Klammheimlichkeit
Brian Thompson war fünfzig Jahre alt, hatte eine Frau und zwei Söhne. Man sollte das nicht vergessen und sich auch immer gewahr machen, dass bei Themen, die eine öffentlichkeitswirksame Dimension haben, am Ende auch Menschen dahinter stecken die abends die Füße auf den Tisch legen, sich ärgern, wenn das Klopapier alle ist und eine lange Liste von Filmen haben, die sie eigentlich längst gesehen haben wollten (vielleicht wäre an Weihnachten Zeit).
Aber wir als Beobachter eines (aktuellen wie vergangenen) Zeitgeschehens müssen uns davon immer irgendwann entfernen und systemischer denken. Das gehört (für mich) einerseits zu den schwereren Teilen des Jobs als Historiker, weil es so schrecklich empathielos ist, erleichtert es aber auch etwas, weil man gewisse Ängste und Mitgefühl etwas ausklammern kann. Genau dieses Spannungsfeld ist der Grund, weshalb ich jedem, der mit Prüfungsordnungen für das Geschichtsstudium zu tun hat, ungefragt erzähle, wie wichtig es wäre, zumindest ein Teilmodul zu psychologischen Bewältigungsstrategien unterzubringen. Es ist ziemlich genau zehn Jahre her, dass ich innerhalb von vier Tagen das gesamte Tötungssystem von Auschwitz bis ins Detail nachvollzog, und dann erstmal für eine halbe Woche zu nichts zu gebrauchen war. Nicht jedes Thema ist gleich Völkermord, aber ein kleines Instrumentarium, um sich durch die Abgründe menschlicher Natur zu arbeiten, würde selten schaden.
Aber zurück zu Brian Thompson, der am 4. Dezember vor einem New Yorker Hotel von hinten erschossen wurde. Thompson war Chef einer großen amerikanischen Krankenversicherung, unter seiner Aufsicht wurden der Gewinn wie auch der Zahl der abgelehnten Erstattungsanträge enorm gesteigert. Auf den Patronenhülsen waren Worte eingeritzt, die darauf schließen lassen, dass es bei dem Mord um genau diese Geschäftspraktiken ging.
Der Täter ist (während ich das hier schreibe) nicht gefasst, aber die Reaktionen sind schon spannend: Natürlich gibt es weithin veröffentlichtes Entsetzen über einen Mord, gar einen „feigen“ Mord (als ob es da einer Klassifikation bedürfte). Aber in einem zweiten Schritt haben zunächst einmal viele Menschen in Sozialen Medien eine gewisse Sympathie erkennen lassen, gerade jene, die selbst im amerikanischen Krankenversicherungssystem feststecken, und seit nun 24 Stunden werden immer neue Beispiele veröffentlicht, in denen amerikanische „Health Care Providers“, wie sie sich selbst nennen, die Kostenübernahme für vollkommen offensichtlich gerechtfertigte Therapien ablehnen. Es scheint, dass sich die Unzufriedenheit darüber tatsächlich gerade Bahn bricht.
Mich hat das Ganze, um mal im Historischen zu bleiben, an die Reaktion auf den Mord an Siegfried Buback 1977 erinnert. Der Generalbundesanwalt war von RAF-Terroristen ermordet worden (und mit ihm, meist vergessen, ein Wachtmeister und ein Fahrer), im Anschluss diskutierte die westdeutsche Linke lange über ihr Verhältnis zur Gewalt. Öffentlichkeitswirksamer Gipfel des ganzen war der Artikel „Buback – ein Nachruf“ des damals anonym agierenden 30-jährigen Deutschdozenten Klaus Hülbrock unter dem Tarnnamen „Göttinger Mescalero (Öffnet in neuem Fenster)“. Eigentlich wendete sich Hülbrock gegen Gewalt:
„Unser Zweck, eine Gesellschaft ohne Terror und Gewalt […] dieser Zweck heiligt eben nicht jedes Mittel, sondern nur manches. Unser Weg zum Sozialismus (wegen mir: zur Anarchie) kann nicht mit Leichen gepflastert werden.“
Der ganze Text ist immer noch durchaus lesenswert – er stößt etwas ab in seiner hingerotzten Sprache, er ist nicht sauber strukturiert, mäandert immer mal wieder, aber ist genau deshalb ein ziemlich authentischer Einblick in die Gedankenwelt eines Linken, der zwar von einer Abkehr vom Staat träumt, aber letztlich eben doch nicht jedes Mittel dafür mit dem Gewissen vereinbaren kann.
Warum der Artikel dennoch so große Aufmerksamkeit bekam, war sein Anfang, der weitaus häufiger zitiert wurde als alles, was danach kam:
„Meine unmittelbare Reaktion, meine "Betroffenheit" nach dem Abschuß von Buback ist schnell geschildert: ich konnte und wollte (und will) eine klammheimliche Freude nicht verhehlen.“
Der Text schlug, nun ja, ein wie eine Bombe: Nur vier Tage, nachdem er in der Zeitung des Göttinger AStA abgedruckt wurde, stellte der örtliche RCDS, also die CDU-nahe Studierendenvertretung, Strafanzeige, diverse andere konservative Politiker folgten dem Beispiel. Räume des AStA und verschiedener linker Gruppierungen in Göttingen wurden von der Polizei durchsucht. Gegen zahlreiche Menschen, die Sympathie für den „Mescalero“ äußerten oder gar den Text nur deshalb nachdruckten, um seine Nuancen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wurden Strafverfahren eröffnet – der Professor Peter Brückner wurde deshalb ganze vier Jahre suspendiert.
Bubacks Sohn hat immer wieder betont, wie sehr dieser Text seine Familie getroffen hat, was ja auch völlig nachvollziehbar ist: Geäußert wird dort nur eine Ablehnung der tödlichen Gewalt an sich, Buback hingegen wird keinerlei Mitleid oder auch nur teilnahmslose Sympathie zuteil. Wie das auf Hinterbliebene wirken muss, ist ja völlig klar. Wie es bei der Familie Thompson mit der Allgegenwart von Äußerungen in Sozialen Medien aussieht, mag ich mir kaum vorstellen.
Man wird sehen, wie die Debatte in den USA weitergehen wird. Dass mittlerweile niemand mehr zur öffentlichen Meinungsäußerung auf eine Druckerpresse angewiesen ist, führt natürlich zur Radikalisierung und zunehmenden Maßlosigkeit der Äußerungen, aber auch zu einer noch größeren Diversifizierung. Gut möglich, dass Brian Thompson bald weitgehend vergessen ist, aber jeder Ablehnungsbescheid seines Arbeitgebers im Internet mehr Aufmerksamkeit erhält. Möglich auch, dass die ‚Option‘, reiche Nutznießer des Kapitalismus einfach zu erschießen, gerade in den USA nun für einige Menschen deutlich machbarer scheint: Terrorismus, wie er früher einmal war, fokussiert auf die Protagonisten der Macht statt auf die größtmögliche mediale Aufmerksamkeit mit vielen „zivilen“ Opfern.