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Für mehr und bessere Filterblasen.

von Frank Rieger

Wir erleben gerade eines der eher seltenen Umbruch-Beben in der Informations- und Kommunikationssphäre. Eines der wichtigsten “sozialen Netzwerke” wechselt den Besitzer und wird zwangsläufig in hoher Geschwindigkeit mutieren.

Die Positionen zur Übernahme von Twitter durch Elon Musk lassen sich ganz grob in vier Lager zusammenfassen:

1. Es wird alles ganz grauenvoll, ich gehe (jetzt/bald/später).

2. Es könnte alles ganz grauenvoll werden, deswegen müssen wir Twitter gesetzlich regulieren / verstaatlichen / unter Aufsicht stellen.

3. Wird schon nicht so schlimm werden, schließlich mögen die Werbekunden familientaugliche Umgebungen. (aka. die Sascha-Lobo-Position)

4. Hurra, endlich kann wieder jeder unzensiert jeden Quatsch von sich geben und es wird alles ganz toll (für mich) werden!

Ich gehöre keiner dieser Denkrichtungen an. Warum? Twitter ist (genau wie Facebook, Instagram und TikTok) zu groß. Die Idee vom "globalen Dorf" war ein Fehler.

Marshall McLuhan sah schon Anfang der 1960er das Zusammenwachsen der Welt zu einem "globalen Dorf" durch die elektronischen Kommunikationstechnologien voraus. Solange es dabei primär um globalisierte Content-Produktion und -Distribution von Hollywood und Fernsehen ging, war das noch vergleichsweise harmlos, auch wenn die Beschreibung "Kulturimperialismus" nicht völlig daneben lag. Die frühen Insassen des Internets – zu denen ich auch gehörte – träumten den naiven Traum von der zwangsläufigen Demokratisierung und Befreiung der Welt durch die Auflösung der Unterscheidung von Sender und Empfänger. Wenn die Torwächter in den Redaktionen, Verlagen und Konzernen entmachtet werden und alle Menschen die Möglichkeit zur grenzenlosen Kommunikation und Publikation bekämen, würde sich das kreative Potential der Menschheit endlich entfalten können. Wissen würde für alle zugänglich werden und die Herrschaftsinstrumente der Informationskontrolle abstumpfen.

Und tatsächlich haben sich wesentliche Teile dieses Traums erfüllt. Nicht mehr in eine Bibliothek latschen zu müssen, stundenlang am Microfiche-Sichtgerät durch Bücher und Zeitschriften zu scrollen, um ein Stück Information zu finden, das heute mit einer einfachen Suchmaschinen-Anfrage in Sekundenbruchteilen erlangt werden kann, hat die Welt zum besseren verändert. Quer über alle Kontinente die anderen paar Dutzend Menschen zu finden, die an den gleichen Fragen, Problemen, Ideen oder Fetischen interessiert sind, war unglaublich befreiend und bereichernd. Niemand will das mehr missen und zurück ins Zeitalter von bedrucktem Papier und Fax.

Aber: Die Dynamiken der digitalen Technologien – technische, strukturelle und vor allem geschäftliche – haben diese idealistischen Ideen und Träume pervertiert. Wir leben heute in einem Netz, das vor allem von Plattformen dominiert wird, die möglichst effizient möglichst viel von unserer Aufmerksamkeit und Lebenszeit mit Werbung und bezahlter Propaganda belegen wollen. Die Dienstleistungen, die sie dafür offerieren, stehen inzwischen in einem krassen Missverhältnis zu den Unannehmlichkeiten, Nebenwirkungen und der Gefährdung der demokratischen Strukturen der westlichen Gesellschaften. Statt einem Netz, in dem man angenehm von zivilisierten Debattierclubs zu guter Unterhaltung zu verlässlichen Quellen von Sachinformationen und Nachrichten wandeln kann, haben wir ein Stadion voller Menschen mit Megaphonen bekommen, die dort versuchen über kontroverse Themen zu diskutieren. Wer am meisten Geld hat, kann sich ein größeres Megaphone kaufen, wer die psychologischen Hebel der Manipulation und emotional getriebenen Irreführung am besten beherrscht, bekommt die meisten Rezipienten.

