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Gäbe es nur eine Woche in Deutschland, in der man nicht über Antisemitismus sprechen müsste! Diese deutsche, letztlich menschliche Konstante erschien uns in dieser Woche in der altbekannten und einer neuen Konstellation, in beiden Fällen mit langem Vorlauf angekündigt, und jetzt doch wieder auf eine Weise, die zu kopflosen Reaktionen führt.

Da wäre zum einen die Entscheidung des Bundesgerichtshofes zur „Judensau“ von Wittenberg, die erwartungsgemäß großes Aufsehen erzeugte: das Gericht entschied, dass keine strafbare Kollektivbeleidigung vorliege, weil die Kirche ja ihre auch für kundige Passant:innen schwer verständliche Bronzetafel in den Boden verlegt hätte und eine Infotafel direkt daneben aufgestellt hätten (ich finde verschiedene Informationen dazu, wann diese Infotafel aufgestellt wurde – in einigen Presseberichten ist von den 90ern die Rede, der BGH geht von 1988 aus). Die Richter:innen waren sicher nicht zu beneiden, denn sie wurden in eine Situation gebracht, die für sie kaum lösbar war: Als (wahrscheinlich) nichtjüdische Deutsche hatten sie zu entscheiden, wo in der Bundesrepublik die Schmerzgrenze zwischen Beleidigung und Geschichtsbewusstsein in der ganz konkreten Gegenwart liegt, und ob sie durch eine in der Nähe aufgebaute Museumsaufbereitung in die richtige Richtung verschoben wurde. Dahin gezwungen wurde das Gericht zunächst einmal vom Kläger, der wurde dazu aber gedrängt von einer Kirche (Organisation), die zum Zwecke der historisch-architektonischen Einheit ihrer Kirche (Gebäude) lieber eine Art nachgelagerten, sekundären Täterstolz entwickelte: Sehet da, wir bekennen uns zu unserer Schuld, und nun lasst unsere Kirche (Gebäude und Organisation) bitte, wie sie ist, es pappt doch schon eine Infotafel dran.

Infotafeln gibt es sicherlich auch bei der documenta (ich war noch nie da), die helfen dann aber auch nicht mehr: Vor allem jüdische und linke Gruppen und, ja, Journalist:innen des Axel-Springer-Verlages haben monatelang angesichts der BDS-Kontakte maßgeblicher Künstler:innen „Wolf!“ geschrien. In dieser Woche haben die documenta-Verantwortlichen nun plötzlich gemerkt, dass der niedliche Hund, den sie eingeladen haben, großen Appetit auf Rotkäppchen hat. Nachdem auch das deutsche Feuilleton zunächst nirgendwo auch nur ansatzweise Antisemitismus erkennen konnte, fiel erst auf, dass eine Bildserie mit dem Titel „Guernica Gaza“ vielleicht doch die Israelische Armee mit dem Probelauf der Wehrmacht für den folgenden Vernichtungskrieg vergleicht. Und hätte man hier noch das große Fass der palästinensischen Perspektive auf einen asymmetrischen Konflikt öffnen können, guckten dann einige wenige Journalist:innen noch einmal genauer hin und fanden auf einem bereits zwanzig Jahre alten, riesigen Wandbild (Öffnet in neuem Fenster) ein Schwein mit Davidstern und „Mossad“-Aufdruck und einen Mann mit Schläfenlocken, Kippa, Vampirzähnen und SS-Logo.

Schon im Januar hat die Documenta angesichts der aufgekommenen Vorwürfe beklagt, durch Verkürzungen würden „Diskursräume verengt“. Darüber zu diskutieren ob diese Darstellungen antisemitisch seien, hieße aber, den Diskursräumen ihre Wände komplett wegzunehmen: die Grenze zwischen legitimer Kritik an israelischer Außen- und Besatzungspolitik und Antisemitismus läuft weit jenseits von SS-Abzeichen und Wehrmachtparallelen. Die Erklärung, auf dem Bild würden indonesische Erfahrungen verarbeitet, funktioniert nicht, weil der damalige Machthaber Sukarno nun wirklich weder mit Jüdinnen und Juden noch dem Mossad im Speziellen große Kontakte pflegte. Es ist eine Schutzbehauptung im Rahmen einer Collage von vulgärrevolutionärem Unterdrücktenkitsch.

