Wählen

Am vergangenen Sonntag war, damit verkünde ich hier keine Neuigkeiten, Bundestagswahl. Ich will mich mit meiner Analyse der Ergebnisse hier gar nicht groß aufhalten, weil das schon viele mal mehr, mal weniger kluge Menschen gemacht haben. Ich will lieber gleich auf einen anderen Punkt hinaus: In diesem Jahr habe ich mich erstmals freiwillig als Wahlhelfer gewählt. Das war eine interessante, spannende und durchaus mutmachende Erfahrung, die ich allen nur nahelegen kann: Man arbeitet aktiv an unserer Demokratie mit, bekommt noch ein wenig Geld (über die Höhe entscheiden die Kommunen), und während alle anderen um 18 Uhr doomscrollen, sind wir mit der Auszählung beschäftigt.
Aber vor allem bekommt man einen authentischen Blick in die politische Performance der Gegend, in der man lebt: Bei mir ist das ein Wahlbezirk mit etwa hälftig zugezogener Akademiker-Bevölkerung und hälftig alteingesessenen Familien, die sich das Leben in unserer wohlhabenden südwestdeutschen Kleinstadt nur deshalb leisten können, weil ihre Häuschen schon im Familienbesitz waren, bevor sich ein Betrieb niederließ, der zum Softwarekonzern von Weltrang aufsteigen würde. Es sind also wenige Menschen mit sicht- oder hörbarem Migrationshintergrund dabei, außer einigen Inder:innen. Und da wäre dann noch eine Hand voll älterer Menschen, denen man im Hintergrund noch einen ostpreußischen Akzent anhört.
Es ist also bei Weitem keine Bevölkerungsgruppe, die irgendwie repräsentativ wäre, sondern ein spezielles Sample – aber es ist, auch angesichts der hohen Wahlbeteiligung (nach 5 von 10 Stunden Wahllokalöffnung hatten exakt 50 % der Wahlberechtigten bei uns abgestimmt), ein guter Überblick über die Menschen, die hier mit mir in einem Gemeinwesen zusammenleben. Und, bei allem Pessismismus, kann das durchaus Mut machen, denn die oben genannte politische Performance war immer noch ungemein demokratisch. Wir mussten niemandem politische Werbung untersagen und ganz generell nur eine Hand voll mal irgendwie einschreiten – weil Leute ihren Wahlzettel falschherum gefaltet hatten, so dass wir die Kreuze hätten erkennen können. In allen Fällen war es uns wichtiger, das Wahlgeheimnis zu wahren, als den Personen selbst. Ein Mann mittleren Alters wollte gar direkt bei uns wählen und sich die drei Meter zur Wahlkabine sparen.
In einer der vielen Wartezeiten (eigentlich waren immer etwa 20 Leute gleichzeitig da oder überhaupt niemand) erzählte eine der anderen Wahlhelferinnen, dass sie als Kind bei der Schweizer Verwandtschaft war und ihre Tante dort erstmals wählen durfte – auf Bundesebene wurde das Frauenwahlrecht dort, wie man immer mal wieder ungläubig zu lesen bekommt, erst 1971 eingeführt. Diese Anekdote, kombiniert mit dem etwas leichtfertigen Umgang einiger Wähler am Sonntag, beeindruckte mich dann doch: Diese Selbstverständlichkeit der demokratischen, geheimen und gleichen Wahl ist es für viele Mitlebende längst nicht.
Das betrifft natürlich in ganz besonderer Weise Menschen die jetzt älter als 50 Jahre sind und in der DDR sozialisiert wurden – die haben zwar gewählt, und von außen sah das auch so aus wie heute, aber es war natürlich ein völlig anderer Vorgang: Statt um die Artikulation des eigenen politischen Willens ging es darum, sich dem System zu unterwerfen, wie Siegfried Wittenburg es mal sehr plastisch beschrieben hat (Öffnet in neuem Fenster):
„Dort standen fünf Tische, dahinter die Wahlhelfer. Beim ersten legten wir unsere Wahlbenachrichtigung vor, beim zweiten unsere Personalausweise, der Helfer machte einen Vermerk. Am dritten Tisch erhielten wir den Zettel mit den Kandidaten der Nationalen Front, und am vierten Tisch erwartete lächelnd der Wahlhelfer, dass wir den Zettel falten und in die Urne werfen. Am fünften Tisch saßen auffällig zwei unauffällige Männer.“
Ein Mann, der in Thüringen in den 1990er Jahren Wahlhelfer war, hat mir mal erzählt, dass sie dort fortlaufend Menschen davon abhalten mussten, ihr Kreuz gleich nach der Ausgabe zu setzen. Das ist die Gegenseite zum Misstrauen gegenüber der Demokratie: Wer auch die Bundesrepublik nicht für demokratisch hält, der kann ja ohnehin nichts am Ergebnis ändern und dann auch gleich sämtliche Geheimhaltung fahren lassen.
Ohne falschen Hochmut sollten wir also bei der Frage, wie wir mit den ins Rutschen gekommenen Verhältnissen in unserem Land umgehen, auch die zeithistorische Demokratieerfahrung unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht vergessen – und dabei sind die vielen, vielen Deutschen noch gar nicht miteingeschlossen, die schon in unfreien Systemen außerhalb unserer heutigen Landesgrenzen gelebt haben. Demokratie fängt eben sehr, sehr weit unten an, bei jedem von uns. So banal ist es manchmal.
Ein kleines Postskriptum: Beim letzten Newsletter hatte ich versprochen, wieder Regelmäßigkeit einkehren zu lassen. Offensichtlich ist das bei meiner aktuellen beruflichen wie familiären Situation im Wochenrhythmus kaum möglich, und jeder Freitag, an dem ich die Zeit nicht finde, verstärkt nur mein schlechtes Gewissen. Insofern versuche ich es jetzt andersherum: Schicht im Schacht ist jetzt an jedem letzten Freitag im Monat, und ich versuche größere Bögen und auch tiefere Recherchen vorzunehmen. Für die Ausfälle der letzten Zeit bitte ich um Verzeihung, wer von den sehr freundlichen finanziellen Unterstützer:innen die Pakete kündigen oder ändern möchte, hat dafür mein vollstes Verständnis – wer damit bei Steady Probleme hat oder ein schon gebuchtes Jahrespaket zurückgeben möchte, melde sich gerne direkt bei mir.