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Wolken und Schafe

Über fliegende Zuckerwatte und Wolkenleserei, den Himmel über Paris und Paul Austers Dienstmädchenkammer, ein fahles Pferd und Sterne wie blinkende Taler

Der Sommer ist die Saison der Wolken. Der Frühling natürlich auch und der Herbst sowieso: mit seinen Stürmen und Drachen und fliegenden Blättern. (Nur der Winter nicht; der ist eine einzige große Wolke, die irgendwer über die Erdkugel stülpt wie eine von zu vielen Alpträumen ergraute Schlafmütze.)

Aber der Sommer! Hat er nicht die schönsten Wolken bei der Hand? So groß und so weiß, so bauschig wie Zuckerwatte. Luftschiffe, die mit geblähten Segeln über das Himmelsblau schippern. Schäfchenwolken, wie keine Bilderbuchwolken-Malerin sie schöner malt.

„Das Wolkenschaf“ hieß ein Buch, das ich als Kind las und jetzt meiner Tochter vorlese. Ein kleines Mädchen hat auf der Wiese ein Wolkenschaf gefunden, das beim Spielen aus dem Himmel gefallen ist. „Ich bin hier ganz falsch“, sagt es traurig. Das Mädchen bittet den Schäfer, den Doktor und den Polizisten um Hilfe. Doch erst die Feuerwehr weiß Rat: Das Wolkenschaf in seinen Armen, steigt der Kommandant die Feuerwehrleiter hinauf und bringt es heim zu seinen Spielgefährten.

Ich stelle mir vor, wie das Mädchen immer wieder den Kopf hebt und am Himmel nach seinem Schaf sucht. Gar nicht so leicht, es zu erkennen unter all den anderen Wolkenschafen. Auch meine Tochter hat es schon versucht. Ob sie es gefunden hat? „Ja klar“, sagt sie. „Siehst du es nicht?“

So wie das Mädchen halte auch ich immer wieder Ausschau. Meistens gegen Abend, wenn die Wolkenherde heimkehrt; manchmal auch drei- oder viermal am Tag. So oft stehe ich auf dem Balkon, um den Turm von St. Johannis zu fotografieren: den alten Backsteinriesen mit dem kupfergrünen Helm, der aus den Lüneburger Dächern herauszuwachsen scheint.

Längst ist es zu einem Ritual geworden, ohne das mir etwas fehlen würde. Es gehört dazu wie der Kaffee am Morgen oder die zwei Gedichte, die ich jeden Tag lese.

Und jedesmal bleibt mein Blick an den Wolken hängen – die wiederum es noch immer vermeiden konnten, an der Turmspitze hängenzubleiben. Manchmal stelle ich mir vor, wie es doch geschieht: das aufgeschlitzte Federbett und wie die Gänsefedern über die Dächer stieben.

Ja, ich bin ein Wolkensüchtiger. Schon als Kind habe ich ihnen nachgeschaut – mit gerecktem Hals, den Mund offen vor Erstaunen. Was ich alles in ihnen sah! Luftschlösser, Flaschengeister, Seeungeheuer.

Man spricht von Kaffeesatzleserei. Noch schöner ist Wolkenleserei. Ich war ein Meister darin. Kein Wunder: so oft, wie ich in den Himmel blickte. Fast immer war er interessanter als die Menschen um mich herum. Ganz zu schweigen von der mit Kreide an die Tafel gekritzelten Gleichung mit diesem mir völlig gleichgültigen x.

Mit dem Kopf in den Wolken ... Wann immer ich diese Wendung höre, muß ich an den Jungen denken, der ich damals war – und heute manchmal noch bin. Vor allem im Sommer, wenn sie Saison haben: die Luftschiffe, die Wolkenschafe, die fliegende Zuckerwatte.

