Von der Fragilität des freien Willens
Vor einigen Jahren gelang Banking-Trojanern ein sehr erfolgreicher evolutionärer Sprung. Technische und organisatorische Maßnahmen hatten das direkte Konto-Leerräumen schwieriger gemacht. Nun wurden den Opfern durch eine Browser-Manipulation beim Einloggen in ihr Online-Banking eine "irrtümliche" eingehende Überweisung angezeigt. Der Kontostand wurde auf der Anzeige der Banking-Webseite im Browser entsprechend dieser Fake-Realität angepasst, alle anderen Transaktionen waren unverändert.
Parallel dazu wurden die Opfer mit nachdrücklichen Aufforderungen bombardiert, den "irrtümlich" überwiesenen Betrag ganz schnell zurück zu überweisen, sonst drohten rechtliche Konsequenzen. Viele Opfer authentifizierten sich dann ganz normal gegenüber dem Online-Banking und überwiesen den Betrag, den sie in der Realität nie erhalten hatten, “zurück”. Die Manipulation des Endgerätes wurde zum Mittel der Manipulation des Willens des Opfers. Dagegen halfen weder TAN-Briefe noch Push-TAN oder Photo-TAN. Die technische Schwachstelle war im Webbrowser, dem Interface des Opfers zur Wahrnehmung der Konto-Realität. Das eigentliche Manipulationsziel war der freie Wille des Opfers.
Viele Menschen, die Bilder und Zeugenberichte eines Massakers mit modernen Waffen an Zivilisten sehen, haben Schwierigkeiten, nicht emotional und impulsiv zu reagieren. Ob die Bilder echt sind, ob sie wirklich aktuell und vom Ort des Geschehens sind, ist oft schwer nachzuvollziehen. Trotzdem reagieren sie, es ist ja auch nur natürlich und menschlich, angesichts des Leids und Elends nicht kalt zu bleiben. Oft genug jedoch sind die Bilder und Nachrichten manipuliert.
Alle Kriegsparteien verwenden eine Kombination von strikter Kontrolle des Informationsflusses aus den Kampfzonen und selektierten, ihres Kontexts beraubten, verfälschten oder gefälschten Informationen. Die Stimmung und Ansichten der eigenen, der gegnerischen und der weltweiten Öffentlichkeit zu beeinflussen ist ein Mittel des Krieges. Egal ob das PsyOps, “Operationen im Informationsraum” oder Propaganda genannt wird, die Mittel und Methoden sind gleich. Die durch (“soziale”) Medien vermittelte Wahrnehmung der Realität wird manipuliert.
Wenn jemand besoffen eine Straftat begeht, gab es früher meistens – und heute optional – einen Strafnachlass (je nach Umständen). Das Konzept von Straftaten “im Affekt” (Öffnet in neuem Fenster) versucht einen emotionalen Ausnahmezustand, wenn der Täter also “nicht mehr Herr seiner Sinne war”, gutachterlich zu erfassen und gegebenenfalls strafmindernd zu würdigen. Im Zivilrecht, wo die meisten Dinge durch Rückabwicklung, Ungültigkeit oder Schadenersatz regelbar sind, gibt es ähnliche Konzepte.
Nun steuern wir aber mit großen Schritten auf eine Welt zu, in der die digital vermittelte Wahrnehmbarkeit der Realität endet. Bildgeneratoren, “AI”-gestützte Videobearbeitung und -generierung und Textgenerierung mit LLMs ermöglichen die Erzeugung von Realitäten, bei denen lediglich inhaltliche Plausibilität und narrative Folgerichtigkeit die Grenzen des darstellbaren bilden. Wenn wir uns ansehen, was im den letzten Jahrzehnt alles so passiert ist, dass Früher™ als zu wild und unplausibel aus Drehbüchern gestrichen worden wäre, ist das keine besonders enge Grenze.
Bisher war die kanonische Antwort auf diese Problemlage die Forderung nach “mehr Medienkompetenz”. Es gibt dazu Bücher, Seminare, Lehrmaterial und natürlich die beliebten Medienkompetenzübungen bei Fefe (Öffnet in neuem Fenster). Die Idee war, dass es mit genügend Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Verfikations-Aufwand möglich ist, Realität von Manipulation zu unterscheiden.