Natürlich ist die Debatte ein Desaster nicht nur für die documenta und die von ihr beauftragte Gruppe von Kurator:innen, sondern für einen nicht kleinen Teil des postkolonialen Flügels der deutschen Debattenlandschaft: Zu Recht wird von dort seit Jahren, Jahrzehnten gar, gefordert, ehemalige Kolonien oder das, was man allgemein den „Globalen Süden“ nennt (den Begriff „Dritte Welt“ haben wir uns abgewöhnt), stärker zu hören, ihre Perspektiven zuzulassen. Dementsprechend scharf waren auch die Antworten, als im Januar erstmals öffentlich über BDS, Antizionismus und Antisemitismus bei der documenta berichtet worden (Öffnet in neuem Fenster) war. Der scharfe Ton geht bis heute weiter, so wirft der Kulturjournalist Tobi Müller (Öffnet in neuem Fenster) dem Bundespräsidenten, der die Vorab-Kritik (vor Bekanntwerden der eindeutigen Bebilderungen) in seiner Eröffnungsrede aufgegriffen hatte, vor, seine „Staatsrhetorik“ von extremistischen „anti-deutschen Blogs“ adaptiert zu haben. So schließen sich merkwürdige Kreise: Die letzten, die Steinmeier Sympathie für anti-deutsche Extremist:innen vorgeworfen hatten, waren AfD und andere Rechtsaußen, weil er sich nicht ausdrücklich von der Band Feine Sahne Fischfilet distanziert hatte.

In dieser Skandalisierungsdebatte schießen einige nun übers Ziel hinaus: Die Kölner Aktivistin Malca Goldstein-Wolff verbindet den verständlichen Aufruf zur Demonstration gegen die documenta in dieser Form mit einer Art Generalabrechnung (Öffnet in neuem Fenster) mit u.a. Claudia Roth, der er vorwirft, tote Juden spannender zu finden als lebende. Andersherum wirft nicht nur, aber auch der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer der BILD vor, mit der Überschrift „Ausstellung der Schande“ absichtlich Parallelen zur „Entarteten Kunst“ zu ziehen – ich diskutiere darüber sehr gerne, finde aber diese Verbindung sehr weit hergeholt, wenn auf der so geziehenen Ausstellung Gaza von der Legion Condor (Öffnet in neuem Fenster) bombardiert wird: welcher NS-Bezug ist hier offensichtlicher? Welchen wollen wir verurteilen

Das ganz eindeutig antisemitische Wandbild wurde am Montag schon verhüllt, noch am Dienstag soll es abgebaut werden (Öffnet in neuem Fenster): Einige werden das als Beleg einer kolonialrassistischen Zensur nehmen, andere als Einknicken vor einer spezifisch deutschen Form des Umgangs mit Israel, viele werden hoffen, dass sich die documenta damit befrieden lässt. Das indonesische Kollektiv Taring Padi behauptet, das Bild sei nun „ein Denkmal der Trauer über die Unmöglichkeit des Dialogs“, nachdem man selbst Dialogveranstaltungen abgesagt hatte. Es sind aber doch zu viele Fragen offen, die ganz konkret nicht nur deutsche, sondern globale und eben auch postkoloniale Geschichte befassen: Wie vereinen wir die historischen Erfahrungswerte von Ländern, Gesellschaften und menschlichen Räumen, die zu Tätern oder Opfern wurden? Müssen wir je nach Perspektive und Herkunft unterschiedliche Kriterien anlegen, um zu entscheiden, was antisemitisch ist und was Kritik an einer konkreten Weltlage?

Die documenta wird sich nun auch die Frage stellen müssen, ob es nicht möglich war, dem Globalen Süden ein Sprachrohr zugeben, ohne ausgerechnet jene Vertreter:innen einzuladen, die bei Antisemitismus das Auge ganz besonders fest zudrücken. Und ob es notwendig war, auf die erste, ausführlich begründete Kritik mit dem Vorwurf „Verfälschende Berichte oder rassistische Diffamierungen“ zu reagieren (Öffnet in neuem Fenster).

Fassen wir jetzt diese beiden Fälle zusammen, ergibt sich ein konfuses Bild: Auf der einen Seite darf ein unzweifelhaft judenfeindliches Bild im öffentlichen Raum hängenbleiben, weil der Besitzer sich davon distanziert hat – in Kassel hingegen wird ein Bild im öffentlichen Raum abgehängt, dessen Aussteller einen völlig anderen historisch-politischen Hintergrund als die Wittenberger Stadtkirche hat. Wir belehren ein indonesisches Künstlerkollektiv darüber, was in Deutschland als antisemitisch gilt, halten diese Kriterien aber selbst nicht ein. So klar der Handlungsdruck auf Seiten der documenta auch ist, wir sollten nicht in eine Überlegenheitspose verfallen. So besonders weit sind wir nämlich auch noch nicht.

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