Der Sommer geht zu Ende, und du sortierst die Ernte der letzten Monate. Nein, keine Johannisbeeren (alle aufgegessen) und keine Äpfel (liegen in einer Kiste im Keller), keinen Rhabarber (zu Marmelade zerkocht) und keine Salatblätter (von den Schnecken vertilgt). Nein, diese Ernte kann man zwar genießen, aber nicht essen. Es sind die Bilder vom Turm.

Natürlich könnte ich ihn auch in der dunklen Jahreszeit fotografieren, und hin und wieder tu ich das. Aber die Winter im Norden sind trüb und verregnet, und man ist ja kein Caspar David Friedrich, der noch aus dem gräulichsten Grau eine Studie über menschliche Einsamkeit und die wohlverdiente Vergänglichkeit unserer Gattung macht.

Da halte ich mich lieber an die Etymologen, die das Wort Fotografie so schön übersetzen, wie ich es nicht könnte. Was nicht nur daran liegt, daß ich kein Altgriechisch kann. Schreiben mit Licht. Genau das! Ohne Licht wäre der Turm nur halb so aufregend. Abend für Abend führt es einem der Sonnenuntergang wieder vor Augen. Was für ein Anblick aber auch: der Backstein, der im Abendrot glüht. Und plötzlich, von einem Moment auf den anderen, ist es vorbei: als ob jemand an den Lichtschalter gekommen ist. Die Glut ist erloschen, in der Dämmerung weidet ein fahles Pferd.

Zum Glück habe ich in den Stunden davor etliche Male auf den Auslöser gedrückt – und mit dem Turm auch diesen Himmel fotografiert, der es in Sachen Wandlungsfähigkeit mit jedem Chamäleon aufnehmen kann. Mal ist er heiter, mal finster, mal strahlend, mal von Wolkenschafen übersät. Und all diese Blautöne, die sich in keinem Farbkasten finden!

Jedesmal bist du von neuem wie berauscht. Du spürst das Lächeln in deinem Rücken, das Augenverdrehen („Papa wieder!“), aber du beachtest es nicht. Eilig trittst du auf den Balkon hinaus, und dann hältst du ihn fest – diesen flüchtigen, einmaligen, unwiederholbaren Augenblick.

Zufall oder nicht? Meistens habe ich ganz oben gewohnt: im dritten, vierten oder fünften Stock. Den Wolken näher als der Erde – was natürlich nicht stimmt. Aber es fühlt sich so an, wenn man nachts unter der Dachschräge träumt, daß einem der Regen auf den Kopf trommelt.

Dem Himmel am nächsten war ich in Paris. Zwei, bald drei Jahrzehnte ist das her; wo ist nur die Zeit hin? Dabei höre ich es so deutlich, als wäre es gerade erst gewesen: wie das Telefon klingelt an einem Sonntag in Berlin. Ich lag noch im Bett und wollte zuerst nicht aufstehen.

Ein ferner Anrufer, dessen Namen ich kaum verstand, bot mir ein Mansardenzimmer im 15. Arrondissement an. Bis zu dieser Minute hatte ich noch keinen Gedanken daran verschwendet, wo in Paris ich wohnen würde, wenn im Herbst das Semester begann. Ja, denken Sie es ruhig! Es ist ja wahr: Ich hatte mehr Glück als Verstand. Vor allem aber hatte ich nun: ein Zimmer.

Es war ein chambre de bonne, wie man die kleinen Kammern unter dem Dach nennt, in denen früher die Dienstmädchen schliefen. Über mir waren nur die Wolken. Und so fühlte ich mich: im Himmel oder zumindest in dessen greifbarer Nähe. Eines Tages nahm ich ein Blatt Papier, malte vier blaue Buchstaben darauf und klebte es an meine Tür. Ciel.

Ich war zum Studieren gekommen, aber was genau ich studierte, hätte ich nicht sagen können. Das Leben, die Liebe – oder einfach: Paris. Statt auf akademischen Pfaden trieb ich mich in der Stadt herum, in Cafés und Museen, Kellerkinos und Spelunken. Ein Taugenichts auf Sinnsuche, mit dem Subjonctif auf Kriegsfuß, meist kurz vor der Pleite und immer hungrig. Nach allem.

