Zum Hauptinhalt springen

Trans Europa Express

Vor einer ganzen Weile ergab es sich, dass mehrere Termine günstig für eine lange Zugreise quer durch Europa lagen. Die Route war Berlin - München - Innsbruck - Zürich - Paris - London - Amsterdam -Berlin.

In Früheren Zeiten™, vor billigen Flügen, wäre das eine recht normale Bahnreise gewesen. Heutzutage ist es jedoch etwas ungewöhnlich. Warum würde man sich so lange Reisezeiten antun, wo doch fliegen so viel schneller geht?

Für mich war es eine Mischung aus mehreren Faktoren. Natürlich spielt der CO2-Ausstoss eine gewisse Rolle. Ich versuche nur zu fliegen, wenn es nicht anders geht und habe noch nie an irgendwelche Klima-Kompensations-Scams geglaubt, die die Airlines zur Gewissensberuhigung verkaufen. Innerdeutsch fahre ich praktisch immer Bahn, auch wenn die üblichen Störungen im Betriebsablauf inzwischen Eintagestouren unmöglich machen.

Leider sind bei Zeit- oder Geldrestriktionen Flugreisen zu oft die einzig sinnvolle Option. Dass die Schlafwagen-Züge meistens monatelang vorher ausgebucht und grob vier mal so teuer wie Billigflieger sind macht es nicht einfacher. Aber immerhin, für diese Tour reichten Zeit und Budget aus, um mal ordentlich Zug zu fahren.

Wichtig ist mir auch das Gefühl von “reisen”. Ich bin neugierig, mich interessiert, wie Länder “wirklich sind”, die vielen Kleinigkeiten und Besonderheiten, wie die Länder ausserhalb der großen Städte wirklich aussehen, die Landschaften, die Infrastruktur.

Und ich mag Flughäfen nicht. Sie sind in auf eine krasse Weise faszinierend, aber alles, was an unserer modernen Gesellschaft kaputt und falsch ist manifestiert sich in Flughäfen. Vollüberwachte Einkaufszonen mit Filialen der immer gleichen global vereinheitlichten Ketten, endlose Latschwege, deren sensorische Deprivation nur durch Werbedisplays kurzzeitig karrikiert wird, ineffizientes Sicherheits-Theater, seelenlose Wartebereiche. Die Portale zur ortslosen Flug-Zwischenwelt befinden sich irgendwo weit vor der Stadt, die eigentlich hohe Transportgeschwindigkeit wird durch sinnloses Herumgewarte und lange, mühsame An- und Abreisewege oft genug aufgefressen.

Demgegenüber könnte das europäische Hochgeschwindigkeits-Zugnetz ein angenehmerer Weg des Reisens sein. Angesichts der eskalierenden Krisen der Deutschen Bahn war mein Optimismus diesbezüglich jedoch begrenzt, aber vielleicht ist es ja nur in Deutschland so elend. Only one way to find out.

Der Sprinter von Berlin nach München über die Neubaustrecke ist, im Vergleich zu vielen anderen Strecken, relativ zuverlässig. Dank großzügiger Planung der Umsteigezeit schaffte ich den Umstieg in München nach Innsbruck letztendlich sogar planmäßig und kam pünktlich an.

Strassenkunst in Innsbruck (Kontext Ukraine)

Am nächsten Tag ging es nach einem Spaziergang und der Veranstaltung in Innsbruck dann Abends weiter nach Zürich. Der ÖBB-Zug kam zu spät und baute immer weiter Verspätung auf. Die SBB-Ansage nannte “Baustellen und Verzögerungen in einem Nachbarland” als Grund. Dass mit dem “Nachbarland” Deutschland gemeint war musste niemand dazusagen.

In Zürich offenbarte sich ein signifikanter Vorteil des Bahnreisens: Man kommt mitten in der Stadt an, nicht irgendwo in der Pampa. So ergab sich die Gelegenheit für einen spontanen gemeinsamen Nachtimbiss mit einem lange nicht besuchten Zürcher Freund, ganz entspannt und ohne lange Planung.

