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Der Elefant zittert

Über Mut und Verrat und den letzten Roman von Hans Fallada, über eine Entdeckung von Helga Schubert und die Stimmen der Toten in einem Berliner Treppenhaus

Als vor zwanzig Jahren mein Großvater starb und wir seine Wohnung auflösten, fand sich in den vollgestopften Bücherschränken auch ein Stoß vergilbter Zeitschriften. Die meisten stammten aus der Nachkriegszeit und trugen so namhafte Titel wie „Die Weltbühne“ und „Aufbau“. Auch das erste Heft des „Merkur“ war dabei.

Kurz zuvor hatte der „Merkur“ (inzwischen erschien er im 58. Jahrgang) meinen ersten Essay gedruckt. Vielleicht landeten die Hefte deshalb auf dem mir zugedachten Stapel. Zu Hause blätterte ich sie flüchtig durch – und mußte einmal, zweimal, dreimal niesen von all dem Staub, der sich in dem alten Papier eingenistet hatte. Schließlich legte ich sie beiseite. Interessant, zweifellos; aber gerade beschäftigten mich andere Dinge.

Ich hatte vor, sie mir später noch einmal genauer anzuschauen. Aber immer wieder schob sich etwas dazwischen: das Leben, die Liebe – und Bücher, immer wieder Bücher. Im Laufe der Zeit gerieten die Hefte in Vergessenheit.

Welcher Zufall sie mir wieder in die Hände spielte? Ich weiß es nicht mehr. Eines Abends saß ich vor der geöffneten Kiste, in die der Stapel irgendwann gewandert war. Um mich herum lagen ausgebreitet mehrere Jahrgänge des „Aufbau“, einer Zeitschrift, die ab September 1945 in Ostberlin erschienen war, herausgegeben vom „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“.

Ich erinnerte mich, daß mir mein Großvater erzählt hatte, wie wichtig für ihn nach dem Krieg jene Bücher und Zeitschriften gewesen seien, aus denen nicht mehr das Gift des Nazismus tropfte. Geradezu hungrig habe er sich auf alles gestürzt, was ab 1933 verboten gewesen war.

Kein Wunder, daß er den „Aufbau“ las. Wie sehr wird ihm aus der Seele gesprochen haben, was etwa zum Auftakt der Nürnberger Prozesse darin stand: „Fegen wir also endlich die Lüge, den Rassenwahn, den Weltherrschaftsdünkel, an dem so viel bestialischer Blutgeruch klebt, aus dem eigenen Haus und öffnen wir weit die Fenster für den Gedanken der Humanität ...“

Die Humanität wurde damals unaufhörlich beschworen – meist mit viel Pathos und gelegentlich einer Überdosis Schwulst. Als sollten die hehren Worte das Schweigen übertönen, mit dem die Mehrheit der Deutschen die nationalsozialistischen Verbrechen mitgetragen hatte.

Auch im „Aufbau“ begegnet einem der hohe Ton immer wieder. Bei der Lektüre achtzig Jahre später kam es mir so vor, als müßte ich unentwegt den Hals recken. Es war so anstrengend wie ermüdend. Und so blieb es an diesem Abend nicht bei gelegentlichem Niesen. Einmal, zweimal, dreimal mußte ich ausgiebig gähnen.

Wahrscheinlich tat ich den Autoren unrecht; viele hatten das Ende der Hitlerei aus vollem Herzen herbeigesehnt. Manche hatten in Konzentrationslagern gelitten, andere unter dem Exil. Daß nun die Worte nicht groß genug sein konnten für das, was sie beseelte – wer wollte es ihnen verdenken?

Doch an diesem Abend fehlte nicht viel, und ich hätte die Hefte ein zweites Mal beiseite gelegt. Ich war schon kurz davor, als ich etwas zu lesen begann, was mich sofort fesselte.