Einmal hörte ich Derrida in der Sorbonne. Aber eigentlich hörte ich nur eine Stimme komplizierte Wörter in ein launisches Mikrophon sprechen. Ich verstand nicht viel, genauer gesagt: nichts – was auch daran lag, daß ich es nicht in den Vorlesungssaal geschafft hatte, der so voll war, daß sich vor der weit geöffneten Tür, ja sogar noch im Treppenhaus die Zuhörer drängten.

Der Unbekannten, mit der ich die Treppenstufe teilte, ging es genauso. Erst wechselten wir nur Blicke, dann ein paar Worte; schließlich mußten wir lachen, was uns ein empörtes Zischen des Stirnrunzlers eine Stufe tiefer einbrachte. Da machten wir uns davon. Im Café bestellte sie eine heiße Schokolade, und als uns der Kellner den Rücken zukehrte, nahm sie aus ihrer Tasche ein weiß bestäubtes Mandelcroissant, brach es in zwei Hälften und gab mir die eine.

Sie wohnte im sechsten Stock eines dieser typischen Pariser Häuser aus dem vorvergangenen Jahrhundert. Der Fahrstuhl: halb Eisenkäfig, halb Taucherglocke. Das Zimmer klein wie eine Kajüte; von der Wand blätterte die Farbe, und es war kalt. Doch an diesem Abend hätte ich es um nichts in der Welt eintauschen wollen – nicht mal für einen Platz bei Derrida in der ersten Reihe.

Ich weiß noch, daß man von ihrem Fenster aus den Eiffelturm sah. Man mußte sich nur weit genug hinauslehnen. Nur ein bißchen: ohne sich den Hals zu brechen! Besonders schön war das in der Nacht, weil da der Turm illuminiert war und es in der Finsternis funkelte wie im Märchen, wenn die Sterne als blinkende Taler vom Himmel fallen.

Das war überhaupt das beste an diesen Zimmern im obersten Stock: der Blick über die Pariser Dächer. Sie mochten eng, spartanisch, ja schäbig sein (nur billig waren sie nie): Man fühlte sich trotzdem wie ein König. Auf die betuchteren Leute in ihren großen, hell erleuchteten, doch aussichtslosen Wohnungen blickte man buchstäblich herunter.

Ich hatte Glück. Mein Zimmer war winzig, aber weder spartanisch noch schäbig; und bezahlbar war es auch. Daß die Wände so dünn waren wie Knäckebrot, kam meinem Französisch zugute. Ich hörte die Nachbarn, und die Nachbarn hörten mich. Oder uns, wenn ich nicht allein war; und manchmal klopfte es nachts gegen die Wand.

Jean und Janie, meine Vermieter, wohnten ein Stockwerk tiefer und waren zu mir wie zu einem Sohn. Jean, der ferne Anrufer, sprach mir so lange „Champs-Elyssées“ vor, bis ich es so elegant zischelte wie ein Franzose. Er zeigte mir die „Olympia“ von Manet und half mir, eine Erzählung von Michel Tournier zu übersetzen. Und damit ich mir beim Studieren nicht die Bandscheiben ruinierte, stand er eines Tages mit einem nigelnagelneuen Schreibtischstuhl vor meiner Tür.

„Maintenant, c’est une chambre luxurieuse!“ improvisierte ich, noch wenig vokabelfest – und erntete diskrete Heiterkeit sowie einen erhobenen Zeigefinger. Verwirrt blickte ich ihn an. War die Ausstattung meines Zimmers etwa nicht luxuriös? „Luxueuse!“ berichtigte er mich. Und fuhr auf deutsch fort: „Luxurieuse heißt: unzüchtig.“

Hätte ich Jean darum gebeten, er hätte mir auch noch einen funkelnden Eiffelturm vors Fenster gestellt. Aber den brauchte es gar nicht – der Blick über die Dächer und das Gestrüpp der Schornsteine und Antennen war pariserisch genug.

