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Ernst Engelbrecht: Nachtkaschemmen (1924)

Liebe Leserinnen, Liebe Leser,

heute unternehmen wir zusammen mit Polizeikommissar Engelbrecht und seinen Gästen einen Streifzug durch das Berliner Nachtleben und die Nachtkaschemmen der 20er Jahre. Engelbrecht kennt sich im Berliner Nachtleben perfekt aus, denn sein Job als Polizist war genau die Kontrolle des Nachtlebens Berlins. Heute hat er aber Besuch und dieser Besuch will etwas erleben - und welchen besseren Fremdenführer durch das Nachtleben könnte es geben als den Profi Engelbrecht?

Die Reportage ist ursprünglich erschienen im Buch "Berliner Razzien" des Kriminaljournalisten Leo Heller, welches 2021 eine Neuauflage erhalten hat und das in der Erstauflage zudem höchst hervorragende Kapitelbilder besitzt. Wer seine Kenntnisse in alter Schrift auffrischen will, darf sie gerne hier (Öffnet in neuem Fenster)anschauen.

Gerade Mitternacht war es, als wir uns am Bahnhof Friedrichstraße  trafen. Bankdirektor W., zwei alte Kriegskameraden mit ihren Damen, und  wir beide „vom Bau“, Kriminalassistent Krähe und ich. Interessant sollte  die Nacht werden für die fünf „Stubben“, welche sich meiner Führung  durch einige Kaschemmen Berlins anvertrauten, und ich glaube, daß die  wenigen Stunden allen vier Bekannten unvergeßlich bleiben werden.
Zunächst zum …..kasino in der Marienstraße. Eine Kaffeeklappe mittlerer  Größe, hinter dem vorderen Schankraum ein großes Hinterzimmer. Der  weißhaarige Boost empfängt uns mit einem lachenden und einem weinenden  Auge, gibt aber sofort die Tür zum hinteren Raume frei. Ein ungewohntes  Bild bietet sich uns, etwa 30 Männer-Paare wiegen sich nach den Klängen  eines Walzers, den ein Junge von den Tasten haut, im Tanze. Ganz  vereinzelt nur ein weiblicher Gast, alles andere nur Männer, meist junge  Leute, aber auch bejahrte Greise unter ihnen. Die Paare scheinen sich  untereinander gut zu verstehen, manch liebevoller Blick gleitet von  einem zum andern, ja mitten im Saal, beim Tanz, tauschen die Männer  unter sich Liebkosungen, Umarmungen und Küsse aus. Wir befinden uns in  Berlins bekanntestem Päderastenlokal, in welchem ausschließlich nur  Homosexuelle männlichen Geschlechts verkehren. Und auch die wenigen  weiblichen Gäste entpuppten sich bald als „Transvestiten“, Männer, die  gewohnheitsgemäß Frauenkleidung tragen, meist junge Leute mit  ausgesprochenen weiblichem Typ, welche nur der Eingeweihte als Männer zu  erkennen vermag.
„Ach, Herr Kommissar, setzen Sie sich doch ein bussel zu uns“, bittet  eine dieser „Damen“. Und wir folgen gern der freundlichen Aufforderung,  die „Trudchen“ an uns richtet. Trudchen ist ein schönes junges „Mädchen“  von etwa 25 Jahren und gehört mit seiner schlanken Frauenfigur und  seinem echten, wirklich echten langen Haar zu den schönsten seiner Art.  Und „Trudchen“ weiß alles, kennt alle „Pupen“ und alle „Raben“ und weiß  immer etwas Neues, Interessantes zu berichten. Als Paul H. geboren,  wurde „Trudchen“ 1912 einem Bäcker in die Lehre gegeben und 1918 als  Rekrut eingestellt. Hier kommte man ihn aber doch nicht brauchen, und  „Grenadier Trudchen“ wurde als D. u. bald wieder entlassen. Durch diese,  seine kurze Dienstzeit hat „Trudchen“ in den homosexuellen Kreisen  Berlins eine gewisse Berühmtheit erlangt. Er erzählt jedem davon und  weiß seine Angaben auch immer gleich durch ihn betreffende  Zeitungsausschnitte und Urlaubsscheine zu belegen. „Trudchen“ bummelt  unter den Linden wie die anderen auch, er hat aber auch feste Freunde.  Einer von diesen sitzt bei ihm und bewacht eifersüchtig jedes Wort und  jede Bewegung seiner „Liebsten“. Argwöhnisch betrachtet „Trudchen“ die  beiden Damen. Er ist sich scheinbar nicht klar darüber, ob es wirklich  Frauen sind oder auch Männer in „Frauenschale“. Erst als er sich durch  einen kühnen Griff von der Legitimität der Damen überzeugt hat, ist er  beruhigt und schlürft zufrieden den ihm spendierten „Mocka“.
Aber weiter wollen wir, in ein anderes Milieu!