Zürich - Paris am nächsten Morgen war ein interessantes Beispiel dafür, wie normal Bahnreisen zwischen Ländern sein kann, wenn es denn nur gewollt ist. Der Zug, ein TGV Lyria, ist so eine Art Turbo-Doppelstock-Regionalexpress.

Ich habe leider keine brauchbaren Fotos der schönen Landschaften auf dem Weg gemacht, es lohnt sich aber.

In Paris kommt der Zug aus Zürich am Gare de Lyon an.

Von dort ist es ein netter Fussweg durch die Pariser Innenstadt zum Bahnhof Gare du Nord, wo der Eurostar nach London abfährt. Auf dem Weg war noch entspannt Zeit für etwas Sightseeing und vor allem einen Besuch mit einem lange nicht gesehenen Freund in einem guten Pariser Cafe.

Das Pariser Eurostar-Terminal ist leider ein gelungener Versuch, das schlimmste aus Flug- und Zugreisen zu kombinieren (keine Fotos wg. der Sicherheit). Schlecht funktionierendes Sicherheitstheater mit langen Schlangen, abstürzende Pass-Check-Terminals, Menschenmassen warten auf zu wenig Raum darauf, dass ihr Zug abfährt. Schlechte Sandwiches zu völlig absurden Preisen simulieren eine Art Nahrungsmittel-Grundversorgung.

Der Zug selbst ist dann allerdings eine positive Überraschung.

Das Essen auf dem Hinweg nach London wurde glücklicherweise offenbar von der französischen Seite gestellt.

Die Erfahrung unter dem Ärmelkanal durchzufahren ist irgendwie surreal. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass es gleich unter einem stürmisch-unwirtlichen Stück Meer entlanggehen wird und auf der anderen Seite ein anderes Land sein wird.

Das Problem mit den Sanitäreinrichtungen in Zügen scheint jedenfalls ein universelles zu sein…

Und dann ist es auch schon passiert. In weniger Zeit, als die Deutsche Bahn statistisch gesehen von Berlin nach Hamburg braucht, ist London St. Pancras erreicht.

Der architektonische Kontrast zu Paris ist unwirklich.

Zum Glück gibt es bei Strassenquerungen hilfreiche Hinweise um unnötige Verkehrstote unter den gerade angekommenen Reisenden zu vermeiden.

Die Unterkunft-Situation in London ist definitiv nicht besser geworden. Diese umgebaute ehemalige Besenkammer wurde mir für den Preis eines soliden Vier-Sterne-Hotelzimmers in Kontinentaleuropa vermietet. Die Wände sind papierdünn, was die unverfälschte akustische Teilnahme an den Ausscheidungsprozessen im Nachbar-Klo ermöglichte. Die Tür zum “Bad” rechts streift den Stuhl am Tisch nur um wenige Zentimeter nicht. Das Fenster zum Hof war so undicht und zugig, dass ich mit Mütze schlafen musste.

Nach recht nachdrücklichen Beschwerden am nächsten Morgen wurde mir immerhin ein Upgrade auf ein erträglicheres Zimmer gewährt. Zuerst wurde jedoch versucht mich mit einem Hinweis darauf abzuspeisen, dass der Insasse der Besenkammer nebenan gerade abgereist sei und daher die Geräuschkulisse nicht mehr so nachdrücklich sein solle.

Ich war absichtlich nicht in der schlimmsten Gegend von London abgestiegen, die Strassenseite des Hotels sah ziemlich nobel und wohlhabend aus. Das ist jedoch eine Illusion.

Der Blick in den Hof kontrastiert auffallend mit der polierten Vorderseite.

Diese Patjomkinsche Dissonanz ist typisch für Großbritannien. Die sichtbaren Fassaden sind wohlansehnlich, nobel renoviert und verströmen Wohlstand und Stil. Dahinter ist es normalerweise verkommen, maximal oberflächlich in Stand gehalten und oft funktional kaputt. Selbst in hochrepräsentativen Regierungsgebäuden ist es quasi normal, dass hinter einer holzgetäfelten Tür mit polierter Messingklinke ein Treppenhaus lauert, das mit kreuzweise genagelten groben Holzlatten gesperrt wurde, weil alles dahinter seit Jahrzehnten nicht mehr saniert wurde und baufällig ist.