„Ein dünner Band Akten liegt vor mir, etwa 90 Seiten stark, begonnen und zum Hauptteil ausgeschrieben von der Gestapo in Berlin, beendet von dem Volksgerichtshof, ebenfalls in Berlin. In diesem Band Akten erfüllt sich das Schicksal zweier Menschen; nun, in meine Hände gekommen, soll er den Rohstoff für einen Roman abgeben. Prüfen wir einmal, was dieser Akt an Material enthält, ohne Zu- oder Abneigung, rein sachlich, wie etwa ein Tischlermeister seine Bretterstapel auf ihre Verwendbarkeit durchgeht.“

Nur kurz zuckte ich bei dem Wort Schicksal zusammen. Spätestens mit dem Auftritt des Tischlermeisters war es um mich geschehen. Die schnörkellosen Sätze, die zupackende Art (man glaubt, die Schwielen an den Tischlerhänden zu sehen) – das las sich erfrischend anders! Ich hörte auf zu gähnen, ja selbst das Niesen vergaß ich. Und las gebannt weiter.

Doch schon ein paar Zeilen weiter stutzte ich, denn was da stand, kam mir bekannt vor. Es ging um ein Berliner Ehepaar namens Quangel, das in die Mühlen der nationalsozialistischen Justiz gerät und schließlich vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt wird. Quangel, Quangel ... wo hatte ich den Namen schon gehört? Noch während ich überlegte, überflog ich die nächsten Zeilen – und da ging mir ein Licht auf.

„Diese beiden Eheleute Quangel, zwei bedeutungslose Einzelwesen im Norden Berlins, fast arm, ohne Hilfsmittel, ohne besondere Fähigkeiten, nehmen eines Tages im Jahre 1940 den Kampf auf gegen die ungeheure Maschinerie des Nazistaates, und das Groteske geschieht: der Elefant fühlt sich von der Maus bedroht! Die ganze Macht, alle List und Gewalt werden gegen die Maus in Bewegung gesetzt, ein beispielloser Apparat beginnt zu arbeiten, um diese beiden Menschlein zu fangen. Der Elefant zittert, er kann kaum noch schlafen, da sind diese Feinde im Dunkeln, sie müssen gefangen, sie müssen erlegt werden!“

Erst jetzt sah ich den Namen des Verfassers, und nun war ich mir sicher, worum es ging und was ich da vor mir hatte.

Im Herbst 1946 schrieb Hans Fallada einen Roman, der unter dem Titel „Jeder stirbt für sich allein“ berühmt werden sollte. Es war seine letzte literarische Arbeit. Kein Vierteljahr später, am 5. Februar 1947, starb er an Herzversagen.

Der Roman erzählt von Anna und Otto Quangel, die zwischen 1940 und 1942 in Berliner Treppenhäusern über 220 Postkarten auslegen, auf denen sie zum Widerstand gegen Hitler und den Krieg aufrufen („Glaubt dem Hitler seine Lügen nicht mehr! Er will euch nur ins Verderben stürzen ...“). Erstaunlich lange geht es gut; die Gestapo schafft es nicht, ihnen auf die Spur zu kommen. Aber dann werden sie doch verhaftet, verhört, verurteilt und in Plötzensee hingerichtet.

Die Quangels gab es wirklich, nur hießen sie nicht Quangel, sondern Elise und Otto Hampel. Die Ermittlungsakten, die Fallada im „Aufbau“ zitiert, handeln von ihnen. Erhalten hatte er sie von Johannes R. Becher, der dem „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ als Präsident vorstand. Es war seine Idee, daß Fallada über den in der Öffentlichkeit unbekannten Widerstand der Hampels schrieb.

Der lehnte zunächst ab – aus moralischen Gründen: Er sei kein Widerstandskämpfer gewesen, sondern habe sich „im großen Strom mittreiben lassen“ und wolle nicht besser scheinen, als er gewesen sei. Erst als er erfuhr, daß es sich nicht um eine konzertierte Aktion von Hitlergegnern handelte, sondern um den Alleingang zweier nach außen hin völlig unpolitisch wirkender Menschen, war sein Interesse geweckt.

