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Was Drogenpolitik ist und warum ich mich für Reformen engagiere

Am Sonntag war der 420, sozusagen der Weltcannabistag. Meine Rede von der Demo am Brandenburger Tor könnt ihr hier nachhören (YouTube (Öffnet in neuem Fenster)):

https://www.youtube.com/watch?v=PFvKHFj89Tk (Öffnet in neuem Fenster)

Frei sprechen zu können hat für mich eine längere Geschichte… Diese hängt wiederum mit meiner Grundhaltung zu politischen Fragen zusammen.

Damals in der Schulzeit habe ich noch Panik und Angst bekommen, wenn ich vor der Klasse sprechen musste. Die Ursache lag nicht in der Schule, sondern am zu Hause. Umso mehr fand ich es inakzeptabel, dass andere in meinem Alter Rhetorikkurse und Politikseminare besuchten, während ich andere Sorgen hatte und so praktisch meiner Stimme beraubt wurde. Erst als ich auszog, konnte ich anfangen, Fähigkeiten und Vernetzung nachzuholen. Das ist jetzt 15 Jahre her und zeigt, wie lang und unstet dieser Weg sein kann, um den ungleichen Start hinter sich zu lassen. Je nachdem, wie es für einen dann als Erwachsene*r läuft (unter anderem, welche Chancen einem das Umfeld und die Gesellschaft offenhalten oder verschließen), geht es schneller, langsamer oder gar nicht.

Es ist mir wichtig, das mitzuteilen, weil im Allgemeinen wenig gesehen wird, was für einen schweren Unterschied es auf das Leben nimmt, ob man vom Elternhaus (oder anderen Erziehungsberechtigten) unterstützt, sich selbst überlassen oder ganz aktiv geschädigt wird. Über diesen strukturellen Einfluss ist auch deswegen wenig zu hören, weil es nur wenige zu öffentlicher Stimme schaffen.

Es ist ein Teil von Klassismus. Intersektional verwebt mit den anderen Diskriminierungsformen. Ein Klassismus, der sich nicht (nur) über Einkommen, Vermögen oder Berufe der Eltern definieren will, sondern auch nach Netzwerken, gesundheitlicher/emotionaler Unterstützung durch Erwachsene und Weiterem. Es macht einen enormen Unterscheid, ob man beispielsweise bei der Wohnungs- oder Ausbildungssuche unterstützt wird, oder alles allein herausfinden muss. Ob man Verhaltensnormen erklärt bekommt oder mit pychischen, emotionalen und körperlichen Belastungen ins Erwachsenen-Leben starten darf. Oder ob man im Gegenteil am Wochenende erstmal noch zu Hause waschen lassen kann, bekocht und in die Netzwerke der Eltern eingeführt wird. Achtet bei Aufstiegsgeschichten mal darauf: Es wird immer mindestens ein stark unterstützender Elternteil oder ein*e erwachsene*r Mentor*in hervorgehoben. Ein Teil meines Engagements ist auch immer dieser strukturellen Ungleichheit gewidmet. Die ungleichen Chancen auf ein gutes Leben sind ein gesellschaftliches Problem und dürfen nicht als Pech und Glück von Einzelnen verhandelt werden.

Warum Drogenpolitik?

Das Interesse an Drogenpolitik ist für mich aber nicht aus einer negativen Perspektive erwachsen, sondern im Positiven aus der Erkenntnis über die kulturell wertvolle Rolle von aktuell illegalen Drogen, die sie trotz Verbot auf unterschiedliche Weise spielen. Aus Wertschätzung, Faszination und Neugier. Die Drogenprohibition richtet für das menschliche Wohlergehen unermesslichen, vermeidbaren Schaden an. Die Kriminalisierung ist schlichtweg falsch, die inzwischen hinreichend dokumentierten strukturellen Menschenrechtsprobleme der “Drogenbekämpfung” sind inakzeptabel.

Bevor ich mich in den nächsten Briefings der nächsten Legislaturperiode und weiterer (konstruktiver) Medienkritik widme, geht es heute um die Frage:

Was ist Drogenpolitik?

Ein Querschnittsthema aus Innen-, Sozial-, Gesundheits- und Wirtschaftspolitik.

