Zum Hauptinhalt springen

Specht und Spannung

Dieser Newsletter hat eine kurze Pause gemacht, Zahnarztphobiker:innen werden sich gegebenenfalls darüber freuen: Mein Plan, angesichts einer eingeschobenen Wurzelspitzenresektion darüber zu schreiben, in was für einem medizinisch goldenen Zeitalter wir leben, wurde davon durchkreuzt, dass auch eine Wurzelspitzenresektion im Jahr 2023 dazu führt, das man erst einmal ziemlich erledigt ist. Ich lege das Thema zur Wiedervorlage, denn Anlässe finden sich dafür in meinem Kiefer oft genug.

Aber es sind ja auch außerhalb von ausgehöhlten Nervenenden genug Dinge passiert, die nicht gut für den Blutdruck sind: In Frankfurt benahm sich Boris Palmer derart daneben, dass er es in einem bemerkenswert selbstkritisch-zerknirschten Statement (Öffnet in neuem Fenster) selbst merkte. Die ganze Angelegenheit über Wörter, die man legal sagen darf, aber schon allein aus reinem Anstand eben nicht mehr verwenden sollte, muss hier nicht noch einmal aufgedröselt werden, hierzu sei schlicht die sehr gute Folge des Podcasts „Piratensender Powerplay“ der vorigen Woche (Öffnet in neuem Fenster) empfohlen.

Gestern, am 8. Mai, dem 78. Jahrestags des militärisch erzwungenen Untergangs des nationalsozialistischen Deutschland, erschien aber ein Artikel zum Thema, der die genauere Betrachtung verdient. Publiziert wurde er in Cicero, dem als anspruchsvolles konservatives Debattenmagazin gestarteten Totholzblog mit Kampagnenanschluss, dessen Hauptaugenmerk heute darauf zu liegen scheint, bloß die eigene Stammleserschaft nicht mit unerwarteten Gedanken zu irritieren: Hier schritten vier habilitierte Mitglieder (Öffnet in neuem Fenster) des zur Selbstkarikatur gewordenen „Netzwerks Wissenschaftsfreiheit“, zwei Althistoriker, eine Medizinerin und ein Strafrechtler, zur Verteidigung Palmers, die Palmer offenbar nicht mal mehr selbst wünscht. Wie so oft, wenn das Ergebnis vor dem Argument feststeht, verrannten sie sich dann bereits im zweiten Absatz mit einer Behauptung, die für sich zu stehen hat:

„Der Judenstern ist als solcher kein Symbol der Vernichtung“

Nun kann man mutmaßen, ob die Veröffentlichung am 8. Mai Absicht war oder nur Nachlässigkeit, es ist aber für die innere Beschaffenheit des Textes unerheblich: Er besteht, neben einigen weitgehend irrelevanten Ausführungen zum Strafrecht, aus denselben Versatzstücken, die wir von Stammtischen, unbeliebten Onkeln auf Familienfesten und neuerdings mit einem Verifizierungshaken ausgestatteten Twitternutzern kennen: Das in aller Regel rassistisch gelesene N-Wort sei harmlos, es entstamme dem Lateinischen, es bedeute schlicht „Schwarz“, „Gesinnungspolizei“, „Massenpsychose“, und so weiter.

Es ist kein Zufall, dass so ein Text dann in „Cicero“ erscheint, denn jedes Medium mit einem Funken Selbstachtung würde darum bitten, die hierzu seit Jahren ausgeführten Gegenargumente zumindest zur Kenntnis zu nehmen und sich neue Erwiderungen dazu zu überlegen. Das wäre auch überhaupt nicht so schwer gewesen: Auf den Widerspruch, einerseits die Bezeichnung Palmers als „Nazi“ (was natürlich Unfug ist) unwidersprochen zu lassen, im „Judenstern“ aber eine Relativierung von NS-Verbrechern zu lesen (was durchaus zutrifft), hat Gideon Böss sogar im selben Magazin hingewiesen (Öffnet in neuem Fenster). Man hätte aber auf Palmers eigene Stellungnahmen eingehen müssen und darauf, dass es gerade in der publizierten Meinung in Deutschland eine große Menge an Stimmen gibt, die sich die Bezeichnung „Nazi“ nicht zu Eigen machen und Palmer trotzdem fundiert kritisieren.