Vor allem eine Frage ließ ihm keine Ruhe: „Wie kamen die Quangels, die bis zu der Mitte ihrer Jahre mit nichts vom allgemeinen Schritt und Tritt abgewichen waren, dazu, plötzlich aus Reih und Glied zu treten und Hitler, dem Führer, den Kampf anzusagen, einen Kampf, der angesichts der erdrückenden Übermacht doch nur schlimm ausgehen konnte?“

In seinem Essay für den „Aufbau“, veröffentlicht im November 1945, versucht er, Antworten zu finden. Auf acht eng bedruckten Seiten breitet er die Geschehnisse in allen Einzelheiten aus – und beginnt schon, die Leerstellen zu füllen. Eine Gestapo-Akte macht noch keinen Roman; um von den Quangels erzählen zu können, muß Leben hinein in die Bleiwüsten der Vernehmungsprotokolle.

Das Ganze ist so etwas wie eine Bestandsaufnahme. Der Tischler, der seine Bretter auf ihre Verwendbarkeit hin durchsieht und in Gedanken bereits anfängt zurechtzuhobeln, ist Fallada selbst. Mit dem Ergebnis ist er offenbar zufrieden. Im letzten Satz bezeichnet er sich selbst als „Autor eines noch zu schreibenden Romans“. Es ist ein Versprechen.

Doch allein die Tatsache, daß es diese acht Seiten braucht, läßt schon die Schwierigkeiten erahnen, die der Stoff mit sich brachte und über die sich Fallada erst klarwerden mußte. Der sperrige Titel des Essays kommt nicht von ungefähr: „Über den doch vorhandenen Widerstand der Deutschen gegen den Hitlerterror“. Es waren, um im Bild zu bleiben, dicke Bretter zu bohren.

Vielleicht dauerte es deshalb noch ein Jahr, ehe er sich am 30. September 1946 an die Arbeit machte. Dann aber ging es verblüffend schnell. Für die 866 Typoskriptseiten brauchte er gerade einmal vier Wochen.

Es war noch nicht lange her, daß ich „Jeder stirbt für sich allein“ gelesen hatte. Die Eindrücke waren noch frisch, und so traf es mich wie ein Blitz, als ich den Essay im „Aufbau“ entdeckte.

Der Roman hatte mich aufgewühlt – zumal ich die Gegend kannte, in der die Quangels die Karten verteilt hatten. Jahrelang hatte ich in Prenzlauer Berg gewohnt und war durch die Straßen gegangen, deren Namen mir nun auf jeder Seite begegneten. Damals hing noch der Rauch der verbrannten Kohle in den Hinterhöfen. Ich kannte die Treppenhäuser mit den knarzenden Stufen und den toten Fliegen auf den Fensterbrettern. Und ich sah Otto Quangel vor mir, wie er immer höher stieg: Schweißperlen auf der Stirn von der Anstrengung und der Angst, die immer mitging.

Aber das war es nicht allein. Es war der Mut dieser Menschen, der mich beeindruckte. Die Entschlossenheit, mit der sie sich gegen Hitler stellten. Ihr fast naiv anmutender Glaube, etwas ausrichten zu können gegen die tödliche Maschinerie der Diktatur.

Wer wärst du gewesen? Hättest du den Mut gehabt, dich zu verweigern? Oder hättest du mitgemacht? Jeder Nachgeborene kennt diese Fragen. Sie kommen nachts, wenn man wachliegt und die Gedanken mal hierhin, mal dorthin flitzen: unaufhaltsam, durch Zeit und Raum. Eine Antwort gibt es nicht. Keiner kann wissen, wie er sich verhalten hätte. Das einzige, was wir sagen können: Ich kann nur hoffen, daß ...

Doch so müßig diese Fragen sind – sie machen uns bewußt, was für ein Privileg es ist, Geschichte vom Ende her betrachten zu können. Nicht Spielball zu sein, umhergeschleudert von der Gewalt des Irrsinns.

