pegida, wir können einfach in aller Ruhe die Quellen sprechen lassen – sofern es noch welche gibt. Denn auch das gehört zur Wahrheit: Je länger jemand vergessen ist, desto weniger Überreste bleiben von ihm erhalten.

Eine kleine Offenlegung: Ich bin als freier Historiker mitunter für die Friedrich-Ebert-Stiftung tätig. Auf Neuring wurde ich aufmerksam bei der Arbeit für den Twitter-Account des dortigen Archivs der sozialen Demokratie (Öffnet in neuem Fenster).

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