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 Hallo! Was soll aus uns werden?

(Schweigen. Noch mehr Schweigen.)

Mehr Schweigen unten.

1. Im Osten

Ich war in der Oberlausitz. Die Fahrt mit der Eisenbahn ging teils über polnisches Gebiet: Aus dem Zugfenster sah man die deutschen Grenzsteine am Westufer der Neisse. Ein Programmpunkt der Reise war eine Führung durch das Barockhaus Neißstraße 30 in Görlitz, das zum Kulturhistorischen Museum gehört. Hier befindet sich der historische Büchersaal der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften von 1779 mit 150.000 Bänden, von denen 20.000 ausgestellt sind. Oberlausitzer Aufklärung. Die Gelehrtengesellschaft wurde 1990 wiedergegründet und lobt heute einen Oberlausitzer Wissenschaftspreis aus, für „Arbeiten zu einem oberlausitzischen Thema“, dotiert mit 700 Euro. Der Preis kann auch geteilt werden.

Nachdem ich auf der Straße dreimal fehlerfrei „oberlausitzisch“ gesagt hatte, durfte ich hinein. Der Bibliothekssaal war atemberaubend. Der Sitzungssaal mit den Porträts der ehrwürdigen Vorsitzenden bis in die Nazizeit war beklemmend. Mein persönlicher Höhepunkt war das Physikalische Kabinett mit den Gerätschaften des Rittergutsbesitzers und Naturforschers Adolf Traugott von Gersdorff.

Dort sieht man Vorrichtungen, um Blitze einzufangen. Eine „Scheibenelektrisiermaschine“, angeschlossen an mit Metallfolie ausgekleidete Glasflaschen zur Speicherung der erzeugten Elektrizität. Eine gruselige medizinische Vorrichtung zur Behandlung bestimmter Krankheiten durch selbsterzeugte elektrische Ströme, die von Gersdorff auch seinem Gesinde kostenfrei anbot, mit freundlichen Grüßen von Doktor Frankenstein.

Und Kunst. Zu den Experimenten gehörte es auch, Farbpigmente elektrisch aufzuladen und sie dann – in die Form der Buchstaben eines Alphabets gebracht zum Beispiel – machen zu lassen. Und es ist erstaunlich, wie da Schönheit in dem Moment entsteht, in dem die Experimentatoren in all ihrem wütenden Drang, die Natur zu beherrschen und zu nutzen, Kontrollverlust zulassen.

(Es handelt sich um sogenannte Lichtenbergsche Figuren, nach Entdeckungen des Physikers Georg Christoph Lichtenberg von 1778, und es wurde sehr entschlossen Nutzen daraus gezogen: Auf den Experimenten beruht heute die Technik des Fotokopiergeräts.)

Auf der Straße zeigt unser Führer in den Himmel über dem Freistaat Sachsen. Er erinnert uns daran, dass wir uns in der Einflugschneise großer Transportmaschinen befinden, die militärisches Gerät in die Ukraine bringen. Ich schaudere, aber die Flugzeuge sind nicht zu sehen.

Bei der Abreise habe ich viel Wissenschaftskritik im Gepäck, nach einer großen Ladung der Eitelkeiten ehrgeiziger Männer, die Bedeutung anstrebten und dabei nutzbringend die Welt ordnen wollten. Aber es gab lange vor der Gelehrtengesellschaft in Görlitz ja auch den Schuhmacher Jacob Böhme, der als Mystiker und Theosoph von „Naturerkenntnis“ schwärmte und nicht von Naturforschung.

Zurück in der Berlin verpasse ich ein paar Tage später seligerweise die fünfte Querdenkerdemonstration, die als spätmittelalterlicher Narrentanz bei uns unter dem Fenster vorbeizog, ihre Lieder sang, ihre Trommeln schlug und in ihre Tröten trötete. Diese zombieartige Wiederauferstehung der Hippiebewegung aus dem Geist eines übersatten Unbildungsbürgertums mit ihrer ganz besonderen Art der Wissenschaftsverachtung. Und am Abend falle ich wieder vor dem kleinen Bild von Professor Drosten auf die Knie, das auf meinem Nachttisch steht.

2. Im Osten

Ich schreibe dies auf einem Sessel. Meine Laptop-Unterlage ist die großformatige Festschrift „50 Jahre Bundesrepublik“ aus dem Jahr 1999, herausgegeben von Reinhard Appel. Unter den Autor*innen vier Frauen und ein Ostler (Erich Loest).

Kurz nach „Wende“ und Mauerfall war ich in Hamburg in fester Stellung mit unbegrenzter Reiseerlaubnis, und das ohne großen Druck, auf Reisen Ergebnisse zu erzielen. (Beim Mauerfall war ich in Heidelberg Regieassistent.) Ich mietete mir einen Golf und fuhr in die neuen Bundesländer.