Ich mußte an Alexandra Skotschilenko denken, eine junge Russin, die im November 2023 zu sieben Jahren Straflager verurteilt wurde. Ein Gericht befand sie für schuldig, Falschinformationen über das russische Militär verbreitet zu haben.

Kurz nach Putins Überfall auf die Ukraine waren in einem Supermarkt in Sankt Petersburg Botschaften gegen den Krieg aufgetaucht. Anstelle von Preisschildern klebten auf den Waren Zettel mit Aufschriften wie: „Der Preis für diesen Krieg ist das Leben unserer Kinder. Stoppt den Krieg!“ Oder: „Mein Urgroßvater hat vier Jahre lang im Zweiten Weltkrieg gekämpft, nicht damit Rußland ein faschistischer Staat wird und die Ukraine angreift.“ Eine Rentnerin fand die Zettel und erstattete Anzeige bei der Polizei. Wenig später wurde Alexandra Skotschilenko verhaftet.

„Schande! Schande!“ skandierten Zuschauer nach dem Urteilsspruch. „Das ist keine Gerechtigkeit, das ist eine Hinrichtung“, sagte der russische Oppositionspolitiker Boris Wischnewski und sprach aus, was viele dachten: Skotschilenkos angeschlagene Gesundheit läßt für das Straflager das Schlimmste befürchten.

Wäre ich bereit, unter Lebensgefahr für meine Überzeugungen einzustehen? Für die Würde meiner Nachbarn, für die Freiheit der anderen? So wie Elise und Otto Hampel? So wie Alexandra Skotschilenko?

Ich dachte an Helga Schubert, die ein Buch über Denunziantinnen im Nationalsozialismus geschrieben hat. Es trägt den Titel „Judasfrauen“. Im Vorwort von 2021 nennt sie die Diktatur „eine furchtbare, eine Grauen erregende, eine verführerische, Leben zerstörende Täterin“. Sie schreibt: „Es steht mir nicht zu, die beschriebenen Frauen zu verurteilen. Ich glaube, daß auch sie Opfer der Diktatur waren.“

Ihr Buch hatte mich tief beeindruckt. Aber diese Sätze irritierten mich. Entschuldigten sie nicht jene, die mit ihrem Verrat andere ans Messer geliefert hatten? Als wäre es in einer Diktatur gar nicht möglich, anständig zu bleiben. Hatten sie nicht doch eine Wahl gehabt?

Vor einiger Zeit hatte ich Gelegenheit, mit Helga Schubert darüber zu sprechen. Geduldig hörte sie sich meine Fragen an. „Ja“, sagte sie schließlich, „jeder Mensch hat eine Wahl. Auch diese Frauen hatten eine Wahl. Doch der Versuchung zum Verrat konnten sie nicht widerstehen. Sie haben sich in dieser Situation nicht bewährt.“

Aber, fragte ich weiter, wenn die Diktatur die eigentliche Täterin ist: Entläßt sie das nicht aus der Verantwortung?

„Es ist ein Unterschied, ob man das Ganze als Richter betrachtet oder als Schriftstellerin. Ich will diese Frauen von keiner Schuld entlasten, aber auch nicht verurteilen. Ich sehe meine Aufgabe darin zu differenzieren. Ich möchte verstehen, wie jemand in so eine Situation geraten konnte und das ganz genau darstellen.

Ob man ihren Verrat entschuldigen kann? Ob man sagen kann, diese Frauen haben sich nur deshalb so verhalten, weil sie in einer Diktatur lebten? Vielleicht nicht. Aber als Schriftstellerin muß ich Gnade üben und den Menschen in seiner Widersprüchlichkeit zeigen; ich muß mich in seine Zwangslage hineinversetzen. Das ist anstrengender, als zu sagen: Das könnte mir nie passieren. Das wäre hochmütig. Wer weiß schon, wozu man selbst fähig wäre, aus Angst vor Folter oder aus Todesangst?“

An diesem Tag sprachen wir lange über Diktatur und Schuld, Mut und Hochmut, Widerstand und Ergebung. Am Himmel über Mecklenburg zogen dunkle Wolken auf; immer wieder prasselten Regenschauer gegen das Fenster, während Helga Schubert erzählte, wie sie die Fälle recherchiert hatte, die sie in „Judasfrauen“ schildert.