Es ist 1.30 Uhr nachts. Am Oranienburger Tor ist trotz der späten Stunde  noch reges Leben. Die „Lotte“ trifft hier ihren „Emil“ und von hier und  den zahlreichen Kaschemmen der angrenzenden Straßen aus wird mancher  nächtliche Streif- und Raubzug unternommen. Zwei „Gannoven“ begrüßen  uns, der ältere, ein alter Zuchthäusler „Boulettenede“, der andere,  jüngere, ein berüchtigter Zuhälter. Im Augenblick ists bekannt, daß wir  hier sind, viele verwegene Gestalten schieben sich vorbei, uns  sorgfältig und mißtrauisch musternd. Plötzlich vor uns drei Jungens von  der Einbrecherzunft. Wo ist Engelbrecht? Der soll hier sein, wir wollen  ihn totschlagen, prahlt schreiend der eine. Aber als er sich mir und dem  langen Krähe, dem „Schlangengreifer“, gegenübersieht, verläßt ihn und  seinen Kumpanen ihr Mut, und sie sind froh, unangefochten wieder  fortzukommen.
Als wir Linienstraße … angelangen, ist’s 2 Uhr geworden. Karl, der  „Spanner“, läßt uns ein, und zwölf Treppenstufen bringen uns in den  Keller. Wir sind angenehm überrascht, denn peinlich sauber ist alles,  ganz frisch gestrichen und neu tapeziert, und saubere Stühle und Tische  laden zum Verweilen ein.
Das Publikum ist durchweg etwas besser, als in den anderen  „Bouillonkellern“, besteht aber vorwiegend auch aus bekannten „Gannoven“  und ihren Mädchen. Alle aber sind bemüht, ihr Benehmen auch mit dem  Aussehen des Lokales in Einklang zu bringen und Ruhe und Ordnung zu  halten. „Lattenotto“ gibt seine Polizei-Erlebnisse zum Besten, er weiß  noch genau, wie ihn der lange Krähe überlistete, und kann es dem  Kommissar nicht vergessen, daß dieser bei Überrumpelung eines Spielklubs  in der Jerusalemerstraße gerade ihn „alle werden“ ließ. Aber er bleibt  gemütlich und versichert seine Feinde, die Beamten der Kriminalpolizei,  trotzdem hoch zu achten. Auch die Mädchen betragen sich „gesittet“. Als  „Lattenotto“ du dreist wird, weißt ihn die „blonde Grete“ darauf hin,  daß auch Damen „unten“ wären und erzählt nun ihren Lebensgang. Seit  sechs Monaten hat sie nun die Kontrolle. Sie sei aber trotzdem ein  anständiges Mädchen, sagte sie.
Auguststrape … ist kein „Spanner“ zu sehen, der Keller ist geschlossen.  In einer Entfernung stehen zwei Schupobeamte, die interessiert das Haus  beobachten. Im letzten Fenster des Kellers ein Mann im Nachthemd. Leise  ruft er uns, als wir vorübergehen, zu: „Wenn die „Grünen“ weg sind“. Und  wir gehen alle sechs fort, kommen aber 10 Minuten später zurück, und  man öffnet uns.
Wieder ein anderes Bild! In den drei Kellerstuben etwa 40 Gäste.  Verbissene Gesichter zeigen uns, daß hier „schwere Jungen“ zu verkehren  pflegen. „Gannoven“, welche der Gefahr gewöhnt, nur „ganze Arbeit  verrichten“, „Geldschränke knacken“ und mit der Handhabung von „Elle und  Tandel“ gut vertraut sind. Im Hinterzimmer ein Sofa, an dem nur noch an  der Lehne ein Fetzen roter Rips seine ehemalige Pracht ahnen läßt. Nach  einer Tasse Kaffee geht’s weiter, trotzdem der „Boost“ Einspruch erhebt  und uns flehentlich bittet, noch dazubleiben und ihm nicht seine „Ruhe“  mit hinauszutragen.
Fast 4 Uhr morgens ist es, als uns Hans, der „Spanner“, in den  berüchtigten „Katakombenkeller“ in der Linienstraße … einläßt. Kein  Stuhl ist mehr zu bekommen, ein Teil der meist kragenlosen Gäste rekelt  sich schon auf Tischen und auf der „Theke“ herum, in der Hand die  Flasche mit der üblichen „kalten Bouillon“. Gläser sind Luxus und gerade  „kalte Bouillon“, - wie das echte Patzenhofer Bräu genannt wird - ,  schmeckt ja aus der Flasche am besten. Die Toilette birgt besondere  Reize, doch ich darf nicht indiskret sein und möchte darüber schweigen.  Der „Boost“ meldet sich und macht ein zufriedenes Gesicht. Das Geschäft  geht gut, die Gäste haben Durst und „Marie“, d.h. Geld. Ein blasses,  junges Mädchen in der Ecke erregt unser Interesse. Bescheiden, fast  schüchtern schweifen ihre Augen zur Tür. Unsere Damen können es nicht  verstehen, wie solch nettes Mädchen in derartige Gesellschaft kommen  kann. Da leuchten plötzlich des Mädchens Augen auf. Ein junger Mann ist  eben in den Keller gekommen, tritt auf sie zu und faßt sie brutal an den  Arm. Lächelnd begrüßt sie ihn: „Icke hab‘ schon gut vadient, ick will  ma ma ausruhn, wa?“ Wir sind im Bilde und verstehen. Die Damen drängen  zum Aufbruch und wir verlassen den Keller. Alle haben genug gesehen und  Einblick in die Tiefen des menschlichen Daseins getan, der sie zu  ernsten Gedanken zwingt. Nachdenklich und schweigsam bleiben sie auf der  Heimfahrt, auch als wir uns am Sophie-Charlotte-Platz die Hand zum  Abschied drücklen.

Quelle

Heller, Leo: Berliner Razzien, 1924.