Joseph Roth - Rast angesichts der Zerstörung (1938)
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
diesen Newsletter gibt es nun seit über einem Jahr und dies ist die 16. Ausgabe. Daher kommt diesmal statt einer normalen Einführung die Bitte um Feedback. Ich stehe aktuell vor zwei Problemen in der Konzeption dieses Newsletters.
Zum einen ist die Zahl der Abonnenten leider doch recht gering. Wenn Ihr also diesen Newsletter gerne lest oder ihn gar regelmäßig an Bekannte weiterleitet, dann empfehlt ihn doch einfach mal weiter.
Zum anderen haben wir mittlerweile einen nicht kleinen Teil der klassischen und mittlerweile gemeinfreien Journalisten erkundet - Kisch, Tucholsky, Orwell, Bly & Co. Unseres Urheberrechts, welches Werke bis 70 Jahre nach dem Tod schützt, ist hier maximal unhilfreich genau wie die Tatsache, dass der Nationalsozialismus natürlich keinerlei gesteigertes Interesse an interessanten Reportagen hatte. Ich habe noch ein paar Reportagen in der Reserve, aber wenn jemand von euch interessante Lesetipps hat - antwortet einfach auf diese E-Mail und ich freue mich. Ansonsten können wir weiterhin zusammen die Werke besonders schreibefreudiger Journalisten erkunden - gerade Egon Erwin Kisch könnte diesen Newsletter hier im Alleingang bis 2030 tragen, aber das wäre vielleicht etwas eintönig?
Auf jeden Fall: Wenn Ihr Feedback habt, schreibt es mir einfach.
Unsere heutige Reportage stammt vom Journalisten und Schriftsteller Joseph Roth (1894-1939), der im Jahr 1938 wieder ein Stück Heimat verliert. Von den Nationalsozialisten ins französische Exil getrieben, verliert er nun das Hotel, in dem er lange Jahre lebte, an die Abrissbirne. Ein Jahr später stirbt er, noch bevor die Nationalsozialisten Paris besetzen.
Gegenüber dem Bistro, in dem ich den ganzen Tag sitze, wird jetzt ein altes Haus abgerissen, ein Hotel, in dem ich sechzehn Jahre gewohnt habe – die Zeit meiner Reisen ausgenommen. Vorgestern abend stand noch eine Mauer da, die rückwärtige, und erwartete ihre letzte Nacht. Die drei anderen Mauern lagen schon, in Schutt verwandelt, auf dem halb umzäunten Platz. Wie merkwürdig klein schien mir heute dieser Platz im Verhältnis zu dem großen Hotel, das einst auf ihm gestanden hatte! Man müßte glauben, ein leerer Platz sei weiter als ein bebauter. Aber wahrscheinlich kommen mir die sechzehn Jahre, nun sie vergangen sind, so köstlich vor, ja, von Kostbarem erfüllt, daß ich nicht begreifen kann, wie sie auf einem so kargen Platz abrollen konnten. Und weil das Hotel jetzt ebenso zerschmettert ist wie die Jahre, die ich darin verlebt habe, verronnen sind, erscheint mir in der Erinnerung auch das Hotel weit größer, als es gewesen sein mochte. An der einzigen Wand erkannte ich noch die Tapete meines Zimmers, eine himmelblaue, zart goldgeäderte. Gestern schon zog man ein Gerüst, auf dem zwei Arbeiter standen, vor der Wand hoch. Mit Pickel und Steinhammer schlug man auf die Tapete ein, auf meine Wand; und dann, da sie schon betäubt und brüchig war, banden die Männer Stricke um die Mauer – die Mauer am Schafott. Das Gerüst ging mit den Arbeitern nieder. An beiden Rändern der Mauer hingen die Strickenden herunter. Jeder der beiden Männer zog an je einem Strickende. Und mit Gepolter stürzte die Mauer ein. Eine weiße, dichte Wolke aus Kalk und Mörtel verhüllte das Ganze. Aus ihr traten jetzt weißbestaubt, gewaltigen Müllern ähnlich, die Steine mahlen, die zwei Männer. Sie kamen mir geradewegs entgegen, wie jeden Tag, ein paarmal am Tage. Sie kennen mich, seitdem ich hier sitze. Der jüngere deutete mit dem Daumen über die Schulter rückwärts und sagte: »Jetzt ist sie weg, Ihre Tapete!« – Ich lud beide ein, mit mir zu trinken, als hätten sie mir eine Wand aufgebaut. Wir scherzten über die Tapete, die Mauern, meine teuren Jahre. Die Arbeiter waren Demoliseure; Niederreißen war ihr Beruf, für Aufbauen kamen sie niemals in Betracht. »Und das ist recht so«, sagten sie. »Jedem sein Beruf und jedem sein Verdienst! Dies ist der König der Demolierer«, sagte der jüngere. Der ältere lächelte. So heiteren Sinnes waren die Zerstörer; und ich mit ihnen.