Plötzlich fiel der Name Fallada. Zuerst glaubte ich, ich hätte mich verhört. Doch gleich darauf erwähnte sie „Jeder stirbt für sich allein“. Erstaunt blickte ich sie an. Woher wußte sie, daß mir das Buch seit Wochen durch den Kopf ging? Aber dann begriff ich, daß sich hier einfach zwei Wege kreuzten.

Im zweiten Kapitel von „Judasfrauen“ erzählt Helga Schubert, wie sie sich in der DDR bemühte, an Prozeßakten des Volksgerichtshofs zu kommen. Man brauchte dafür eine Genehmigung vom Zentralkomitee der SED. Als sie erklärte, sie interessiere sich für Fälle, in denen Denunziationen von Frauen zu Todesurteilen geführt hätten, forderte man sie auf, ein anderes Buch zu schreiben – über den Widerstand von Frauen in der Nazizeit.

In der Hoffnung, auf diese Weise auch an Fälle zu gelangen, in denen Denunziation eine Rolle spielt, willigte sie ein. Unter den Akten, die man ihr vorlegte, waren, wie sie mir an diesem Nachmittag erzählte, auch die Akten von Elise und Otto Hampel.

„Und da“, sagte sie, „bin ich auf etwas gestoßen. Und zwar habe ich festgestellt, daß die beiden gar nicht bis zum Schluß aufrecht geblieben sind, sondern sich gegenseitig beschuldigt haben. Der andere habe sie aufgehetzt; sie selbst würden Hitler ja lieben. Und so weiter. Offenbar waren sie so gebrochen durch die Verhöre, daß sie sich nun irgendwie herauszuwinden versuchten. Das fand ich ganz furchtbar, und natürlich hat es mich überrascht, weil ja Fallada das ganz anders beschrieben hat.“

Die Haltung, mit der die Quangels vor Gericht aufgetreten waren, hatte auch mich bewegt. Wie sie es geschafft hatten, ihre Würde zu bewahren – und dabei zu einer inneren Freiheit gefunden hatten, die ihnen die Angst vor dem Tod nahm. Nun erfuhr ich, wie es wirklich gewesen war.

Aber warum hatte Fallada es so erzählt?

Auch Helga Schubert konnte es nur vermuten. „Ich denke mir, daß er das einfach nicht aushielt. Er war ja selber ein gebrochener Mann: Alkoholiker, drogenabhängig, psychisch labil. Und da hatte er nicht die Kraft, dieses Furchtbare zu ertragen. Vielleicht war es auch Respekt gegenüber diesem Ehepaar, das so mutig gewesen war und sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Da wollte er ihnen nicht im nachhinein vorwerfen, daß sie bei den Verhören im Gestapokeller der Mut verlassen hatte.“

Über ihren Archivfund schrieb Helga Schubert 1987 einen Essay mit dem Titel „Das Böse im historisch Guten“. Darin vermutet sie neben den genannten Gründen noch eine politische Absicht. Offenbar sei es nach dem Krieg wichtig gewesen, ein Buch über ein Arbeiterehepaar zu schreiben, das bis zum Schluß aufrecht geblieben sei. Fallada habe daher „ein für ihn stimmigeres Geschichtsbild“ entworfen.

Diese Überlegung leuchtete mir ein. Auch in den Zeitschriften, die mein Großvater hinterlassen hatte, ging es um Rückbesinnung auf moralische Werte und Gegengeschichten zur Nazibarbarei.

Aber einige Zeit später spielte mir der Zufall ein Buch in die Hände, das noch eine andere Erklärung enthielt. „Falladas letzter Roman“ von Manfred Kuhnke erzählt die Geschichte hinter „Jeder stirbt für sich allein“. Mit geradezu detektivischem Spürsinn hat sich der Verfasser auf Spurensuche begeben, hat in Archiven geforscht, Akten gelesen, Zeitzeugen befragt und eine solche Fülle an Details ausgegraben, daß man das Resultat seiner Forschungen immer wieder mit angehaltenem Atem liest.

