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Stein und Kohle

Im vollen Bewusstsein der thematischen Ironie, eine Woche nach einem Text zur bei Millennials ausbleibenden Midlife Crisis, möchte ich heute über Lego sprechen, oder genauer: Über Klemmbausteine. Zum Geburtstag bekam ich in diesem Jahr das Set „Zeche Zollverein (Öffnet in neuem Fenster)“ des Herstellers Blue Brixx geschenkt (nicht vom Hersteller, sondern von meiner Mutter. Hier geht es nicht um bezahlte Werbung) und hatte so in den folgenden zwei Wochen öfter Gelegenheit, über diese Form von Spielzeug und ihre Wechselwirkungen mit Geschichte nachzudenken.

Das Tolle an Lego und artverwandten Systemen ist ja ganz grundsätzlich, dass es einfach genug ist, dass dabei die Gedanken auch etwas abschweifen können und man sich dabei unterhalten kann, es aber auch ausreichend kompliziert ist, dass man sich nicht langweilt. Bausteine nach Anleitung zusammenzusetzen verschafft einem erwachsenen Menschen genau das Level an geistiger Auslastung, um einen Zustand gedanklicher Ruhe zu kommen. Außer es fehlt ein Teil, dann ist die Ruhe schnell vorüber.

Es gab vor ein paar Jahren in der deutschsprachigen Histo- und Museumsszene mal eine kurzlebige Begeisterung für Lego, die aber schnell vorüberging. Die Vorteile waren simpel: Mit Lego kann nahezu jeder etwas anfangen, man kennt auch die Limitationen des Formats, und damit Modelle herzustellen ist trotz aller Preiserhöhungen deutlich günstiger, als übliche Architekturmodelle von Profis aufbauen zu lassen. Vom Trend ist nicht mehr so viel zu spüren, eine letzte große Sonderausstellung in Braunschweig wurde gerade wieder abgebaut (Öffnet in neuem Fenster).

Den Reiz, den die Bausteine ausübten, kann man mit dem englischen Begriff der „Novelty“ gut umschreiben, der sich nicht 1:1 in die deutsche „Neuheit“ übersetzen lässt: Er umfasst nicht nur, dass es sich um eine neue Sache handelt, sondern greift auch deren Ernsthaftigkeit an und zieht ihre Langlebigkeit in Zweifel. Beim Lego in der Geschichtsvermittlung wurde schnell deutlich, dass es am Ende eben doch als Spielzeug wahrgenommen wird und im eigentlichen Inhalt ablenkt; der Grad der Abstraktion war zu groß, um ihn mit einer historischen Realität in Verbindung zu bringen, was ja eigentlich die große Stärke von Museen ist: dass da etwas ist, als echtes Ding, was damals dabei war, ganz gleich ob als Buch, Kipplore oder als Handgranate.

Aber ganz so schnell sollten wir die Noppen- und Klemmbausteine nicht als Mittel vergessen, wir sollten nur von der Betrachtung weggehen. Denn vermutlich wissen alle Eltern heutzutage, dass das Angucken eines Legomodells deutlich weniger spannend ist, als daran mitzubauen. Das Bauen ist das, was Freude macht, und es bringt Zeit teilbarer Aufmerksamkeit: Wer an einem Bausatz sitzt, verbringt Zeit damit, die gleichzeitig noch offen für eine weitere Beschäftigung ist.

Im Selbstversuch beim Bau von Zeche Zollverein nutzte ich diese Zeit, um mehr über die Zeche herauszufinden. Die Anleitung des Bausatzes war so strukturiert, dass zunächst der Boden gebaut wurde und dann nach und nach die einzelnen Zechengebäude. Dabei bot es sich an, für jedes dieser Gebäude nachzusehen, welche Rolle es früher hatte, wann es im Kontext der gesamten Zeche gebaut wurde und warum es genau dort steht, wo es in Modell und Echtwelt angeordnet ist. Hierfür war ein alter, fast vergessener Bekannter sehr nützlich: der Dokumentarfilm des Landschaftsverbands Rheinland, hier von 1986. Diese Filme, dankenswerterweise unter freier Lizenz ins Internet herübergerettet, versuchten in aller drögen Seriosität, damals gegenwärtige Arbeitstechniken und -abläufe zu dokumentieren für eine Welt, in der sie nicht mehr existieren. Ein solcher Film existiert auch für Schacht 12, für seine architektonische Anordnung sowie die einzelnen Arbeitsschritte von Förderung und Aufbereitung der dortigen Kohle:

https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Zollverein_Schacht_12._F%C3%B6rderung_und_Aufbereitung_der_Kohle.webm (Öffnet in neuem Fenster)

Würde man diesen Film mit seinen gesamten 32 Minuten heute im Geschichtsunterricht zeigen, würden die meisten Augen nach wenigen Minuten zufallen. Kaum Schnitte, eine sonore, betonungsarme Kommentatorenstimme, der Film ist von unseren heutigen Sehgewohnheiten weit entfernt. Wenn wir ihn aber verbinden mit dem haptischen Aufbau eines Modells mit Bausteinen, ergeben sich Aha-Effekte: bei jeder dieser Anordnungen haben sich die damals beteiligten Menschen etwas gedacht. Wir sehen zwar nur das Endprodukt dieser Überlegungen, nämlich das bis heute bestehende Zechengelände, aber wir erfahren es als eine Abfolge von menschlichen Entscheidungen anhand gegebener Umstände. Im besten Fall begreifen wir die Geschichte dieses Objekts als einen Prozess und nicht als Endergebnis und lernen somit mehr als nur etwas über Zeche Zollverein: Wir lernen etwas über unsere Vorstellung von Geschichte insgesamt.

Schacht 12, im Vordergrund links das ehemalige Schalthaus, rechts die Werkhallen 5 und 6, links im Hintergrund die ehemalige Kohlenwäsche, in der heute das Ruhr Museum sitzt.

Insofern können wir die Idee von Lego als Ausstellungsmittel weitgehend begraben, sollten aber überlegen, wo wir es als Hands-on-Werkzeugverwenden können. Der Vorteil, das fast alle Menschen ein grundlegendes Verständnis und die nötige Feinmotorik dafür mitbringen, ist offensichtlich. Die Zeit und Aufmerksamkeit, die man damit binden kann, machen es meines Erachtens zu einem guten Mittel für die Schule, aber eben auch für außerschulische Lernräume – warum nicht als lokaler Geschichtsverein die Leute dazu bringen, die historische Architektur ihres Ortes durch Bausteinmodellierung zu erfahren? Warum nicht in Begegnungscafés in Seniorenheimen die Erinnerungen an die eigene Lebenswelt wachhalten und gleichzeitig Anstoß für die jüngeren Anwesenden zum Austausch geben? Die Möglichkeiten sind alle da, man muss sie nur nutzen.

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