London wird verkehrstechnisch durch die Tube zusammengehalten, das legendäre U-Bahn-System.

Die Komplexität des Netzes ist, im Vergleich zu Kleinstädten wie Berlin, beträchtlich. Die Beschilderung erlaubt immerhin eine halbwegs verlässliche Orientierung. Die Anzahl der Problemfälle in einem so grossen Netz macht es jedoch erforderlich, den Ansagen zuzuhören und auf Warnanzeigen zu achten. Auf einer morgendlichen Tour gab es so viele Sperrungen wegen technischer Probleme, einem Brand, Bauarbeiten etc., dass die automatisch vorgelesene Ansage welche Umgehungsrouten empfohlen wurden und wo die dafür sinnvollen Umsteigepunkte sind, nicht in die Zeitspanne zwischen zwei Stationen passte.

Die kleinen Details eines Nahverkehrssystems finde ich immer wieder faszinierend. Um dem Problem mit geklauten Nothämmern zu begegnen sind in den Bussen diese fest installierten Glasbrecher installiert.

In der Londoner Innenstadt ist gibt es reichlich Reminiszenzen an die gloriose imperiale Vergangenheit zu bestaunen, so wie diese von irgendwo aus den Kolonien verpflanzte Palme, die nun aufwendig für einen Strassenumbau verpflanzt wird.

Ein paar klassische Touri-Impressionen:

Die Verflochtenheit mit der Vergangenheit ist allgegenwärtig. Direkt gegenüber dem Ort, von wo früher Häftlinge nach Australien exportiert wurden, befindet sich das Hauptquartier des Auslandsgeheimdienstes MI6 (bekannt aus diversen Agenten-Filmen).

Nachdem einer der Termine, für die ich angereist war, etwas länger gedauert hatte blieb gerade noch genug Zeit für einen durchaus lohnenden Speedrun durch das Imperial War Museum. Das Museum ist eine interessante Mischung aus Glorifizierung der Zeit, als das Land noch echte Weltmacht und Kolonialreich war und durchaus reflektierter Aufarbeitung der verschiedenen Kriege der letzten Jahrhunderte.

Insbesondere der Teil über den Ersten Weltkrieg hat eine beunruhigende aktuelle Relevanz.

London bei Nacht ist immer noch lange Fusswege wert, es gibt unglaublich viel zu sehen und zu entdecken.

Das Schöne am Reisen ist ja, dass man die Bilder aus den Medien mit der Realität abgleich kann. Eines der Details, die mir nicht so ganz bewußt waren, ist, dass Downing Street No. 10, das beschaulich aussehende Häuschen des britischen Premierministers aus den TV-Übertragungen, mitnichten an einer normal zugänglichen Strasse liegt.

Der Eindruck, dass die Fassaden vor den Ruinen des alten Empires inzwischen eine wesentliche touristische Einkommensquelle sind, ist allgegenwärtig.

Etwas abseits der sorgfältig gelenkten Touristen-Ströme gibt es ab und zu noch Einblicke in die schrullige Traditionalität, die durch harte Klassenschranken verteidigt wird. Ich hatte nie so richtig verstanden, wie das Internet-Gerede vom Westen als im Abstieg befindlichen Römischen Imperium zustandekommt. In London springt einen diese Analogie jedoch an allen Ecken an. Es ist nicht nur die Ausgehöltheit der traditionellen Institutionen und ihrer Gebäude, die für die zentrale Verwaltung eines Weltreiches geschaffen und dimensioniert wurden. Auffällig ist auch, dass ohne die affirmative Fortführung des Empire-Eliten-Gehabes durch die Nachkommen der britisch sozialisierten und ausgebildeten Oberklasse aus den ehemaligen Kolonien schlicht nicht mehr genug qualifiziertes Personal dafür vorhanden wäre – bis hin zu den aktuellen Premiers von Großbritannien und Schottland.

Man kann in London sagenhaft schlecht aber auch wirklich gut essen. Die Highlights sind gelegentlich an erstaunlichen Orten zu finden, wie dieses koreanische Restaurant, das im Keller eines Asia-Supermarktes zu finden ist.