Nicht nur, daß man erfährt, wer Elise und Otto Hampel waren und wie sich in der Realität zugetragen hat, was Fallada nur drei Jahre nach ihrer Hinrichtung in die Form eines Romans brachte. Man wird auch mit den Gnadengesuchen der Verurteilten konfrontiert, die sich gegenseitig anschwärzen, um die eigene Haut zu retten. Es ist eine beklemmende Lektüre, und man versteht nur zu gut, warum Helga Schubert 1987 schrieb: „Was ich da las, war so tragisch, daß ich zu weinen anfing.“

Doch die für mich interessanteste Erkenntnis betrifft die Frage, warum der Roman den tatsächlichen Ablauf der Geschehnisse geradezu ins Gegenteil verkehrt. Was Kuhnke an Indizien zusammengetragen hat, ist so eindeutig, daß man sich fragt, warum nicht schon viel früher jemand darauf gekommen ist – daß Fallada nur einen Teil der Akten gekannt haben kann.

Eigentlich läßt es sich bereits dem „Aufbau“-Essay entnehmen, in dem lediglich von einem dünnen Band die Rede ist, „etwa 90 Seiten stark“. Laut Kuhnke umfassen die Akten aber mehr als 400 Blatt. Und wenn Fallada schreibt, daß die ihm vorliegenden Schriftstücke mit dem Todesurteil enden, dann ist klar, daß er weder die Gnadengesuche kannte noch das Hinrichtungsprotokoll und also auch nichts wußte von dem fürchterlichen Drama, das sich in den letzten Lebensmonaten von Elise und Otto Hampel abgespielt hat.

Warum aber nur 90 Seiten? War es ein Versehen oder Kalkül, daß Johannes R. Becher Fallada nur ein Viertel der Akten zukommen ließ – und ihm damit ausgerechnet jene Teile vorenthielt, die den menschlichen Zusammenbruch des Berliner Ehepaars dokumentieren?

Viel spricht dafür, daß es eine bewußte Entscheidung war. Der Wille, dem moralischen Bankrott der Nazizeit etwas entgegenzusetzen, muß so groß gewesen sein, daß alles andere dahinter zurückzustehen hatte – sogar die historisch verbürgte Wahrheit. Kuhnke schreibt: „Der Roman, der durch dieses Aktenmaterial in Fallada ausgelöst werden sollte, mußte aufrechtes Menschentum in der düsteren Vergangenheit zeigen, um Hoffnung und Kraft gegen die Bedrängnisse der Gegenwart zu ermöglichen.“

Hätte Fallada den Roman auch geschrieben, wenn er die Wahrheit gekannt hätte? Es wäre sicher ein anderes Buch geworden. Eines, auf das der Titel „Jeder stirbt für sich allein“ sogar noch besser gepaßt hätte. Denn so allein wie Otto und Elise Hampel am frühen Abend des 8. April 1943, als sie im Abstand von gerade einmal zwei Minuten mit dem Fallbeil in Plötzensee hingerichtet wurden (bei ihm brauchte der Scharfrichter 14 Sekunden, bei ihr 16), dürfte kaum je ein Mensch gewesen sein.

„Für mich ist es viel tragischer und berührender, daß Leute, die mutig so viel auf sich genommen, die im Gegensatz zu Millionen anderen etwas getan haben, trotzdem gebrochen wurden durch Folter.“ Man kann es so sehen wie Helga Schubert in ihrem Essay von 1987 – und Falladas Roman dennoch ein Meisterwerk nennen. Aber wer um die Vorgeschichte weiß, liest das Ende des Romans mit zwiespältigen Gefühlen.

