Seit ich diesen Newsletter gestartet habe, versuche ich am Samstag zu wissen, worüber ich am Dienstag schreiben möchte. Diese Woche flogen mir die Themen erst am Sonntag zu: Zunächst einmal entblödete sich der allseits beliebte Instagram- und Facebook-Account „Gärten des Grauens“ nicht, das Engagement gegen invasive Pflanzenarten mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung zu vergleichen (Öffnet in neuem Fenster), inklusive der Bezeichnung von Pflanzenjäten als „Progrom“ (über diese Falschschreibung des Wortes Pogrom könnte man allein schon einen Newsletter verfassen).
Und dann sprach unser Bundespräsident in einem der langweiligsten Boulevardinterviews aller Zeiten mit der „Bild am Sonntag“ über Spritpreise („Was kostet ein Liter Diesel in Rottweil?“), Geburtstagswünsche für Gerhard Schröder („In diesem Jahr nicht.“) und zuletzt über eine „soziale Pflichtzeit“. Dabei war es dem drögsten aller Bundespräsidenten wichtig das Thema nicht selbst angestoßen zu haben, sondern die Debatte nur aus der Mitte der Gesellschaft aufzunehmen:
„Was wir aber gerade erleben, ist ein wachsendes Verständnis dafür, dass sich Menschen eine gewisse Zeit für die Gemeinschaft einsetzen, dass sie sich engagieren. Politik sollte das aufnehmen. Ich weiß, dass es nicht einfach werden wird, aber ich wünsche mir, dass wir eine Debatte über eine soziale Pflichtzeit führen.“
Und schon, hex hex!, ging sein Wunsch in Erfüllung. Erst auf Twitter, dann überall wurde über das „Gesellschaftsjahr“ diskutiert, obwohl der Steinmeier des Anstoßes ausdrücklich von einer „Zeit“ und nicht einem „Jahr“ gesprochen hatte. Aber die Vorstellungskraft der öffentlichen deutschen Debatte geht dabei nicht über „So wie Zivildienst“ hinaus, und deshalb haben nun Vertreter:innen von Grünen und FDP ein Arbeitsjahr für junge Menschen weitgehend abgelehnt, während SPD-Mitglieder wenig überraschend finden, dass sowas eine ziemlich tolle Idee sei: Franziska Giffey, über die man mehr schlechte Dinge schreiben könnte als sie unbelegte Zitate in ihrer Doktorarbeit untergebracht hat, vermengte (Öffnet in neuem Fenster)das gar gleich mit dem Krieg in der Ukraine:
„Das Prinzip der Freiwilligkeit habe ich immer unterstützt, aber wir leben in einer veränderten Zeit und vielleicht gehört zur Zeitenwende auch, dass jeder junge Mensch ein Jahr seines Lebens für den Einsatz für die Allgemeinheit aufbringt. Ein solches Jahr dient nicht nur dem Gemeinwohl, sondern ist auch eine prägende Erfahrung für jeden jungen Menschen, die Orientierung gibt, den Horizont erweitert, ein Leben lang bereichert und sogar Weichen für den späteren beruflichen Weg stellen kann.“
Wir finden hier also gleich zwei Begründungsmuster für eine solche Dienstpflicht: Das Bedürfnis der Allgemeinheit an der Arbeit ungelernter junger Menschen einerseits, die Erziehung dieser jungen Menschen durch Perspektivwechsel und Arbeitserfahrung andererseits. Beide Argumente sind historisch sattsam bekannt: Sie wurden genau so bereits vor 100 Jahren vorgebracht, als man in der Weimarer Republik darüber diskutierte.
Die Idee stammte aus Bulgarien, wo man bereits 1920 einen Arbeitsdienst eingeführt hatte, der zunächst 12 Monate für Männer und 6 für Frauen bis zu einem Alter von 30 Jahren dauerte. Neben dem ausdrücklichen Ziel, das Land wirtschaftlich voranzubringen – ein großer Teil der Arbeit wurde im Eisenbahnbau verrichtet – war auch der erzieherische Gedanke ein Argument der Regierung: in den jungen Leuten sollte die „Liebe zur Handarbeit“ geweckt werden: der Regierung des bulgarischen Bauernbundes war die Entfremdung der verstädterten Jugend von der „echten“, ländlichen Arbeitswelt ein Dorn im Auge. Hinzu kam als übergeordneter Zweck das „Wecken des Pflichtbewusstseins im Individuum sowohl sich selbst als auch der Allgemeinheit gegenüber“, so die Zusammenfassung eines deutschen Juristen im Jahr 1934 (Öffnet in neuem Fenster). Der bulgarische Arbeitsdienst hatte nämlich bei linken wie rechten Parteien der Weimarer Republik große Neugier geweckt und diente als Projektionsfläche für die jeweilige Idee eines zukünftigen Staatswesens.