Außerdem widerlegte er Guy de Maupassant. Als der Eiffelturm errichtet wurde, hatte der lautstark protestiert, „im Namen des mißachteten französischen Geschmacks“. Lächerlich fand er ihn, monströs und nutzlos: einen Alptraum, der die Schönheit von Paris demütige. Was ihn später nicht daran hinderte, des öfteren im Turmrestaurant zu speisen. Wenn man ihn auf seine früheren Schmähungen ansprach, erklärte er: „Es ist die einzige Stelle in Paris, von wo aus ich ihn nicht sehe!“

Ich selbst hätte mir dort nicht mal eine Vorspeise leisten können. Aber das machte nichts. Ich hatte ja Kochplatten und Töpfe, mit denen sich einiges anstellen ließ. Und was den französischen Geschmack betraf: da nahmen sich Jean und Janie meiner an. Als sie hörten, daß ich noch nie Meeresfrüchte gegessen hatte, erging umgehend eine Einladung an mich. Auf meine Frage, ob ich etwas mitbringen könne, sagte Janie nur: „Einen leeren Bauch!“

Beim Betreten ihrer Wohnung staunte ich nicht schlecht. Wo sonst ein einfaches Abendbrot mit Baguette und Wein auf den Tisch kam, hatte sich der halbe Atlantik versammelt. Muscheln, Schnecken und anderes Schalengetier warfen mir spöttische Blicke zu. Na, Kleiner, hast du überhaupt eine Ahnung, wie man uns ißt?

Aber auch darum kümmerte sich Jean. Mit präzisen Instruktionen führte er mir vor, wie man den Spöttern zu Leibe rückte. (Es gab sogar ein spezielles Besteck, um die Schnecken aus ihren Häusern zu holen.) Ich sah genau hin und wiederholte jeden seiner Handgriffe; und von Muschel zu Muschel, von Schnecke zu Schnecke ging es besser.

Auch meine erste Auster aß – nein: schlürfte ich bei Jean und Janie. „Délicieux, n’est-ce pas?“ kam Jean mir zuvor, wohl um eine weitere Vokabelpanne zu vermeiden. Ich nickte sehr beschwingt. Und während sich in meinem Mund der Geschmack des Meeres mit einem köstlichen Prickeln mischte (hätte es vor dem Fenster einen Eiffelturm gegeben: der Champagner hätte ihn mindestens verdoppelt!) – gratulierte ich mir dazu, doch noch ans Telefon gegangen zu sein: an jenem fernen Sonntag in Berlin.

Auster, Auster ... was wollte ich bloß erzählen? Während ich mir noch den Kopf zerbreche, fällt mir ein, daß – ja: auch Paul Auster in einem chambre de bonne gewohnt hat, als er in jungen Jahren in Paris lebte. In seinem „Winterjournal“ hat er darüber geschrieben.

Ich muß nicht lang blättern, da stoße ich auf die fünfzig Seiten lange Aufzählung der „Orte, die du, im Guten wie im Schlechten, dein Zuhause genannt hast“. Natürlich ist es mehr als eine Aufzählung; es sind lauter kleine Geschichten, aufgefädelt wie Perlen an einer Schnur. Die Schnur steht für Austers Leben, jede Perle für ein Zuhause.

Was nicht heißt, daß all die Wohnungen und Häuser, in denen er im Laufe seines Lebens gewohnt hat, Perlen gewesen wären. Schon gar nicht jene Dachkammer unweit der Seine, in die er mit Mitte zwanzig zog.