Einige Zeit war vergangen, als ich an einem Sonntagnachmittag durch Moabit ging. Die Straßen lagen still in den Wolkenschatten, nur wenige Leute waren unterwegs. Ich war noch nicht oft hier gewesen und sah immer wieder nach den Straßenschildern. Einfacher wäre es gewesen, durch das Viertel zu gehen, in dem ich früher gewohnt hatte. Doch ich ahnte schon, daß ich hier eher finden würde, was ich suchte.

Die Liste der Häuser, in denen Elise und Otto Hampel die Postkarten abgelegt hatten, enthielt 234 Adressen. Jedes einzelne Haus war darin verzeichnet, dazu das Datum und die Uhrzeit, wann jemand die Karte gefunden hatte. Auch eine Telefonzelle war aufgeführt, eine Bedürfnisanstalt und der U-Bahnhof Alexanderplatz.

Anders als in Falladas Roman hatten die Hampels nicht in der Jablonskistraße 55 gewohnt, sondern in der Amsterdamer Straße 10. Die meisten Karten hatten sie daher nicht in Prenzlauer Berg verteilt, sondern im Wedding – oft nur ein paar Straßen von ihrer Wohnung entfernt. Aber auch in anderen Bezirken hatte man sie gefunden.

Ich hatte mir ein paar Adressen in Moabit notiert. Hier würde ich am ehesten auf Häuser stoßen, die noch so aussahen wie damals, als Elise und Otto Hampel in der Stille eines fremden Hausflurs oder unter dem verräterischen Knarren einer Treppenstufe ihre Botschaften verteilt hatten.

Aber gleich der erste Versuch schlug fehl. Statt eines Hauses war da nur ein begrünter Platz, wahrscheinlich eine Bombenlücke. Auch das Haus, in dem die Quangels gewohnt hatten, war bei einem Luftangriff zerstört worden – ein halbes Jahr nach ihrer Hinrichtung. Es gab 96 Tote. Es war das einzige Haus in der Straße, auf das eine Luftmine fiel.

Weit mußte ich nicht gehen, um zur nächsten Adresse zu gelangen. Auf dem Weg dorthin stellte ich mir vor, wie Otto Hampel (die meisten Karten hatte er verteilt) in der Dämmerung durch diese Straßen gegangen war. Wahrscheinlich hatte er sich um einen festen Schritt bemüht, einen unbeteiligten Gesichtsausdruck. So als gehe er hier jeden Tag entlang. Ein Arbeiter auf dem Nachhauseweg. Nur nicht zögern. Nur nicht den Kopf heben und an den Fassaden hinaufschauen. Nur nicht auffallen.

Aber Ausschau gehalten hatte er natürlich doch. Verstohlene Blicke aus dem Augenwinkel, die einem Haustor galten, das offen stand – vor allem aber der Abwesenheit von Zeugen. Trauben herumtollender Kinder wird er gemieden haben.

Einige der Häuser lagen an Straßenkreuzungen. Da kam er rasch weg. Bog er um die Ecke, war er aus dem Blickfeld. Nicht mehr zu sehen für jemanden, der die Karte fand und in heller Aufregung aus dem Haus stürzte, fieberhaft die Straße hinauf und hinunter spähte, wer es gewesen sein könnte, der sie auf das Fensterbrett gelegt hatte.

An diesem Tag stand nirgends ein Tor offen. Die Häuser, an denen ich vorbeikam, wirkten wie Festungen. Abweisend, verschlossen; nicht zugänglich für Fremde. Für Leute, die Werbung in Briefkästen warfen. Oder Botschaften gegen Hitler verteilten. 

Minutenlang stand ich vor der Adresse, die ich mir notiert hatte. Nichts rührte sich. Was blieb mir anderes übrig, als irgendwo zu klingeln? Wieder wartete ich – vergebens. Aber dann, ich wollte schon aufgeben, hörte ich etwas, das wie eine Zikade klang. Als ich mich gegen das Tor lehnte, tat es sich auf wie von Geisterhand.

