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Der Sprung - 24.04.2023

Der Sprung Beim Backen nie wieder Sägespäne ins Mehl mischen müssen. Ein trockenes Haus. Die Kinder satt kriegen. Mein Großvater hatte nach dem Krieg drei Jobs, der erste fing um halb vier morgens an in einer Bäckerstube. Es funktionierte für meine Familie, für Deutschland. Das Wirtschaftswunder wurde zum Inbegriff materieller Sicherheit.

„Geht arbeiten!“

Männer brüllen uns so an, wenn wir in einer Blockade sitzen. Selbst ein Junge aus einer Schulklasse, die vorbeilief, rief das. Ich musste lachen, irgendwie war’s auch tieftraurig, dass das in so nem kleinen Menschen schon drin ist. Nicht nur, weil es doch so viel geilere Sachen gibt als Arbeiten, sondern auch, weil die materielle Sicherheit von damals die materielle Unsicherheit von heute ist – acht planetare Belastungsgrenzen sind mittlerweile überschritten.

Was krisengeschüttelte Gesellschaften in der Vergangenheit oft getan haben: more of the same. Aus Angst flohen sie ins Bekannte, in unserem Fall würde das bedeuten, noch mehr Raubbau an der Erd; die Beschleunigung unseres Untergangs.

Zwei Männer schrieben mir kürzlich, dass meine Texte oberflächlich seien, und mir war das auch aufgefallen: dass ihr Sound zunehmend nach Kalendersprüchen klang, und ich musste darüber nachdenken. Ich glaube, es liegt daran, dass das, was ich gerade erlebe zum einen sehr oft etwas Archetypisches hat und zum anderen schön ist. Zynismus, Abgeklärtheit, was wir oft mit Komplexität und Vernunft assoziieren, klingt halt anders.

Ich schreibe das, weil es auch dieses Mal wieder um etwas geht, was, ja, ein bisschen kitschig ist.

Mut.

Vergangene Woche wurden wir in der Blockade nicht nur angepöbelt. Drei Männer stiegen aus ihren Autos aus, brüllten, rissen unsere Banner weg, packten einige von uns, und schliffen uns über die Straße.

Danach gab es noch drei Stunden Polizeikessel. Wir waren im Anschluss völlig fertig. Und fast alle von uns gehen diese Woche wieder auf die Straße. Das ist die eine Art von Mut, dann ist da noch die andere, die ich um mich herum beobachte, die ich aus meinem früheren Leben nicht kannte, die mir deshalb jetzt so auffällt.

Die Leute in der Letzten Generation versuchen es nicht mit more of the same. Nicht noch schnell die Ausbildung oder das Studium fertig machen. Nicht noch ein bisschen mehr Geld verdienen, um sich selbst abzusichern. Stattdessen: verlassen viele das, was sie kennen und springen ins Ungewisse. Ich hatte vor meinem Wechsel ein paar Gespräche geführt. Hatte ein Gefühl, was kommen würde, aber nicht die geringste Ahnung, was es wirklich sein würde.

Und es ist nicht so, dass keiner Spaß hätte bei dem, was wir tun. Ich habe derzeit eine riesig gute Zeit. Aber ich habe noch niemanden gesprochen, der nicht gesagt hätte: Würde jemand anderes die Aufgabe übernehmen, würde ich sofort nach Hause gehen. Ich hätte auch eigentlich mehr Bock auf Zeit mit meinen Freund:innen, auf eine Beziehung und Kinder.

Und trotzdem wagen fast alle von uns Tag für Tag diesen Sprung ins Ungewisse. Machen Sachen, die sie nie gemacht haben. Übernehmen zum ersten Mal Verantwortung. Sind überfordert mit Aufgaben, wachsen über sich heraus.

Witzigerweise fiel mir das auf, als wir Freitagabend nach einem Protest in einer kleinen Bar waren, tanzen. In der Mitte stand eine Pole Dance-Stange. Einige waren schon dran gegangen. Einige standen noch im Kreis drum herum.

Einer sagte: „Ist auch ganz schöner Pressure, da jetzt dran zu gehen, und von allen gejudged zu werden.“

Jemand anderes lachte, sagte: „Diamanten entstehen unter großem Druck.“

Die erste Person machte zwei große Schritte und sprang dann an die Stange, wirbelte herum, alle anderen applaudierten.

"Die Wirklichkeit ist nur ein Teil des Möglichen“, hat Friedrich Dürrenmatt mal gesagt.

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