Jetzt sitze ich gegenüber dem leeren Platz und höre die Stunden rinnen. Man verliert eine Heimat nach der anderen, sage ich mir. Hier sitze ich am Wanderstab. Die Füße sind wund, das Herz ist müde, die Augen sind trocken. Das Elend hockt sich neben mich, wird immer sanfter und größer, der Schmerz bleibt stehen, wird gewaltig und gütig, der Schrecken schmettert heran und kann nicht mehr schrecken. Und dies ist eben das Trostlose.
Unfaßbares geschieht, die Hand bleibt ruhig und greift nicht an den Kopf. Rechts neben mir liegt das kleine Postamt, der Briefträger tritt heraus und legt mir Briefe auf den Tisch, böse Briefe meist; als das Hotel noch stand, pflegte er mir gute zu bringen. Eine Frau kommt – geliebt, und ich lächle, Abglanz eines alten Lächelns, nach dem ich mich auch nicht mehr sehne. Ein Greis in Hauspantoffeln schlurft vorbei, und ich beneide ihn um sein Recht, Greis zu sein und zu schlurfen. Lärmfrohe Gäste stehen um den Schanktisch, sie streiten sich munter. Sie tragen unvereinbare, freilich eng miteinander verwandte Meinungsverschiedenheiten aus: Feuerzeuge, Radioapparate, Rennpferde, Gattinnen, Automobilmarken, Aperitifs und manch anderes, was Gemüter ernstlich beschwert. Ein Chauffeur tritt ein. Der Kellner gibt ihm Rotwein. Das Taxi wartet. Der Chauffeur trinkt. Bald steht er allein, der Wirtin gegenüber an der Theke. Der Kellner hängt eine leere Blechbüchse an ein Autorad. Die Gäste lachen. Sie fordern von mir, daß ich mitlache. Warum nicht? Ich stehe auf und lache. Wer lacht denn da aus mir? An meinem Tisch wartet das sanfte, große Elend. Wart, ich lache nur ein bißchen!
Schräg gegenüber steht der Friseur, weiß wie eine Kerze, vor der Tür. Bald werden Kunden kommen, nach des Tages Arbeit werden sie kommen, wenn mir der Händler die Abendzeitungen bringt, jene, in denen von heißen Gefechten und kaltem Blut die Rede ist und die sich – man sollte es nicht glauben – dennoch wie riesengroße, abendmüde Friedenstauben raschelnd auf die Tische der Terrasse heimretten. Den ganzen Schrecken der Welt enthalten sie, den Schrecken des ganzen grausigen Tages, davon sind sie so müde. Wenn die ersten silbernen Laternen glimmen, kommt gelegentlich ein Vertriebener, ohne Wanderstab, ganz, als wäre er zu Hause, und so, als wollte er in einem Atem zu erkennen geben, daß er zu Hause sei, wie daheim, aber auch durchaus in der Fremde heimisch, sagt er: »Ich weiß, wo man hier gut und billig essen kann.« Und es ist gut so, daß er es glaubt. Es ist gut, daß er unter der silbernen Lichterschnur der Laternen dahingeht und nicht den jetzt, in der anbrechenden Nacht, immer gespenstischer bleichenden Kalk auf dem Platz gegenüber sieht. Nicht alle müssen sich an Schutt gewöhnen und an zerpulverte Mauern.
Der Heimatlose hat die Zeitungen mitgenommen. Er will sie im guten, billigen Restaurant lesen. Vor mir der Tisch ist leer.