Drogenpolitik bestimmt – als ein Querschnittsthema aus Innen-, Sozial-, Gesundheits- und Wirtschaftspolitik – zu einem wesentlichen Teil, wie wir uns als Gesellschaft definieren, verhalten und verändern. Deshalb müssen wir sie verstehen. Drogenkonsum und Drogenhandel im öffentlichen Raum, Kokainfunde der Polizei, Warnungen vor Schäden, erschreckende Bilder aus den USA, Sorgen um Angehörige und um den Schutz von Kindern und Jugendlichen gehören zum Alltag. Dennoch werden Drogen und Sucht immer noch überwiegend als individuelles Problem wahrgenommen. Prävention und Suchthilfe sollen das Drogenproblem für die "Drogenopfer" lösen und den Konsum verhindern. Eine stärkere Konzentration auf “die Zerschlagung der organisierten Kriminalität” soll die Angebotsseite auflösen. Dass weder das eine noch das andere seit Beginn der ersten Anti-Drogen-Gesetze funktioniert und welche Auswege und Handlungsempfehlungen Expert*innen nicht nur vorschlagen, sondern den Regierungen inzwischen dringend raten, ist viel zu selten Gegenstand öffentlicher Debatten.

Wenn sich stattdessen die Ziele von Drogen- und Suchtpolitik an der Reduzierung von Gewalt und der Verbesserung von Lebensqualität sowie der Gewährung von Gesundheitsrechten und Selbstbestimmung messen, wenn die Handlungsempfehlungen von interdisziplinären Fachgremien und Menschenrechtsexpert*innen mehr Beachtung finden als die Ohnmacht durch Moral und Angst, dann lassen sich Strategien für eine umfassend funktionierende Drogenpolitik ableiten.

Drogenpolitik ist kein banales Randthema.

Drogenpolitik ist kein banales Randthema, sondern eine gesellschaftliche und politische Entscheidung über den Einsatz von Strafverfolgungsbehörden, über den Umgang des Staates mit illegaler Ökonomie und international organisierter Kriminalität und über unseren Umgang mit jenen Menschen, die am untersten Ende der gesellschaftlichen Hierarchie leben, die wir als "Junkies" oder "Zombies" entmenschlichen und über deren Anspruch auf staatliche Unterstützung und Aufenthalt im öffentlichen Raum gestritten wird.

Illegale Drogen werden trotz Verbot genommen.

Es geht aber nicht nur darum, die Schäden und negativen Folgen einer verfehlten Drogenpolitik zu reduzieren. Die Realität anzuerkennen bedeutet auch, zu verstehen, was Drogen eigentlich sind und warum sie trotz aller Verbote, Risiken und Schäden in allen Gesellschaften der Welt eine kontinuierliche Rolle spielen. Unter dem Begriff "Drogen" wird eine Vielzahl psychoaktiver Substanzen mit zum Teil sehr unterschiedlichen Wirkungsweisen zusammengefasst. Was sie verbindet, ist die rechtliche Kategorie der Illegalität und Strafbarkeit und die damit einhergehende weitreichende gesellschaftliche Ächtung, das heißt Stigmatisierung von Menschen, die sich nicht an die Verbote halten. Das heutige deutsche Betäubungsmittelrecht wurde 1971/72 eingeführt. Nicht aus einer gesundheitspolitischen Erwägung heraus, die bis auch heute nie rückwirkend begründet werden konnte, sondern im Rahmen einer internationalen und historischen Entwicklung, in der psychoaktive Substanzen, die von Minderheiten, rassifizierten und armen Bevölkerungsgruppen konsumiert wurden und für die es andernfalls keine Begründung gab und gibt, sie polizeilicher Verfolgung auszusetzen, per Gesetz der Justiz unterworfen wurden.

Es braucht eine offenere und informiertere Debatte.