Wer hat denn letztendlich ein Interesse daran, über eine große Plattform möglichst viele Menschen effizient, kostengünstig und nach Zielgruppen segmentiert zu erreichen? Es sind Werbeagenturen, Marketingtypen, Propagandisten, Scammer und Spammer. "Ein globales Publikum erreichen" ist für die allermeisten Menschen nicht, weswegen sie ein "soziales Netzwerk" benutzen. Schnell mitbekommen was los ist, den kleinen Likes-Dopaminfix zwischendurch abholen, mit Freunden und Gleichgesinnten in Kontakt bleiben, neue Dinge entdecken oder einfach nur ein bisschen Zeit unterhaltsam verbringen – dafür sind die meisten Menschen auf Twitter. Aber der Preis in Form von verschwendeter Lebenszeit und negativen Emotionen für die Abwehr von Trollen, Idioten, Spammern, Scammern und lästigen Werbeeinblendungen ist inzwischen sehr hoch. Dieser Preis ist eine direkte Folge der weltumspannenden Größe, davon, dass jeder jede erreichen kann und der Aufwand für die Steuerung des Informationsflusses mit unzureichenden Werkzeugen auf die Empfänger abgewälzt wird. Das Problem wird erstmal auch nicht durch machine-learning-basierte Inhalte-Kuratierung gelöst werden, weil diese Kuratierung, solange sie durch die Plattform  geschieht, auf Werbeauslieferung optimiert wird. (Ich schließe nicht aus, dass es in absehbarer Zeit solche Kuratierungs-Filter auf Empfängerseite gibt, aber dann wäre auch e-mail-Spam als Problem gelöst und das sehe ich gerade noch nicht passieren.)

Das zweite Kernproblem – neben dem Anspruch eine Plattform für die ganze Welt zu sein – ist, wie Twitter, Facebook & Co. vorsätzlich eine Vermischung zwischen individueller Kommunikation (Unterhaltungen und Debatten im kleinen Kreis) und absichtlicher Publikation erzwingen. Klar, man kann seinen Account auf "protected" umstellen, das ändert aber genau nichts am Werbe-Targeting und dem Aufwand, sich mit den Follow-Anfragen zu beschäftigen.

In naher Zukunft gibt es einen gern übersehenen Treiber, der die Ungemütlichkeit der großen werbeoptimierten Plattformen wie Twitter weiter beschleunigen wird: Automatisierte Übersetzungen. In dem Moment, wo Übersetzungen immer und überall automatisch passieren – beim Lesen, beim Suchen, beim Schreiben – tritt der Babelfisch-Effekt ein.

"Der praktische Nutzeffekt der Sache ist, dass man mit einem Babelfisch im Ohr augenblicklich alles versteht, was einem in irgendeiner Sprache gesagt wird. (...) Mittlerweile hat der arme Babelfisch dadurch, daß er alle Verständigungsbarrieren zwischen den verschiedenen Völkern und Kulturen niederriss, mehr und blutigere Kriege auf dem Gewissen als sonst jemand in der ganzen Geschichte der Schöpfung." (Douglas Adams, Per Anhalter durch die Galaxis)

Bisher stellen die Sprachbarrieren noch eine relativ effektive Segmentierung der globalen Plattformen in Kulturräume mit ihren Gepflogenheiten, Sprichwörtern und lokalen Themen sicher. Es ist absehbar, dass dies nicht mehr lange der Fall ist. Schon jetzt folgen meine englischsprachigen Freunde meinem primär deutschsprachigen Account mit automatischer Übersetzung per Click. Wenn demnächst globale Suche über alle Sprachen hinweg funktioniert und die ausgewählte Sprache des Feeds unabhängig von der Ausgangssprache automatisch realisiert wird, haben wir einerseits mehr Austausch mit netten Menschen überall auf dem Planeten. Andererseits haben wir dann auch US-Trumpisten-Horden die, auch noch befeuert durch Übersetzungsfehler, über deutsche LBQT*-Twitterer herfallen.

Der Bedarf nach mehr "sozial" und weniger Werbung, Bullshit, Spam, Scam und Trollen ist groß genug für ein paralleles Universum, vielleicht jetzt in Form des Fediverse (so heisst die Struktur hinter Mastodon eigentlich). Das Prinzip dabei: Es gibt viele tausend Server, jeder mit seinen eigenen sozialen und inhaltlichen Regeln, verankert in einem gewissen sozialen Kontext der eine bestimmte Community anzieht, vernetzt mit möglichst vielen anderen Servern über ein gemeinsames Protokoll. Man kann jedem Account innerhalb der Förderation folgen, Menschen und Themen per Suche finden (auch wenn das gerade noch technisch etwas holperig ist). Und ob der eigene Server mit Servern von Menschen förderiert, die völlig andere Meinungen und Ansichten über zivilisierte Debatte oder was eine Beleidigung ist, haben, ist eine bewusste Entscheidung. Das die Antwort auch "nein" sein kann ist eine große Befreiung und Entlastung für viele.