Der claim to fame dieses Restaurants ist der Besuch eines K-Pop-Stars, der ihm zu einiger Berühmtheit in den entsprechenden Fan-Kreisen verholfen hat. Natürlich gibt es das Menu, das der Star namens Jennie verzehrt hat, als handliche Liste zum nachbestellen.

Wenn man nur richtig hinschaut gibt es an vielen Orten interessantes zu beobachten, wie diese Fussgängerbrücke, auf deren Pfeiler Skateboards liegen. Der Skateboard Graveyard dort hat leider einen ziemlich heftigen Hintergrund (Öffnet in neuem Fenster).

Der Rückweg auf den Kontinent mit dem Eurostar nach Amsterdam war relativ unspektakulär, vielleicht war ich aber auch auf Grund der sehr frühen Reisezeit etwas arg übermüdet. Das Terminal in St. Pancras ist etwas geräumiger, aber genauso elend wie in Paris. Das Essen wurde leider offenbar auf dieser Strecke von den Briten geliefert, aus Rücksicht auf kulinarisch empfindliche Gemüter ohne Foto.

Bemerkenswert waren die massiven Sicherheitseinrichtungen gegen Migranten auf der französischen Seite des Kanals entlang der Strecke.

In Amsterdam kam der Zug pünktlich an, angesichts der Strecke von England über Frankreich und Brüssel nach Amsterdam, zumindest aus Sicht eines deutschen Bahnreisenden, ein kleines Wunder.

Auch in Amsterdam zeigte sich die Überlegenheit eines funktionierenden Bahnsystems mit Innenstadt-Bahnhöfen für die sozialen Aspekte des Reisens wieder. Zwischen Eintreffen und in Amsterdam und der Weiterreise nach Berlin passten noch entspannt ein Meeting und ein Essen in der Innenstadt. Wäre ich geflogen wäre das ein erheblicher Zeitaufwand bzw. nicht realistisch möglich gewesen.

Für Weiterreise nach Berlin hatte ich keine besonders hohen Erwartungen, schliesslich würde die Route ja bald wieder in den Hoheitsbereich der Deutschen Bahn führen. Ich wurde nicht enttäuscht. Die Reise endete vorerst in Hengelo.

Ein Oberleitungsschaden im Raum Hannover stoppte den gesamten grenzüberschreitenden Bahnverkehr. Ab Hengelo ging nichts mehr. Die Durchsage am Bahnsteig enthielt einen Satz, der alle erfahrenen Bahnreisenden unmittelbar in Panik versetzt: “Ersatzverkehrbusse werden von der Deutschen Bahn bereitgestellt.”

In solchen Momenten gilt es, gerade in kleinen Städten, sich sofort um ein Nachtquartier zu kümmern, was mir zum Glück gelang. Weniger reaktionsfreudige Mitreisende standen auf dem Bahnhofsvorplatz im Regen.

Hengelo ist nicht unbedingt vollgestopft mit Sehenswürdigkeiten, was es einfach machte, bald ins Bett zu gehen. Schliesslich hatte der Tag am frühen Morgen in London begonnen, was schon irgendwie sehr cool ist. Wäre nicht die Deutsche Bahn dazwischengekommen hätte ich es sogar noch bis zum Abend nach Berlin schaffen können.

Auf dem Weg ins Hotel fiel mir noch diese inhaltlich passende architektonische Nicht-Sehenswürdigkeit auf:

Am nächsten Morgen unternahm ich noch einen kleinen Streifzug durch Hengelo.

Nach mehrfacher Vergewisserung bezüglich des Reperaturzustands der Oberleitungen im Raum Hannover ging es dann endlich zurück nach Berlin. Der Zug baute erwartungskonform genug Verspätung auf, dass der Endbahnhof nicht wie geplant Berlin Hauptbahnhof sein konnte, aber das war dann auch schon egal. Immerhin hatte er es bis Berlin geschafft.

(Es gab in den letzten Monaten bei mir etwas argen Energie- und Zeitmangel, was die Posting-Frequenz beeinträchtigt hat. Ich bitte um Nachsicht. Ich hole die zwischenzeitlich liegengebliebenen Posts jetzt aber nach und kehre zur gewohnten Frequenz zurück.)

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Realitätsabzweig und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden