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Die Bienen und der Krieg

Über einen Jungen, der in den Krieg muß, über Schmerz und eine Handbreit Glück, über das Taubengrau des Himmels, leere Felder und das Versteck in der Bienenhütte

Karl Aufreiter, Bauernsohn aus Sallersdorf, war siebzehn, als er den Einberufungsbefehl erhielt. Am 24. November 1944 machte er sich auf den Weg nach Linz. Als ihn sein Vater in der Morgendämmerung fortgehen sah, dachte er an seinen ältesten Sohn Hans, der 1941 in Rußland gefallen war.

Was Karl selber dachte, hat er nie erzählt.

Ich stelle ihn mir vor: Das weiche Jungengesicht mit dem runden Kinn. Die Lippen zusammengepreßt zu einem Strich, während er über die Felder stapft, sein Atem weiß in der Winterluft.

Einmal bleibt er stehen, er lauscht auf die Stille unter dem aschfarbenen Himmel. Nach einer Weile reißt ihn ein fernes Motorgeräusch aus seinen Gedanken. Er blickt sich um, und plötzlich weiß er, daß er all das zum letzten Mal sieht. Den Hof, die Felder, die Gestalt des Vaters, der noch immer vor der Tür steht, wie versteinert.

 

Im März 1945 geht es nach Würzburg. Er hat noch immer dieses Jungengesicht, aber die Uniform läßt ihn älter erscheinen.

Die Front ist jetzt ganz nah. Die Erde bebt unter den Detonationen. Wie Donnerschläge, denkt er, und ihm fällt ein, wie er sich als Kind bei Gewitter unter der Ofenbank verkrochen hat. Eine ungeheure Spannung liegt in der Luft und drückt schmerzhaft gegen die Schläfen.

Ein paar Tage später ist es soweit: Ein Offizier sucht Freiwillige für einen Spähtrupp. Keiner meldet sich. Da werden vier Mann eingeteilt. Er ist der letzte in der Reihe und muß mit.

Ein Waldrand, nördlich von Nürnberg. Minutenlang stehen sie da und beobachten ein Dorf. Nichts regt sich, bis auf den Rauch, der über den roten Dächern tänzelt.

Kaum sind sie auf der Wiese, sehen sie den Amerikaner. „He! Kamerad!“ ruft er ihnen zu. Da rennen sie los. Das schaffen wir, denkt er noch. Der Wald ist zum Greifen nah. Plötzlich kracht ein Schuß. Im selben Moment fühlt er einen brennen­den Schmerz, sein Gewehr fliegt weg.

Eine Handbreit neben dem Herzen prallt die Kugel an einer Rippe ab und streift seinen Arm. Aber das begreift er erst später. Jetzt krümmt er sich blutend am Boden.

Endlich hört er Schritte. Zwei Männer beugen sich über ihn. Sie wechseln ein paar Worte miteinander, die er nicht versteht. Schließlich legen sie ihn auf eine Decke und tragen ihn zum Dorf hinüber. Von Schritt zu Schritt hängt er tiefer, bald schleift er über den steinigen Boden. Als er aufstöhnt, heben sie ihn höher. Da weiß er, daß sie ihn am Leben lassen.

Er sieht Bäume, Häuser, das Taubengrau des Himmels. Dann schließt er die Augen. Er denkt an zu Hause. An das Versteck unter der Ofenbank. An seine Mutter, ihre kühle Hand auf seiner fieberheißen Stirn. Im nächsten Augenblick verliert er das Bewußtsein.

Ein paar Wochen später: Er liegt in einem Lazarett in Frankreich. Wo genau, weiß er nicht; und er hat keine Landkarte, um es sich zeigen zu lassen.

Man hat ihn operiert und ihm mit zwei Fingern gezeigt, wie wenig gefehlt hat, daß ihn die Kugel ins Herz traf. Er mußte schlucken, als er sah, daß die Finger nur ein paar Zentimeter trennte. „Glück gehabt!“ haben sie zu ihm gesagt.

Eines Morgens liegt auf dem Stuhl neben seinem Bett eine Stange Zigaretten. Verwirrt blickt er sich um. Doch viel Zeit zum Staunen bleibt ihm nicht. Als er die Augen wieder öffnet, ist der Stuhl leer. Es war ein Irrtum. Für einen aus Hitlers Armee gibt es keine Zigaretten.

Aber jetzt weiß er es, und er atmet auf: Der Krieg ist aus.

Kaum, daß er den Arm wieder bewegen kann, überstellt man ihn ins Kriegsgefangenenlager Neu-Ulm. Am 15. August wird er entlassen.

Zu Fuß macht er sich auf den Weg. Die Sonne brennt auf den Asphalt, seine linke Seite schmerzt bei jedem Schritt. Einmal nimmt ihn ein Pferdefuhrwerk mit, aber schon zwei Dörfer weiter ist die Fahrt zu Ende. Nachts schläft er bei Bauern im Heu.