Und auch beim nächsten Haus, ein paar Straßen weiter, hatte ich Glück. Ich überlegte gerade, bei welchem Namen ich klingeln sollte, da kam ein Mann, nickte mir zu und schloß auf. Ich murmelte einen Gruß und ging hinter ihm her.

Als ich das geschwungene Treppengeländer sah, wußte ich: Ich war richtig. Hier war es gewesen. Ich sah Otto Hampel vor mir, wie er die Treppe hinaufgestiegen war: den schweren Schritt auf den Stufen, die schwielige Hand, die das Geländer umfaßte. Oder hatte er vermieden, es zu berühren, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen?

Es war ein düsteres Treppenhaus, verdunkelt von den großen Bäumen im Hof. Matt lagen ein paar welke Blätter auf dem Schachbrettmuster im Hausflur. Auf einem braun gestrichenen Podest hatte jemand seinen Roller abgestellt. Ich dachte, daß das kein schlechter Platz war, um dort eine Karte hinzulegen: gut sichtbar für jeden, der vorbeikam.

Oder war er weitergegangen – wie um anzugehen gegen die Angst in seiner Kehle? In den ersten, den zweiten, dann in den dritten Stock. Ich stellte mir vor, wie er auf dem Treppenabsatz stehengeblieben war, um Atem zu holen und zu lauschen. Auf die Stimmen in den Wohnungen: Kindergeschrei, Radiogedudel, das Gezänk beim Abendbrot. Auf das Klirren von Geschirr. Das Klappen der Haustür.

Achtzig Jahre war das her, die Bewohner von damals waren längst tot. Vielleicht, daß noch ein paar Kinder lebten. Doch während ich langsam nach oben stieg, kam es mir so vor, als wären sie alle noch da. Ihre Stimmen in den Wänden, das Getrappel ihrer Füße auf der Treppe über mir. Bei jedem Schritt glaubte ich es zu hören: wie eine zweite Tonspur, die hinter der Stille lag.

Immer wieder blickte ich mich um, als könnte auch Otto Hampel eine Spur hinterlassen haben, das eine Mal, als er in diesem Haus gewesen war. Ich hatte mir vorgestellt, daß er aus einem Fenster nach draußen geblickt hatte, auf die andere Straßenseite, wo Elise auf ihn wartete, mit nervös flatternden Händen. Hatte er ihr nicht gesagt, sie solle schon weitergehen; er komme gleich nach? Aber jetzt sah ich, daß alle Treppenhausfenster zum Hof gingen.

In diesem Augenblick hörte ich ein Krachen. Ich zuckte zusammen, aber es war nur ein offenes Fenster, das der Wind gegen die Mauer schlug. Gleich darauf begann im Stockwerk über mir ein Hund zu bellen.

Ich spürte, wie mir der Schweiß über die Stirn rann. Als hätte mich Otto Hampel angesteckt mit diesem Fieber, das ihn überkommen haben mußte, sobald er sich mit einer frisch geschriebenen Karte auf den Weg machte. Auch ich hatte das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Wäre eine Tür aufgegangen, und jemand hätte gefragt, was ich hier zu suchen habe – ich hätte es nicht erklären können.

Wie gelähmt stand ich auf der Treppe. Jedes Schlüsselloch ein Auge, das mich zu beobachten schien. Das hölzerne Geländer eine Schlinge, die sich langsam zusammenzog.

Nein, ich war nicht in Gefahr. Ich hatte nichts zu befürchten, keinen Verrat und keine Verhaftung, keinen Ankläger und keinen Henker. Ich lebte in keiner Diktatur. Aber wer sagte mir, daß das immer so sein würde?

Und während ich lauschte, auf die Schritte, die Stimmen, hörte ich in der Stille des Treppenhauses mein Herz: seinen dumpfen, rhythmischen, leise drängenden Schlag.

An dieser Geschichte habe ich mehrere Wochen gearbeitet. Ohne eine Zeitungsredaktion oder einen Verlag im Rücken. Ich weiß, das ist weder vernünftig noch rentabel. Aber ich fand, die Sache war es wert.

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