Ich erinnere mich an einen einsamen Borschtsch-Stand im Nieselregen, am Atomkraftwerk Greifswald. Ich erinnere mich an den stellvertretenden Kulturreferenten der Stadt Jena, der in der DDR der amtierende Kulturreferent gewesen war und jetzt einen Vorgesetzten aus der alten Bundesrepublik hatte. Ich erinnere mich an die schwarz gebundene Fischer-Taschenbuchausgabe von Kafka, die hinter ihm auf einem Regal stand und ohne die er, wie er sagte, nicht arbeiten könne. Ich erinnere mich, dass er uns Wodka in Wassergläser einschenkte, Rotwein aus dem Schrank holte, als der Wodka alle war, und mich später zum Zug brachte. Auf dem Bahnsteig gegenüber wurde ein Mann zusammengeschlagen, und ich erinnere mich, dass er lächelte und sagte, die Polizei würde sowieso nicht kommen.

Am Tag darauf versuchte ich, in meinem Westwagen unter einem Baum den Kater abzuschütteln, und fuhr dann irgendwann zurück zu meiner Arbeitsstätte. Wo mir  mir auf den Fluren manchmal Marion Gräfin Dönhoff und Helmut Schmidt begegneten und ich mir nicht weniger fremd vorkam als in Greifswald oder Jena.

Es gab aber Literatur. Es wehten plötzlich Bücher russischer Autoren herein, die in der Sowjetunion nicht hatten veröffentlicht werden können, weil ihre Texte den gesellschaftlichen Notwendigkeiten nicht gerecht wurden. Jetzt kamen sie aus der Schublade, und diese Texte waren traurig, absurd und verzweifelt. Sie stammten von Daniil Charms und den anderen Mitgliedern der Gruppe Oberiu, oder von Vladimir Kazakov, dessen Band „Unterbrechen Sie mich nicht, schweige“ ich 1990 in die Hand bekam und der mir jetzt wieder einfällt, weil ich gerade auf jede Frage, die man mir stellt, am liebsten mit diesem Buchtitel antworten würde. (s.o.)

Es gibt in diesen Texten keine Hoffnung auf eine Wirklichkeit, an der man sich festhalten könnte, es gibt nur ein Durchhalten in einem sinnfreien Traum, es gibt Trotz und Melancholie. Ich glaube nicht, dass diese Literatur  mich heute noch genauso packen würde, aber damals hatte ich sie wie eine sehr passende Hintergrundmusik immer im Kopf, zum Beispiel bei den Besuchen in den riesigen Installationen von Ilja Kabakow, diesen Abraumhalden aus urplötzlich um Äonen gealterten Erinnerungsstücken aus der Sowjetzeit.

Ich schreibe das alles, weil auf Twitter gerade ein Video umgeht, das zeigt, wie in Nischni Nowgorod, dem früheren Gorki, eine Frau verhaftet wird, weil sie ein leeres Blatt Papier in die Luft hält. 

Ich bin mir sicher, dass diese Szene bei Charms oder Kazakov schon existiert. Dass sie im wirklichen Leben von Putins Russland nur nachgespielt wurde.

Der stellvertretende Kulturreferent der Stadt Jena, von dem ich annehme, dass er sich selbst als Figur in einer Kurzprosa gedacht hat, die die Absurdität seines Erlebens zum Ausdruck bringt, lebt heute nicht mehr.

3. Schlusswort

Danke fürs Lesen, danke fürs Abonnieren. Wer sich ein Bezahlabo leisten kann und schon an die Ukraine gespendet hat – zum Beispiel an die Queere Nothilfe Ukraine (Öffnet in neuem Fenster) – die Abo-Kanäle sind freigeschaltet. Ich freue ich mich, wenn diese Gruppe wächst.

Links

Lichtenberg-Figuren:

https://bauer-holz.at/blog/lichtenberg-figuren/ (Öffnet in neuem Fenster)

Vladimir Kazakov:

https://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Vladimir-Kazakov+Unterbrechen-Sie-mich-nicht-ich-schweige-S%C3%A4mtliche-Dramen/id/A02uNMYF01ZZ7 (Öffnet in neuem Fenster)

Meinen Newslettertext über das Literaturübersetzen habe ich übrigens erweitert. Die Langfassung ist auf babelwerk.de erschienen, einem wirklich sehr schönen Portal des Deutschen Übersetzerfonds:

https://babelwerk.de/essay/wie-viel-eigener-stil-darf-es-sein-sehr-ungehobelte-gedanken-aus-einer-moebelschreinerei/ (Öffnet in neuem Fenster)

Von einer (zahlenden!) Abonnentin wurde während des Verfassens dieses Newsletters für mich gekocht:

https://eatsmarter.de/rezepte/matjes-mit-kartoffeln (Öffnet in neuem Fenster)

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