Während auf der Linken der wirtschaftliche Wiederaufbau nach dem Ersten Weltkrieg und die Ertüchtigung und Gemeinschaftserfahrung einer arbeitenden Gruppe junger Erwachsener vorschwebten, war es auf der Rechten hauptsächlich der Gedanke einer militärischen Ersatzausbildung, des Drills und der körperlichen Ertüchtigung einer Generation, die keinen Wehrdienst zu erwarten hatte.
1931 wurde schließlich der Freiwillige Arbeitsdienst (FAD) eingeführt, eine Art Beschäftigungsmaßnahme: Gemeinnützige Träger konnten Arbeitslose zwischen 18 und 25 Jahren für bis zu 20 Wochen für sich arbeiten lassen und bekamen dafür das eigentlich zustehende Arbeitslosengeld überwiesen. Das Programm erwies sich als außerordentlich beliebt, schließlich bot es neben der Versorgung auch Gemeinschaftserfahrungen und berufliche Erfahrungen. Es war so beliebt, dass es auch 1933 von den Nationalsozialisten übernommen wurde. Mit der Freiwilligkeit war es aber bald vorbei: Ab 1935 wurde der Reichsarbeitsdienst eingeführt, bei dem es letztlich Hitler überlassen war, wie viele und welche jungen Menschen zu einem sechsmonatigen Zwangsdienst herangezogen wurden. Natürlich war der Erziehungsgedanke in einer NS-Pflichtorganisation nie zu vernachlässigen, letztlich ging es aber hauptsächlich darum, das Land mit viel billiger Arbeit auch physisch in den NS-Staat zu verwandeln: Bau von Konzentrationslagern, Bunkern, Befestigungsanlagen, überall war der Reichsarbeitsdienst beteiligt.
Nun geht es mir nicht darum, ein soziales Pflichtjahr mit einem System von aufgezwungener Arbeit im Nationalsozialismus gleichzusetzen. Die Mechanismen stehen über Systemen, sie finden ich in Freiheit ebenso wie Diktatur: Sie tauchen vor allem in Krisenzeiten auf, sie versprechen positive Effekte für alle Beteiligten und sie werden vor allem von denen gefordert, die eine solche Arbeit nicht selbst abzuleisten hätten. Dabei geht es auch um eine Neudefinierung von Arbeit als einem Wert an sich, dessen Entlohnung auch für den Arbeitnehmer zweitrangig ist. Diese Umwidmung des Konzeptes Arbeit von einem Mittel, Lebenszeit gegen Lebensunterhalt einzutauschen, hin zu einer Lifetime Experience, die dem Individuum entzogen ist (Lohn) und dem Gemeinwesen zu dienen hat, kann so eigentlich nur von Leuten kommen, die weder auf Lohn noch auf Gemeinwesen angewiesen sind.
Dafür wird oft die nostalgisch verklärte eigene Erfahrung von Wehr- oder Zivildienst herangezogen, bei der man z.B. als Bundespräsident mit auskömmlichen Bezügen (sie seien ihm gegönnt) schnell vergisst, dass hier Arbeit zu Hungerlöhnen geleistet wurde, die Sozialdemokrat:innen ansonsten mit der ganz großen Harke bekämpfen würden. Zur Erinnerung: Beim Zivildienst, der erst vor einem Jahrzehnt ausgesetzt wurde, bekam man pro Tag deutlich weniger als den heutigen Mindestlohn pro Stunde.
Der Reichsarbeitsdienst wurde am 10. Oktober 1945 durch den Alliierten Kontrollrat zusammen mit 61 anderen NS-Organisationen aufgelöst. Ein allgemeiner Arbeitsdienst wurde erst 15 Jahre später wieder eingeführt (und nur für Männer), als Berthold Morlock als erster Kriegsdienstverweigerer der Bundesrepublik in einer Heil- und Pflegeanstalt seinen Zivildienst ableistete. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Was sonst noch war
Der Bundesgerichtshof hat wie erwartet entschieden, dass die „Judensau“ von Wittenberg hängenbleiben darf. Enttäuschend ist, dass der BGH ausdrücklich die ziemlich nichtssagende Bronzetafel von 1988 als ausreichende Distanzierung von der dargestellten antijüdischen Hetze einstuft. Weitere Auflagen zur Kontextualisierung wären wünschenswert gewesen: https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/2022094.html (Öffnet in neuem Fenster)
Alle (außer mir) haben schon die Netflix-Dokumentation über die Geiselnahme von Gladbeck gesehen. Bei Übermedien gibt es ein sehr lesenswertes, kritisches, tiefgehendes Interview mit dem Regisseur: https://uebermedien.de/72796/ja-aber-du-guckst-auch-warum-volker-heise-uns-nochmal-alle-zu-gaffern-eines-geiseldramas-macht/ (Öffnet in neuem Fenster)