Die Drogengesetze wirken heute wie eine Selbstverständlichkeit, leben aber auch vom Schweigen derer, die außerhalb des konsumierenden Umfelds damit unsichtbar sind. Sichtbar wird der Drogenkonsum erst, wenn er im öffentlichen Raum stattfindet oder von der Polizei oder anderen Autoritäten wie Schuldirektor*innen oder Eltern (die ihre Kinder etwa anzeigen, weil sie sich von der Polizei Hilfe erhoffen) aufgedeckt wird. Oder wenn die Konsumierenden so schwerwiegende Drogenprobleme haben, dass sie nicht mehr umhin können, Hilfe aufzusuchen. Ohne das Verbot, das heißt, wenn es keine Angst vor Sanktionen und Ausgrenzung beispielsweise in der Familie oder durch Schulleiter*innen gäbe, könnten Jugendliche und Erwachsene viel früher und ohne große Scham Hilfe oder Beratung in Anspruch nehmen.

Die Stigmatisierung bremst die überfälligen Reformen.

Die aktuelle Drogenpolitik lebt auch davon, dass die meisten Menschen, die Erfahrungen mit illegalisierten psychoaktiven Substanzen, Kriminalisierung und/oder Stigmatisierung gemacht haben, es vorziehen, nicht darüber zu sprechen, um (weitere) Vorurteile, Ausgrenzung, Entmündigung und möglicherweise lebenslange Strafen zu vermeiden. Für immer mit anderen Augen gesehen zu werden, weil man offen über die Realität des Drogenkonsums mit all seinen Facetten, Höhen und Tiefen und die Folgen des Drogenverbots spricht, will gut überlegt sein.

Ob politische Reformen ohne mehr Mut zu Offenheit realistischerweise erwartbar sind, ist zu bezweifeln. Politik und Medien sollten die Handlungsempfehlungen von Drogenpolitik-Expert*innen zwar ernst nehmen und die tagtäglichen Erfahrungen der Politik-Betroffenen in den Mittelpunkt stellen. Auch sollte die Mehrheit nicht über Reformen entscheiden, sondern die Umsetzung der Grundrechte als Maßstab gelten, selbst wenn sie jenseits Cannabis nur eine relativ kleine gesellschaftliche Gruppe betreffen. Aber es braucht auch ein gewisses Maß an gesamtgesellschaftlichen Willen zu drogenpolitischer Reform. Daran lässt sich arbeiten, aber aktuell reicht er bei weitem nicht aus.

Sichtbarkeit durch Demonstrationen

Demonstrationen wie die am Sonntag am Brandenburger-Tor sind wichtig, um den vorhandenen Willen zu zeigen und klarzustellen, dass ein großes Interesse besteht, die Cannabis-Teil-Legalisierung beizubehalten und weiter auszubauen.

Es hat noch einen Effekt: Wir zeigen international, dass eine andere Drogenpolitik als die repressive denkbar und möglich ist. Eine Touristin sprach mich mit großen Augen auf Englisch darauf an, ob ich ihr erklären könne, was das für eine Veranstaltung sei und war sehr erstaunt, dass das tatsächlich möglich war, so offen und ausgelassen für die Legalität von Cannabis zu demonstrieren. Woher sie kam? Aus Frankreich!

Das Briefing

Dieser Artikel erschien zuerst am Samstag für die zahlenden Mitglieder (Öffnet in neuem Fenster) des Drogenpolitik Briefings, in der Regel erscheint es freitags. Dies hier ist die kostenlose, zeitlich verzögerte Veröffentlichung. Es ist mir wichtig, die Paywall nach ein paar Tagen aufzuheben und ich freue mich über alle Interessierten. Willkommen an die Neuen!

Damit sich das Briefing aber finanziell tragen kann, suche ich weitere Unterstützer*innen. Aktuell hat das Briefing 20 Mitglieder und 61 weitere Leser*innen. Auch mit einer Empfehlung könnt ihr mir helfen! Danke!

Philine Edbauer

Philine Edbauer leitet das bundesweite #MyBrainMyChoice-Netzwerk, das durch Kampagnen und Publikationen die Öffentlichkeit und Politik über drogenpolitische Handlungsoptionen aufklärt. Als Regionalwissenschaftlerin (M.A.) hat sie sich auf die Analyse der globalen Drogenbekämpfung spezialisiert, ist Mitglied des Experten-Netzwerks Schildower Kreis und hat die Bundesregierung zur Cannabisgesetzgebung beraten. Philine Edbauer lebt in Berlin und arbeitet als freie Autorin und Fachreferentin zu den Themen Drogenpolitik, Menschenrechte und Entstigmatisierung.

Kategorie Diskursanalyse

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