„Das Zimmer“, erinnerte er sich, „war der kleinste Raum, den du je bewohnt hattest, so klein, daß nur das Allernotwendigste hineinpaßte: ein schmales Bett, ein winziger Tisch mit Stuhl, ein Waschbecken und noch ein Stuhl neben dem Bett, auf dem deine elektrische Kochplatte und dein einziger Topf standen, den du brauchtest, um Wasser für löslichen Kaffee und zum Eierkochen heiß zu machen. Toilette am Ende des Gangs; keine Dusche, kein Bad.“

Das Beste scheint auch in diesem Fall der Ausblick gewesen zu sein. Er ging auf einen Wasserspeier des Glockenturms von Saint-Germain l’Auxerrois. „Linker Hand sahst du Les Halles, und weit weg am Nordrand von Paris die weiße Kuppel von Montmartre.“

Auch Auster hatte also keinen Eiffelturm vorm Fenster. Aber Sacré-Coeur ist ja auch nicht zu verachten – mit der Zeit gewöhnt man sich an ihre Cremetortenhaftigkeit. Allerdings scheint sich Auster mehr um die Kirche in seiner Nachbarschaft gekümmert zu haben. Immerhin wußte er, daß ihre Glocken am 24. August 1572 ununterbrochen geläutet hatten, „um die Nachricht vom Massaker der Bartholomäusnacht zu verkünden“.

Ich stelle mir vor, wie er manchmal von seinem Schreibtisch aufsah und den jahrhundertealten Turm betrachtete, dessen Glockenton ihm nach ein paar Wochen so vertraut gewesen sein muß wie das Sirenengeheul in der Fifth Avenue.

Wie er zu schreiben versucht, während es ihn drängt, hinauszugehen in die Pariser Straßen, wo das Leben spielt: Paare, Passanten, Stimmen, Gelächter. Wie er den verwitterten Wasserspeier ansieht oder (wie Baumgartner, der Held seines letzten Romans) einfach „in den Himmel blickt und den langsamen Lauf einer Wolke verfolgt“.

Kein Wunder, daß mir jetzt Paul Auster eingefallen ist. Seit Monaten geistert der Gedanke an ihn durch meinen Kopf. Die Nachricht von seinem Tod am 30. April kam nicht ganz unerwartet; aber traurig stimmte sie mich doch.

Letztes Jahr, als ich über den Turm schrieb, (Öffnet in neuem Fenster) den ich Tag für Tag fotografiere, kam ich auch auf „Smoke“ zu sprechen, diesen kleinen, feinen Brooklyn-Film, dessen Drehbuch von Auster stammt. Neben anderen Geschichten erzählt er die von Auggie, der jeden Tag zur selben Zeit die Kreuzung vor seinem Tabakladen fotografiert. Das erinnerte mich an mein eigenes Tun.

Wenn ich jetzt auf den Balkon trete und den Turm mit der kupfergrünen Spitze betrachte, ist da jedesmal der Gedanke an Paul Auster. Was, zugegeben, ein bißchen skurril ist: Schließlich hat Auster diesen Turm nie gesehen. Und wenn von New York etwas himmelweit entfernt ist, dann die norddeutsche Backsteingotik.

Immerhin für zwei Stunden kam neulich beides zusammen: Um meine Erinnerung aufzufrischen, sah ich mir „Smoke“ noch einmal an. Es war ein Regentag, und man verpaßte nichts, wenn man die Wolken über St. Johannis für eine Weile außer acht ließ. Ich brauchte auch gar nicht lang zu warten; schon nach ein paar Minuten konnte ich Auggie dabei zusehen, wie er auf dem Gehweg vor seinem Laden das Stativ mit der Kamera plaziert.

