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Das Problem mit dem Vergleich der Schäden

Der Vergleich der Drogenschäden durch Prof. David Nutt und das beteiligte Expert*innenteam ist berühmt geworden und wird seit der erstmaligen Veröffentlichung im Jahr 2010 im Fachjournal The Lancet (Öffnet in neuem Fenster) immer wieder herangezogen, um für die Notwendigkeit einer anderen Drogenpolitik zu argumentieren.

(Quelle: LordToran, Schadenspotenzial geläufiger Drogen nach David Nutt, 2010 (Öffnet in neuem Fenster))

So nützlich diese Veranschaulichung auch ist, um die Vorstellungen der nicht illegal konsumierenden Mehrheit mit Realität zu unterfüttern, bringt der Vergleich von Schäden aber auch ein paar Fallstricke.

Bei der Jung&Naiv-Debatte (die erste Debatte des Abends ist gestern erschienen, unsere folgt in den kommenden Tagen) haben wir unsererseits bspw. wenig über die Verhältnismäßigkeit und potenzielle Schädlichkeit argumentiert, auch wenn die Gegenseite dazu viel Vorlage geliefert hat. Auf die üblichen Ausrufe “Psychosen!!!” und “Das sind Suchtmittel!!!” bin ich nicht eingegangen, vor allem, um die begrenzte Zeit dieser Bühne bestmöglich für andere Aspekte zu nutzen, die in der Reichweite noch weniger stattfinden.

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1. Grund: Die Graphik zeigt nicht die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedinungen, unter denen konsumiert wird. (legal/illegal/medizinische Versorgung/Qualität am illegalen Markt/soziale Akzeptanz und Einbindung bzw. Ausgrenzung etc.)

Ein Beispiel: Heroin steht an zweiter Stelle für Gesamtschädigung. An erster Stelle für Selbstschädigung. Nun betrifft das aber Straßenheroin. Pharmazeutisches Heroin aka Diamorphin ist für die Organe unschädlich. Richtig gespritzt auch für die Venen. Wenn die Dosis auf den Bedarf abgestimmt ist, braucht es keine Hochdosierung. Wie andere Opioide auch ist es ein Schmerzmittel, das Menschen vor schwerem körperlichen und emotionalen Schmerz schützt. Opioide sind für die meisten Menschen unattraktiv und nicht von Nutzen, weil die Wirkung im Alltag stört oder keine Vorteile bringt. Abhängigkeit ist unter anderem deswegen eine Belastung, weil man entweder auf den Schwarzmarkt oder auf Verschreibungen angewiesen ist und sonst schwer erträgliche Entzugserscheinungen erleiden muss. Schädlich sind insbesondere auch die Stigmatisierung, die Ausgrenzung, die polizeiliche Verfolgung, der Kontakt mit der Justiz und die Illegalität des Marktes.

2. Grund: Die Graphik kann zu klassistischen, elendsdiskriminierenden Schlussfolgerungen verleiten.

Diskutiert man über die Frage, wie nach der Beendigung der Prohibion ein verantwortungsvoll legal reguliertes Fachgeschäft aussehen sollte, stellt sich die Frage nach der richtigen Balance zwischen Anpassung an Konsumrealitäten und sinnvollen Hürden. Gesetzlich festgelegte Hürden, die durch die potenziellen Gefahren von psychoaktiven Substanzen gerechtfertigt und die bei einer Packung Reis unnötig sind. Mindestalter, Öffnungszeiten, Internethandel ja/nein, evtl. sowas wie ein “Drogenführerschein”, Verpackungsdesign, Preisvorgaben oder spezielle Steuern etc.

Aus der Graphik kann sich die Schlussfolgerung ergeben, dass Drogen mit größerem Schädigungspotenzial eine höhere Barriere brauchen würden als jene mit einem geringeren Schädigungspotenzial. Alkohol, Heroin und Crack sehr schwer zugänglich machen, Pilze ohne viel Tamtam. Das Problem bei dieser Schlussfolgerung ist, dass zum einen die oben unter Punkt 1 beschriebenen Rahmenbedingungen unbeachtet bleiben und 2. gerade Menschen mit Abhängigkeit von Substanzen mit katastrophaler Straßenqualität einen niedrigschwelligen Zugang zu guter Qualität brauchen. Die Diamorphin-gestützte Behandlung ist in Deutschland Kassenleistung. Dass man in Deutschland aber 5 Jahre Straßenheroin oder -opioide konsumiert haben (und weitere Voraussetzungen erfüllen) muss, um Anspruch auf die Behandlung zu haben, ist ein fahrlässiges gesellschaftliches Spiel mit dem Leben von Menschen in Not. Die steigenden Todeszahlen müssten eigentlich Anlass zum Handeln geben. Es ist kontraintuitiv, aber insbesondere die Gefahren und das reale Leid erfordern die genaue Auseinandersetzung mit den Lebensrealitäten.