München ist ein Alptraum aus zerstörten Häusern. Fassungslos blickt er sich um – und macht, daß er weiterkommt. Kurz darauf hält neben ihm ein Wagen. Er denkt noch: Hoffentlich mehr als zwei Dörfer! Und dann bleibt ihm vor Verblüffung der Mund offen stehen: Der Wagen fährt nach Linz. „Glück gehabt!“ sagt der Fahrer und grinst.

Die Stadt ist geteilt. Am anderen Donauufer beginnt die sowjetische Zone. Auch das Mühlviertel ist von den Russen besetzt. Seine Linzer Tante schärft ihm ein, sich vorzusehen. Vorher aber tischt sie ihm auf, was die Speisekammer hergibt.

Als er sich verabschiedet, trägt er ein viel zu großes Hemd; die Hosen seines Onkels schlottern um seine Beine. Aber seine Tante ist zufrieden, und sie hat recht: In seiner Uniform wäre er gleich verhaftet worden.

Am 26. August erreicht er Sallersdorf. Neun Monate ist es her, daß er in der Morgendämmerung fortging. Als seine Mutter ihn erkennt, stürzt sie auf ihn zu. Schluchzend zieht sie ihn an sich.

Der Hof kommt ihm kleiner vor: als ob er in seiner Abwesenheit geschrumpft ist. Sonst hat sich nichts verändert, fast nichts. In einer Wiege im Schatten schläft ein Säugling. Er blickt seine Schwester an, sie lächelt. Aber als er sie nach dem Namen des Kindes fragt, schlägt sie die Augen nieder. Einen Moment ist es ganz still.

„Er heißt Karl.“

Da begreift er: Sie haben nicht mehr geglaubt, ihn wiederzusehen.

Die Roggenernte ist vorbei, aber er hätte ohnehin nicht helfen können. Noch immer hat er Schmerzen. Er geht über das leere Feld und spürt die Stoppeln unter seinen Füßen. Tief zieht er die Luft durch die Nase ein: der vertraute Geruch. Er ist wieder zu Hause.

In der Ferne ragt der Kirchturm von Neumarkt auf, spitz wie ein Bleistift. Er denkt an die Wiese, den Amerikaner, den Schuß, der ihn zu Boden reißt. „Glück gehabt!“ haben sie gesagt. Er weiß es nicht besser. Doch am Sonntag wird er eine Kerze anzünden.

Die Angst vor den Russen ist groß. Die Frauen verstecken sich im Heu, wann immer sie sich dem Hof nähern. Die Männer verschwinden in den Wald. Es geht das Gerücht, daß sie nach Sibirien verschleppt werden.

„Geh in die Bienenhütte!“ sagt sein Vater. „Da trauen sie sich nicht hin.“

Um ihn her summt und brummt es. Vorsichtig setzt er sich in eine Ecke und lauscht auf das, was draußen vor sich geht; seine nervösen Finger spielen mit einer Wabenzange. Er glaubt sich zu erinnern, daß er bei einem der Ärzte im Lazarett eine ähnliche Zange gesehen hat. Aber kaum ist es ihm eingefallen, verscheucht er den Gedanken.

Während er wartet, bis die Luft rein ist, betrachtet er die herumschwirrenden Bienen. Es sind die Bienen von Hans, der jetzt irgendwo in russischer Erde liegt. Ein Kopfschuß, hieß es. Einundzwanzig ist er geworden.

Wann immer die Soldaten kommen, versteckt er sich in der Hütte. Das Brausen in den Kästen ist ihm jetzt so vertraut, daß er die Augen schließt. Einmal wird er gestochen. Er entfernt den Stachel und drückt die Stelle aus, bis ein helles Tröpfchen erscheint: das Gift. So hat Hans es ihm gezeigt.

Eines Morgens sagt sein Vater: „Kümmere du dich um die Bienen!“

Zwischen den Sachen seines Bruders findet er ein Buch. Als er den Staub vom Einband wischt, liest er: „Illustriertes Lehrbuch der Bienenzucht“.

Er nimmt es an sich und liest jeden Tag darin. Als er es ausgelesen hat, schreibt er mit grüner Tinte hinein: „Eigenthü­mer: Aufreiter Karl, Imker“.

 

Siebzig Jahre später nehme ich das Buch zur Hand. Es liegt im Bienenzimmer, zwischen allerlei Gerätschaften, Futterballons, leeren Gläsern. Auch die Schleuder steht noch da, aus der einst dick und gelb der Honig rann.

Erst als er nicht mehr gehen konnte und seine Hände zitterten, hat er die Bienen aufgegeben. Im Mai 2016 ist er gestorben, nur ein paar Kilometer von Sallersdorf entfernt.

„Schau mal, eine Biene!“ sagt meine Frau, als wir vor dem Grab ihres Großvaters stehen.

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