Und dann war da diese Szene, die ich schon vergessen hatte: Eines Abends zeigt er seinem Schriftstellerfreund Paul die Fotoalben mit den Aufnahmen der letzten Jahre. Der schaut und schaut: erst verblüfft, dann belustigt. Man sieht ihm an, daß er nicht recht weiß, was er davon halten soll. Immer schneller blättert er die Seiten um – zu schnell für Auggies Geschmack: „Du kommst nie dahinter, wenn du nicht langsamer machst, mein Freund.“

„Wie meinst du das?“ fragt Paul. „Ich meine“, sagt Auggie, „du bist zu schnell. Du siehst die Fotos nicht richtig an.“ Paul zögert, er sucht nach Worten. Schließlich läßt er alle Höflichkeit beiseite: „Ich finde, sie sind alle gleich.“ Auggie nickt. „Ja, sie sind alle gleich. Aber trotzdem unterscheiden sie sich.“

Es gebe, sagt er, die hellen Morgen und die dunklen Morgen, das Sommerlicht und das Herbstlicht, die Wochentage und die Wochenenden. „Du siehst Leute in Mänteln und Gummistiefeln und welche in Shorts und T-Shirts. Manchmal sind es die gleichen Leute, manchmal andere, und manchmal werden die neuen zu alten und die alten verschwinden. Die Erde dreht sich um die Sonne, und jeden Tag trifft das Licht der Sonne in einem anderen Winkel auf die Erde auf.“

Es ist eine wunderbare Lektion über das Sehen und über die kleinen Unterschiede, die einem erst auffallen, wenn man sich Zeit nimmt. Wenn man schaut und schaut – und mit einem Mal etwas sieht, was einem vorher völlig entgangen war.

Wenn eine Wolke nicht einfach eine Wolke ist, sondern: Zuckerwatte, ein Luftschiff mit geblähten Segeln, ein im Himmelsblau spielendes Schaf.

Auch damals in meinem kleinen Zimmer in Paris sah ich den Wolken nach. So lange und so geduldig, bis ich mir ihre Gestalt eingeprägt hatte. Manchmal glaube ich, sie noch immer zu sehen. So wie den kleinen Tisch, an dem ich schrieb, das Messer, mit dem ich das Brot schnitt, die Tasse, aus der ich Kaffee trank. In meinem Kopf ist all das noch da.

Auch Janie ist noch da – obwohl sie verschwunden ist, wie Auggie gesagt hätte. Oder gestorben, wie Jean mir schrieb: vor zwei Jahren im Mai. Ich sehe sie vor mir: die vielen kleinen Fältchen in ihrem Gesicht, das weiße Haar; und ich höre ihr Lachen, als sie auf den Teller mit den leeren Muschelschalen deutet und sagt: „Ich hoffe, dein Bauch ist jetzt voll!“

Vor ein paar Jahren, als wir sie besuchten, zeigte sie meiner Frau den Schlüssel der Mansarde, die einst mein Zuhause gewesen war. Es war der Ersatzschlüssel, denn natürlich war das Zimmer wieder vermietet.

Aber noch immer war es mein Zimmer. Janie lachte, als wir entdeckten, was auf dem Schlüsselanhänger stand: „Chambre Renatus“.

Mein Zimmer, in dem ich dem Himmel so nah war. Erst vor kurzem habe ich wieder von ihm geträumt.

Es ist früh am Morgen, und ich komme nach Hause, mit der ersten Métro oder zu Fuß, ein bißchen zerzaust von der Nacht. Die Augen fallen mir zu, ich möchte nur noch schlafen. Aber vorher öffne ich das Fenster, beuge mich hinaus und blicke auf die Straße hinunter. Ich sehe zu, wie die Stadt erwacht und ein zartes Morgenlicht auf dem Grau der Zinkdächer glänzt.

Eine Weile stehe ich so da, auf das Geländer gestützt. Mein Kopf ist leer vor Müdigkeit, doch ich kann nicht aufhören zu schauen.

Und da kommen sie: langsam, schweigend, wie eine feierliche Prozession. Eins nach dem anderen betreten sie den Himmel – munter und fröhlich, gleißend weiß ihr Fell.

Wolken und Schafe.

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