Das bringt uns zum nächsten großen Irrtum der Netzdebatten der letzten Jahrzehnte. "Filterblasen aufbrechen" war lange ein sehr beliebter Slogan. Ich habe das schon immer für einen Irrtum gehalten, weil ich die besten, produktivsten und intellektuell stimulierendsten Debatten im Kontext geschlossener Benutzergruppen habe. Aber das Aufbrechen war allgemein sehr populär, Filterblasen wurden als böse und Horte von Radikalisierung und Gehirnwäsche gesehen. Dabei wurden typischerweise algorithmische "slipery slopes" – also der Effekt, dass Youtube einen unweigerlich mit Hohlerde-Echsenmenschen-5G-Impfchip-Videos versorgte, sobald man einmal "Mondlandung" als Suchwort eingegeben hatte – mit Filterblasen im Sinne der eigenen Informations-Hygienie verwechselt. Algorithmische Radikalisierung zur Werbeoptimierung zu unterbinden ist gut und richtig. Aber zu verkennen und negieren, dass Menschen nur ein gewisses Maß an von ihren Überzeugungen, Werten und Ansichten stark abweichenden Informationen und Meinungen aushalten und sich damit beschäftigen können, ist falsch.

Es gibt dazu eine deprimierende Studie "The effect of social balance on social fragmentation" 

https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rsif.2020.0752 (Öffnet in neuem Fenster)

Das wichtigste Ergebnis: "Wir finden einen grundlegenden Regimewechsel (Phasenübergang), der bei kritischen Werten von sozialer Konnektivität stattfindet. Unterhalb der kritischen Dichte beobachten wir eine weitgehend kohäsive Gesellschaft, in der eine ausreichende Dichte positiver Verbindungen zwischen Gruppen besteht. Darüber gibt es eine unvermeidliche Phase, die von der Existenz vieler kleiner interner kooperativer Gemeinschaften dominiert wird, die anderen Gruppen gegenüber feindselig und uneins sind. Unser Hauptergebnis stützt die Idee, dass der zunehmende Grad der Fragmentierung in den letzten Jahren stark mit dem drastischen Anstieg der sozialen Verbundenheit aufgrund technologischer Fortschritte wie sozialer Medien zusammenhängen könnte."

Mit anderen Worten: Jeder Mensch hat einen Schwellwert, bis zu dem er von seinen Überzeugungen, Meinungen, Werten abweichende Interaktionen interessant und bereichernd findet. Wird der Wert überschritten tritt unweigerlich Abschottung und Feindseligkeit auf. Wie hoch der Schwellwert bei jedem einzelnen ist, hängt von dem Gefühl der Sicherheit der eigenen Stellung im sozialen Umfeld ab, wahrscheinlich auch von der eigenen materiellen, existenziellen Sicherheit und der wahrgenommenen Stellung innerhalb der Hierarchien der Gesellschaft. Ein gutverdienendes Mitglied der gesellschaftlichen Eliten hat eine viel größere Kapazität dafür, sich mit anderen Ansichten auseinanderzusetzen und sie sogar als intellektuelle Bereicherung im Sinne der Schärfung der Argumente anzusehen,  als eine ökonomisch unsichere Angehörige einer marginalisierten Gruppe.

Was folgt nun daraus? Lasst uns mehr Filterblasen wagen. Mehr kleinere, gemütliche, überschaubare digitale Räume aufbauen. Nicht als direkten Ersatz für die Plattformen mit globaler Reichweite, die vielleicht in mutierter Form weiter ihre Berechtigung als Publikations-Medien behalten werden, sondern als parallele Alternative, für das wofür wir ursprünglich mal die "sozialen Medien" gut fanden.

Der hochgeschätzte Nils Minkmar beendet seinen sonntäglichen Newsletter (Öffnet in neuem Fenster) stets mit einem optimistischen "Kopf hoch!".

Ich verbleibe bis auf weiteres mit einem eher stoischen

Durchhalten!

Ihr

Frank Rieger

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