Ich fürchte, damit allein kommen wir nicht mehr weiter. Was früher als “Black Arts” von Propaganda und Psyops eher selten und sparsam verwendet wurde, ist heute ganz selbstverständliches Werkzeug, nicht nur in der Politik und militärischen Auseinandersetzungen sondern auch für Kriminalität und in der Werbung.
Immer mehr Menschen beziehen für sich handlungsrelevante Teile ihrer Realitätswahrnehmung aus Chatgruppen, werbefinanziertem Social Media, Youtube-Kanälen und ChatGPT-Antworten. Die faktische und inhaltliche Korrektheit von Informationen wird weniger wichtig, sie ist nur noch ein optionales Element neben leichter Zugänglichkeit, (para)sozialer Interaktion, guter Konsumierbarkeit und Geschwindigkeit. Was Promis, “Influencer” und Bewegungs-Heldinnen sagen geniesst einen Vertrauensbonus, egal ob es dabei eine Kompetenzvermutung geben kann oder nicht. “Faktenchecker” in den traditionellen Medien verstolpern sich oft genug in ihren eigenen ideologischen Überzeugungen, mangelnder Sorgfalt und Kompetenz und diskreditieren ihren Wahrheitsanspruch über die Zeit gründlich.
Der Aufwand zur Verifikation, zur Dekonstruktion des Narrativs, der Ermittlung der Realitätsferne und der Einordnung wird an eine virtuelle parasoziale Vertrauensbeziehung delegiert. Letztendes ist es eine Lebensvereinfachung, der eigene mentale Aufwand wird reduziert.
Es ist noch sehr einfach auf “die anderen” herabzuschauen, die “sich manipulieren lassen”. Spätestens wenn im eigenen Umfeld, bei Menschen die man gut kennt, Phasen von stark von der eigenen Weltsicht divergierenden Ansichten zu Tage treten, wird es richtig schwierig. Richtig hart wird es, wenn man selbst erkennen muss, dass man selbst medialen Manipulationen aufgesessen ist. Es wird einfacher, wenn man sich selbst und auch anderen zugesteht, dass das wirklich jedem passieren kann. “Ich habe mich geirrt, ich hab nochmal genauer hingesehen und meine Ansicht geändert.” ist eine völlig normale und akzeptable Aussage ist, die nicht stigmatisiert gehört.
Das wirklich Ausmaß des Problems manifestiert sich dort, wo manipulierte Ansichten, Überzeugungen und Emotionen zu Handlungen in der Realität führen. Nachrichten über Massaker auf einem anderen Kontinent bringen Menschen auch hier dazu, gewalttätig gegen den angenommenen ideologischen Gegner zu werden. Tiktok-Videos mit wilden Behauptungen und Influencer-Battles zerlegen Freundeskreise. Stabile soziale Nachbarschafts-Gefüge zerbrechen an Chat-Nachrichten, obwohl sich hier vor Ort, in der eigenen, physisch wahrnehmbaren Realität nichts verändert hat.
Die Frage, die mich gerade umtreibt, und auf die ich bisher keine gute Antwort habe ist, was der richtige Umgang damit ist. Das Idealbild vom Menschen als halbwegs rationalem, sich den Folgen seiner Handlungen bewußten und im wesentlichen dem kategorischen Imperativ (Öffnet in neuem Fenster) folgenden Individuum hat offenbar ausgedient. Es wird immer einfacher, den freien Willen durch gezieltes Auslösen emotionaler Ausnahmezustände zu einer Illusion verkommen zu lassen. Wie gehen wir als Gesellschaft damit um, dass große Menschengruppen zumindest phasenweise die juristische Definition der Affekttat erfüllen?
“Reisst euch mal zusammen, beruhigt euch und kommt klar!” dürfte kaum reichen. Wird eine der Antworten das Aufkommen einer neuen Bewegung sein, die sich an den Idealen der Vulkanier (Öffnet in neuem Fenster) orientiert? Streichen wir das Konzept “Affekttat” aus den Gesetzbüchern und urteilen künftig in jedem Fall ohne Berücksichtigung eventueller emotionaler Erregung? Zerfällt die Gesellschaft immer weiter in ideologische Lager, die nur noch den eigenen Nachrichtenkanälen glauben und die letztendlich anstreben, möglichst wenig mit den Abweichlern da drüben zu tun zu haben? Es wird nicht einfach werden.