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Requiem für den Herbst - 07.11.2022

Requiem für den Herbst

Ich frage mich, wann es endlich regnet. Wann es kalt wird und stürmisch. Ich frage mich, wo der Herbst ist, und merke, dass das eigentlich keine Fragen sind, sondern eine Sehnsucht.

Herbst, das ist für mich auch eine Kindheitserinnerung. Gummistiefel und Kastaniensammeln. Bis heute hebe ich sie auf, wenn sie von den Bäumen fallen, trage sie wochenlang in der Tasche als Handschmeichler. Bloß stimmte dieses Jahr das Wetter nicht, als ich sie vor mir liegen sah.

Vergangenes Wochenende war ich mit Freund:innen für ein paar Tage draußen in Brandenburg. Den Samstag haben wir auf einer großen Wiese vorm Haus verbracht. Einige hatten einen Tisch rausgetragen, schnitten das Gemüse fürs Abendessen, jemand las, ich lag mit zwei anderen ins Gespräch vertieft auf einer Decke im Gras. Es war einer der schönsten Tage der letzten Monate, entspannt, ruhig, sonnenbeschienen plätscherte er vor sich hin, und genießen konnte ich ihn nicht.

© RONJA RØVARDOTTER (Öffnet in neuem Fenster)

Irgendwas, ganz tief in mir drin, vielleicht da, wo auch der Hunger und der Durst, die Lust auf Sex wohnen, da sagte mir etwas, das das nicht richtig ist. Vor ein paar Jahren saß ich mit dem Schriftsteller Jonathan Franzen in einem Call, er lebt im verdorrenden Kalifornien, und er sagte: „Ich kann die Trockenheit in meinen Knochen spüren.“ Den Bäumen scheint es ähnlich zu gehen, sie tragen jetzt – Anfang November – junge Triebe, die der Winterfrost töten wird.

Die Vorfreude im Frühling, die Hitze des Sommers, der Herbst als langsames Abschiednehmen von den Farben, der Winter mit seiner Dunkelheit – irgendwie ist das ja auch ein langsam wiegender Takt, in dem man sich bewegen, an dem an sich orientieren kann, wie Kindheit, Jugend, Altern, Sterben. Weil es immer wärmer wird, wird der Sommer immer länger, der Herbst verschwindet, und ich, ich kann die Sonnenstrahlen nicht genießen.

Abends in dem Haus in Brandenburg machten wir uns mit ein paar Freund:innen ein Feuer im Kamin an, lagen davor und sprachen darüber, wie es uns damit, mit der Klimakrise insgesamt geht. Wenig Diskussion, mehr Zuhören.

Es hat gut getan, den Schmerz und die Wut zu teilen. Und als ich am nächsten Morgen rausging, konnte ich das Gelb der Bäume im Licht der frühen Sonnenstrahlen ein bisschen mehr genießen.

Lieber aber wäre es mir, wir würden den Herbst behalten.

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