Eine zu hohe Hürde kann motivieren, sich weiter mit dem illegalen Angebot zu versorgen, aber genau das soll ja vermieden werden. Das gesundheitspolitisches Ziel wäre ja, dass niemand mehr mehr grausige Schwarzmarkt-Qualität konsumiert.

In der Zukunftsvision eines Fachgeschäfts und einer politisch verantwortungsvollen legalen Regulierung können oder sollten psychoaktive Substanzen unterschiedlich gehandhabt werden, aber diese Graphik reicht für eine sinnvolle Abwägung nicht aus. Unterschiedliche Preispolitiken bspw. für Pulver-Kokain und Crack-Kokain müssten gut durchdacht sein, um die ungleiche Diskriminierung der Konsumierendengruppen nicht schlicht fortzuschreiben.

3. Grund: Potenzielle Schäden sind Durchschnittswerte.

Abgesehen von den unterschiedlichen politischen und sozialen Rahmenbedingungen für Konsumierende — bspw. auch im unterschiedlichen Zugang zu Therapieleistungen, dem Therapieangebot in der Region oder einer ökonomischen Rückendeckung durch Familie in schweren Zeiten — haben psychoaktive Substanzen sehr unterschiedliche Wirkungsweisen auf die unterschiedlichen menschlichen Körper und Hirne. Hinzu kommen die unterschiedlichen Konsummuster, Erfahrungen, Erwartungen und Übung. Die Gesamtschädlichkeit ist entsprechend schwer auf Einzelne umlegbar. Die Graphik hat eine wichtige Aussagekraft zur Verhältnismäßigkeit bei der Wahrnehmung der Schädlichkeit von Drogen. Aber was lässt sich daraus für einen selbst ableiten? Menschen, die illegale Drogenerfahrung haben, tun das vielleicht weniger, aber Menschen ohne Einblick könnten es womöglich so interpretieren.

Denn ein Kern-Problem für die öffentliche und politische Debatte ist, dass die meisten Konsumformen nicht sichtbar sind. Das Bild des Drogengebrauchs ist verzerrt und die Graphik knüpft zwar an dem verzerrten Bild an, aber klärt nicht über die Vielfältigkeit der Wirkungsspektren und die unterschiedlichen Rollen der Substanzen im Leben der Menschen auf. Bspw. Pulver-Kokain-Konsum kann ganz unterschiedlich aussehen. Der arrogante Banker ist ein Klischee, und solche “Kokser” sind auch im Umfeld auffällig, aber Kokain-Gebrauch ist oft auch einfach sozial, gelegentlich, Anlass-bezogen und unauffällig. Also für Unbeteiligte unsichtbar.

Die meisten haben nur die sehr schädlich auffallenden Bilder aus dem Entertainment-Fernsehen und die (extrem verachtungsvollen) “Horrorbilder” aus Presse und Polizei-”Prävention” in den Köpfen. Hinzu kommen 50 Jahre lächerlicher “Aufklärung” in den Schulen und die kollektive Vorstellung vom Leben von Christine F. Dieses schiefe Gedamtbild schadet vor allem jenen Menschen, die dämonisiert werden und zur Angstmache für die Rechtfertigung der Illegalität und der Strafverfolgung herangezogen werden.

4. Grund: Das Gegenargument ist “Alkohol und Tabak bringen uns schon genug Probleme. Warum noch weitere Drogen.”

Das ist eine naheliegende Frage. Wenn man die Chance hat, auf Augenhöhe direkt und mit ausreichend Zeit zu antworten, ist das eine gute Chance, viel Wichtiges zu besprechen. Meistens haben wir diese Möglichkeiten in der öffentlichen und politischen Debatte aber (noch) nicht, an dieser Stelle zur Aufklärung beizutragen und Antworten zu liefern. Das Gegenargument funktioniert einseitig sehr gut, schlichtweg zur Abwehr.

Welche Erfahrungen habt ihr mit dem Vergleich der Schäden gemacht?

David Nutts Vergleich hat dennoch ganz offensichtlich großen Wert, so prominent wie er ist, und und trägt dazu bei, dem Selbstverständnis der Prohibition Brüche zu verleihen. Welche Erfahrungen habt ihr damit in Gesprächen und Diskussionen gemacht?

Wie immer: Ich freue mich über eure Kommentare!

Habt ein schönes Wochenende

Eure Philine

Titelbild: Evie S. (Unsplash)

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