Gerade Egon Flaig, der kommende Woche 74 Jahre alt wird, müsste diese Feinheiten von Debatte und Sprache eigentlich gut kennen: Schließlich gehört zu den bekanntesten Produkten seiner wissenschaftlichen Karriere der folgende Ausspruch (Öffnet in neuem Fenster):

„Rein logisch ist alles Existierende singulär, weil die Bedingungen des Existierens für zwei Dinge unmöglich dieselben sein könne Wer wird bestreiten, daß das Warschauer Ghetto »singulär« war? Aber jede einzelne Krankheit meines Großvaters war es ebenso. Sogar der Rotz in meinem Taschentuch ist singulär“

Flaig wollte hier den Begriff „Singularität“ angreifen und tat dies in der intellektuell flachsten Art und Weise: Indem er einen Anspruch an den Begriff stellte, der unmöglich ist. Und als ob das nicht genug wäre, um den eigenen Ruf außerhalb der politisch heimeligen Ecke zu ruinieren, fügte er in einen Absatz die Worte „Warschauer Ghetto“ und „Rotz in meinem Taschentuch“ zusammen – hier schreibt entweder jemand der sich nicht auf grundlegenden Anstand besinnen kann, oder dessen Lust an Provokation das eigene Urteilsvermögen benebelt. Flaig weiß, dass ihm dieser Absatz hinterherhängt, und dass alle später einmal zu publizierenden Nachrufe ihn beinhalten werden. Wirklich reflektiert hat er das offenbar noch nicht. Es bleibt bei ihm und seinen Co-Autor:innen (!) der Eindruck, dass sie sich eine vergangene Zeit zurückwünschen, in der das, was sie denken, nicht nur der geistige Mainstream war, sondern diejenigen mit ihren lästigen Gegenargumenten auch noch nicht im Besitz massenmedialer Produktionsmittel waren.

Diese Zeit ist übrigens gar nicht so lange her: In den Untiefen von Rechtstwitter stieß ich auf einen Videoausschnitt (Öffnet in neuem Fenster) aus dem Jahr 1999, das, ich habe das für uns alle nochmal nachgerechnet, tatsächlich fast ein Vierteljahrhundert her ist: Robert Atzorn spricht dort in seiner Lebensrolle als „Lehrer Dr. Specht“ über „Political Correctness“ und „Sprachverbote“.

Seine Argumentation ist von der heutiger AfD-Stammwählender eigentlich nicht zu unterscheiden, auch er sieht den Untergang des Abendlandes dadurch gekommen, dass N- und Z-Wort von Betroffenen als beleidigend angesehen werden, er geht gar weiter und sieht in der Ersetzung des Wortes „Lehrling“ durch „Azubi“ ein „Sprachgemetzel“. Ironischerweise sehen jene, die diesen Videoclip jetzt immer wieder hervorkramen, ihn als Bestätigung ihrer Haltung im Jahr 2023, wenn er doch eigentlich das Gegenteil nahelegt: Auch 1999, bevor Grüne Ministerpräsidenten stellten und Merkel den großen Austausch gemeinsam mit George Soros durchgeführt haben soll, gab es diese Diskussion schon. Und in den 24 Jahren seitdem ist die Welt immer noch nicht untergegangen. Nicht einmal Dr. Specht wurde (entgegen dem Wunsch seines Schauspielers Robert Atzorn) dafür erschossen, Menschen mit Bezeichnungen zu belegen, die diese als beleidigend empfinden. Das ZDF hat die Folge immer noch in der Mediathek (Öffnet in neuem Fenster). Es scheint also nicht weit her zu sein mit der woken Diktatur.

Man könnte diese historische Überlieferung also als Impuls für mehr Gelassenheit von der rechten Seite sehen, oder als peinlich-berührten Einwurf, dass die Gegner:innen einer höflichkeitsbasierten Sprache sich seit 24 Jahren inhaltlich nicht weiterentwickelt haben. Die Reaktion auf Palmer lässt das umso unwahrscheinlicher erscheinen.

PS: Ab dieser Ausgabe verwende ich die Bildergenerierungs-KI (Öffnet in neuem Fenster) von Microsoft für die Bebilderung des Newsletters. Der Prompt dieser Woche hieß "A woodpecker flying over Berlin, graphic novel style".

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Schicht im Schacht und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden